All the Beauty and the Bloodshed [2022]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 30. März 2023
Genre: Dokumentation

Originaltitel: All the Beauty and the Bloodshed
Laufzeit: 122 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Laura Poitras
Musik: Soundwalk Collective
Personen: Nan Goldin, David Velasco, Megan Kapler, Marina Berio, Noemi Bonazzi, Patrick Radden Keefe, Harry Cullen, Robert Suarez, Alexis Pleus, Darryl Pinckney, Annatina Miescher, Mike Quinn


Hintergrund:

Im Alter von 11 Jahren erlebte Nan Goldin den Suizid ihrer älteren Schwester Barbara, der in der Familie als Tabuthema nicht behandelt wurde. Es ist eine Erfahrung, die sie für ihr Leben prägt, selbst wenn sie die Umstände damals noch nicht verstand. Wenig später bei Pflegefamilien untergebracht, entdeckte Goldin die Fotografie für sich und begleitete als Künstlerin die LGBT-Gemeinschaften in den 1970er- und 80er-Jahren. So erlebte sie hautnah und an ihren Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern die AIDS-Krise mit, ebenso die Stigmatisierung der Opfer. In der Kunstszene hoch angesehen, gründete Goldin im Jahr 2017 nach einer eigenen Abhängigkeit des süchtig machenden Schmerzmittels Oxycodon der Firma Purdue Pharma und einer beinahe tödlichen Überdosis der Droge Fentanyl die Interessengruppe P.A.I.N., deren Ziel es nicht nur ist, die Opfer zu entstigmatisieren, sondern die Verantwortlichen der Opioid-Krise in den USA zur Rechenschaft zu ziehen. Dokumentarfilmerin Laura Poitras begleitet sie dabei und zeichnet gleichzeitig ein Porträt dieser Künstlerin.


Kritik:
Laura Poitras’ geradezu furchtlos direkter Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed porträtiert das Leben der Fotografin Nan Goldin, die in Folge ihrer eigenen Abhängigkeit des Opioids Oxycodon die Interessengruppe P.A.I.N. gründete. Damit setzt sie sich nicht nur für eine Entstigmatisierung von Süchtigen ein, sondern mit öffentlichen Protestaktionen gegen eine einflussreiche Familie zur Wehr, deren Produkt die verheerende Opioidkrise nicht nur in den Vereinigten Staaten mitverursacht hat. Sowohl dieser Aspekt wie auch das Leben der Künstlerin sind hier miteinander verbunden und spiegeln so ihr Gesamtwerk vermutlich treffender wider, als man beim ersten Hinsehen vermuten mag.

Aufgeteilt in sieben Kapitel, wird jedes mit einer Auswahl von Goldins Fotografien begonnen, in denen sie neben ihrer künstlerischen Karriere auch ihre eigene Lebensgeschichte erzählt. Sie beginnt mit einem Ereignis, das sie für ihr Leben prägen sollte – dem Selbstmord ihrer Schwester. Ungeschönt und mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit schildert All the Beauty and the Bloodshed, wie Goldin in einem abweisenden Elternhaus aufwuchs, wie sie die Fotografie für sich entdeckte und gleichgesinnte Freundschaften fand. Dabei wechselt die Erzählung regelmäßig zu Goldins Engagement, die Verantwortlichen für die um sich greifende Opioidkrise, die allein in den USA zwischenzeitlich mehr als eine halbe Million Todesfälle gefordert hat, zur Rechenschaft zu ziehen. Mitursächlich hierfür ist ein Medikament, über dessen immens süchtig machende Wirkung der Pharmakonzern Purdue und die Familie Sackler, der er gehört, von Beginn an Bescheid wussten. Dass die Sacklers als Kunstsammler und Philanthropen auftraten, ihre Spenden ganze Sammlungen und Museen finanzierten, lässt erahnen, wie mächtig die Gegner sind, mit denen sich P.A.I.N. einließ.

Gleichermaßen ist es der Ankerpunkt, mit dem Nan Goldin überhaupt eine Möglichkeit hatte, Druck auf einen so übermächtigen Konzern auszuüben. Öffentlichkeitswirksam führte P.A.I.N. Protestaktionen in Museen und Kunstgalerien durch, in denen Goldin selbst ständig vertreten war. Sie stellte große Häuser wie das Guggenheim Museum vor die Wahl, keine Spenden der Sackler-Familie mehr anzunehmen, oder sie würde ihre Kunst aus dem Museum abziehen. Dass sie sich damit auch selbst ihrer Lebensgrundlage berauben könnte, scheint mutig und ist dem Werdegang Nan Goldins insgesamt geschuldet. Mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die All the Beauty and the Bloodshed vorstellt, nimmt Filmemacherin Laura Poitras scheinbar einen langen Anlauf und ergänzt ihr Werk um Personen, die für sich genommen zwar interessant sind, aber deren Auswirkung auf die eigentliche Erzählung kaum eingeschätzt werden können. Doch gerade dadurch, dass Goldins Aufstieg in der Kunstszene so detailliert geschildert wird, dass sich der Dokumentarfilm die Zeit nimmt, die verheerende AIDS-Epidemie zu beleuchten, die auch in der Kunstszene viele Menschen das Leben kostete, wird deutlich, wie nah der Fotografin die Auswirkungen der grassierenden Opioidkrise gehen.

Sie selbst war süchtig und hatte das Glück, von einer Droge loszukommen, die als Schmerzmittel getarnt über Nacht in die Abhängigkeit führt. Viele der Menschen um sie herum und alle, die bei P.A.I.N. zusammenkommen, haben Menschen verloren und damit einen Teil von sich selbst. Es ist ein Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit begleitet, seitdem Nan Goldin mitansehen musste, wie Menschen um sie herum zerfallen, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Dass Dokumentarfilmerin Poitras Goldin selbst ihre Geschichte erzählen lässt, ist ein Wagnis, das dann scheitern würde, wenn die Künstlerin nicht derart offen ihr Leben und ihre Wegstationen teilen würde. Es sind intime Einblicke in den Bildern und Erzählungen, die manche womöglich vor den Kopf stoßen können. Doch sie machen diese Person nahbar und ihren Kampf umso greifbarer. Dass All the Beauty and the Bloodshed jedoch nicht nachfragt, wie sich die Abhängigkeit von Oxycodon auf Goldin selbst ausgewirkt hat und wie sie davon loskam, ist ein Versäumnis, wenn auch ein kleines.

Wir alle sind letztlich nur die Summe unserer Erlebnisse und Erfahrungen und wie vieles im Leben, führt ihre Erkenntnis auch Nan Goldin letztlich dorthin zurück, wo ihre Reise begann. Mit der notwendigen Distanz kann sie Manches anders einschätzen und verstehen. Es ist eine Objektivität, die ihr trotz der reflektierten Betrachtung durch die Kameralinsen auf ihr eigenes Leben lange verborgen bleibt. Diese Erkenntnisse sind erleuchtend und sieht man ihr Engagement, stimmt es mehr demütig, denn inspirierend. Es macht eine beeindruckende Künstlerin greifbar, blickt hinter die Kamera und verrät so auch, wie viel ihre Bilder über die Fotografin selbst verraten. Gleichermaßen verdeutlicht die Opioid-Epidemie und wie die Gesellschaft die Opfer stigmatisiert, während die Verursacher geschützt werden, viel über die Gemeinschaft selbst. Das mag sich nicht für ein großes Publikum eignen, wie Kunst oftmals nicht. Aber es ist nichtsdestoweniger empfehlenswert.


Fazit:
Weder beim persönlichen und direkten Porträt der bekannten wie einflussreichen Künstlerin Nan Goldin und ihrer Erzählung über ihre Schwester, noch hinsichtlich der Darstellung dessen, was Oxycodon und die Opioid-Krise im Allgemeinen anrichtet, gibt es ein Happy End. Im Gegenteil, lässt Filmemacherin Laura Poitras ihr Publikum an Goldins Erinnerungen und denen ihrer Eltern teilhaben, oder wohnt sie Zeugenaussagen von Betroffenen bei, die der Sackler-Familie berichten, wie sie geliebte Menschen an und durch Oxycodon verloren haben, dann ist das immens bedrückend. Selbst wenn Purdue immerhin politisch verantwortlich gemacht wird, die Sackler-Familie entgeht einer Verurteilung und Strafe. Doch in Bezug auf ihre angebliche Wohltätigkeit, die nach ihnen benannte Flügel in Museen und Kunstgalerien ermöglichte, kann Goldin einen mühsamen Pyrrhussieg erkämpfen. Die Künstlerin und der größer angesiedelte Kampf gegen Purdue und die Sackler-Familie zu vermischen, mag unnötig erscheinen, doch führen Goldins Werdegang, ihre Begegnungen in der Kunstszene und ihre frühen, inneren wie offenen Kämpfe im familiären Umfeld, sie letztlich hierher. Es ist eine Erkenntnis, die ein so starkes wie persönliches Porträt der Fotografin in All the Beauty and the Bloodshed abrundet. Als solches ist der Dokumentarfilm so sehenswert wie kaum ein anderer.