Titane [2021]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 4. September 2021
Genre: Fantasy / Drama / Thriller

Originaltitel: Titane
Laufzeit: 108 min.
Produktionsland: Frankreich / Belgien
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Julia Ducournau
Musik: Séverin Favriau, Jim Williams
Besetzung: Vincent Lindon, Agathe Rousselle, Garance Marillier, Laïs Salameh, Mara Cisse, Marin Judas, Diong-Kéba Tacu, Myriem Akheddiou, Bertrand Bonello, Céline Carrère, Adèle Guigue


Kurzinhalt:

Bei einem Autounfall wird die siebenjährige Alexia am Kopf verletzt, sodass ihr eine Titanplatte eingesetzt wird. Jahrzehnte später verdient die kühl auftretende Alexia (Agathe Rousselle) ihren Lebensunterhalt durch erotische Auftritte bei Autoshows. Doch ist die bei ihren Eltern lebende junge Frau gleichzeitig eine Serienmörderin. Als die Polizei ihr auf die Schliche kommt, flieht Alexia und gibt sich als der vor zehn Jahren verschwundene Adrien aus, über dessen Fall derzeit in den Medien berichtet wird. Hierfür verändert sie ihr Äußeres und weigert sich, zu sprechen. So trifft sie Adriens Vater Vincent (Vincent Lindon), Kommandant einer Feuerwehrwache, die er eisern führt. Vincent nimmt Adrien nicht nur auf, sondern auch als seinen Sohn an, wobei er sich Nachfragen seiner Mannschaft verbittet. In Anbetracht von Vincents Fürsorge fällt es Alexia zunehmend schwer, ihre Distanz zu ihm zu wahren. Noch komplizierter wird dies dadurch, dass sie offenbar schwanger ist …


Kritik:
Wenn Julia Ducournau in ihrer zweiten, bereits bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme prämierten Regiearbeit, nichts Anderes gelingt, dann wenigstens, dass das Publikum sprachlos zurückbleibt. Titane ist ein Film, der im Kern nicht von der Reise der Figuren handelt, falls sie eine solche überhaupt erfahren. Stattdessen geht es um die Transformation, die sie erleben. Einmal eine körperliche, einmal eine emotionale. Dabei spielt die Filmemacherin mit Geschlechterrollen und geht in vielen Situationen über die Schmerzschwelle ihrer Zuschauerschaft hinaus. Das ist sicherlich einzigartig und in vielen Punkten eindrucksvoll, aber nur für ein kleines Publikum geeignet.

Im Zentrum steht Alexia, die als junges Mädchen im kurzen Prolog bei einem Autounfall schwer verletzt wird, so dass ihr eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt werden muss. Aus dem Krankenhaus entlassen, umarmt sie als erstes das Auto ihrer Eltern und küsst es. Jahre später ist die Narbe über ihrem rechten Ohr immer noch ein deutlicher Teil ihrer Erscheinung. Ebenso geblieben ist ihre überdeutliche Affinität für Autos. In einer langen, ununterbrochenen Einstellung stellt Filmemacherin Ducournau ihre Hauptfigur vor, die sich auf einer Automesse – wie zahlreiche andere Damen – an und auf den hochmotorisierten Fahrzeugen räkelt. Wie später ebenfalls, scheinen die Grenzen zwischen Fleisch und Metall hier zu verschwimmen, ganz so wie bei Alexias Implantat. Dass diese Vorstellung der Figur mehr in den Köpfen der meist männlichen Zuschauer existiert, ist unbestritten. Inwieweit die aufreizende, lasziv auftretende Alexia ihre wirkliche Natur widerspiegelt, steht auf einem anderen Blatt. Dies deutet Titane wenig später an, wenn sie von einem überschwänglichen Fan auf den Parkplatz verfolgt wird, und als dieser zudringlich wird, ihn mit einer metallenen Stricknadel, die sie als Haarnadel verwendet, ermordet. Ihre Präzision und ihre Ruhe, deuten an, dass dies nicht ihr erster Mord ist und tatsächlich wird es nicht der letzte sein, den das Publikum zu sehen bekommt.

Die weiteren sind dabei noch brutaler und grafischer umgesetzt. Auf der Flucht vor der Polizei macht sich Alexia einen Aufruf der Medien zunutze, wonach vor 10 Jahren der Junge Adrien verschwand, von dem nach wie vor jede Spur fehlt. So schneidet sie sich die Haare kurz, rasiert die Augenbrauen ab, entstellt – in einem Moment, bei dem ein Großteil des Publikums sicher ebenfalls vor Schmerzen die Luft anhalten wird – ihr eigenes Gesicht und gibt sich fortan als eben jener Junge aus. Wer der Auffassung ist, dass was sich Rosamund Pikes Figur in Gone Girl - Das perfekte Opfer [2014] selbst zufügt, schwer zu ertragen ist, muss sich nicht nur in diesem Moment auf weitaus Schlimmeres einstellen. Adriens Vater ist der Feuerwehrmann Vincent, der die verschwiegene Alexia bei sich aufnimmt. Den anfänglichen Erzählstrang um Alexias verbrecherische Vergangenheit verfolgt Titane von dem Moment an nicht weiter. Stattdessen ist Regisseurin Julia Ducournau eher daran interessiert, welche Beziehung Alexia bzw. Adrien und Vincent zueinander aufbauen. Die wird dadurch komplizierter, dass Alexia offenbar schwanger ist und in einer rasenden Geschwindigkeit etwas in ihr heranwächst. Der Begriff „etwas“ ist hier bewusst gewählt, denn in einer Sequenz, die wie ein Traum anmutet, hatte Alexia in der Nacht nach der Autoshow, nun ja, Sex mit einem Cadillac.

Aber ungeachtet ihres größer werdenden Schwangerschaftsbauches, den sie unter Schmerzen zu verstecken versucht, ihrer eher mäßig erfolgreichen Bemühungen, ihre femininen Gesichtszüge zu verbergen, wird Alexia weder von der Polizei, noch von Vincent oder den übrigen Personen auf seiner Feuerwache, die aus jungen, durchtrainierten Männern besteht, als Frau erkannt. Dies ist (spätestens) der Punkt, an dem Titane mich als Zuschauer in gewisser Weise verloren hat. Man lasse die Themen, die Ducournau hier mehr oder weniger subtil aufgreift, alle außen vor, die Tatsache, wie die Menschen mit Adrien umgehen, wie der muskelbepackte Vincent, der sich jeden Abend eine Spritze injiziert und Medikamente schluckt, seinen verloren geglaubten Sohn aufnimmt, ist angesichts von Alexias Erscheinung und Auftreten nicht nachvollziehbar. Überhaupt sind die Charaktere über das Ende des Films hinaus ein Mysterium. Weshalb Alexia die Wohngemeinschaft am Anfang dezimiert, wird nie klar. Wer sind ihre Opfer, wie wählt sie sie aus und weshalb müssen sie auf so brutale Weise sterben? Dass es ihr Freude bereitet, selbst denen, die ihr wohl gesonnen sind, Schmerzen zu bereiten, ist erkennbar, nur, war sie immer so, oder ist dies ein Ergebnis des Unfalls und des Metallstücks in ihrem Körper, das sich darüber hinaus auszudehnen scheint? Soll es ein Sinnbild für unser aller Verrohung durch eine immer maschinellere und technisiertere Welt sein? Antworten liefert die Filmemacherin auf all dies nicht.

In viele Bilder von Titane kann man Vieles hineininterpretieren. Sei es zu Beginn, wenn die inneren Bauteile eines laufenden Motors in Großaufnahmen gezeigt werden, die allesamt auf Hochglanz poliert sind, ehe in der letzten Einstellung ein ölverschmiertes, fehlplatziert wirkendes Teil zu sehen ist, womöglich stellvertretend für Alexia, zu der anschließend geschnitten wird. Die Verbindung zwischen menschlichem Fleisch, vielen nackten Körpern und Metall sowie Chrom, sind unverkennbar. Je mehr Alexias Schwangerschaft voranschreitet, umso mehr tropft es ölartig aus ihr heraus. Gleichzeitig tauchen kühle, neonfarbene Bilder die Szenerie in geradezu makellose Eindrücke. Die frenetisch und schweißgebadet sich beim Tanzen aneinander reibenden Feuerwehrmänner der Wache entpuppen sich kurz darauf als homophob und der vor Kraft strotzende Vincent als emotionales Wrack, das am Verlust seines Sohnes innerlich zerbrochen ist, sieht nun eine Möglichkeit, seinem Leben einen Sinn zu geben. Selbst, wenn dieser Adrien nicht sein Adrien sein sollte. Im gemeinsamen Tanz der beiden kommen sie sich geradezu unangenehm nahe, bedenkt man, dass sie Vater und Sohn sein sollen. Die Deutungshoheit über viele dieser Eindrücke überlässt Julia Ducournau dem Publikum. Das muss nicht schlecht sein, es birgt aber auch das Potential, dass hier in Momente hineininterpretiert wird, die an sich nur schockieren sollen.


Fazit:
Julia Ducournau schreckt nicht davor zurück, Grenzen auszutesten und mitunter auch zu überschreiten. Nicht zuletzt mit sehr brutalen Einstellungen. Die Frage, die sich aber bereits nach dem ersten Drittel aufdrängt ist, wohin diese Geschichte führen soll. Doch scheint das Skript weniger an einem Ziel für die Figuren interessiert, als an dem zweifellos unvorhersehbaren Weg, den sie gehen. Die körperliche Transformation von Alexia zu Adrien und zu dem, was in ihr heranwächst, steht ebenso im Zentrum wie Vincents Veränderung, der allein von der Hoffnung, seinen Sohn zurück zu bekommen, so sehr mitgenommen wird, dass er bereit ist, alles zu akzeptieren. Das ist durchweg erstklassig gespielt, von Agathe Rousselle wie von Vincent Lindon eine wahre Tour de Force. Dank der kontrastreichen Farbgebung, der Perspektiven und langen Einstellungen, zusammen mit der surrealen Entwicklung der Geschehnisse, mutet Titane an wie ein fiebriger, geradezu grotesker Traum. Insoweit gelingt der Filmemacherin ein Werk, über das es viel zu diskutieren gibt und das einen durchaus auch nach dem Ende beschäftigt. Es ist dabei ratsam, sich von den Eindrücken treiben zu lassen, anstatt nach Sinn oder Unsinn zu fragen. Hierfür gibt es sicher ein Publikum, für eine breite Zuschauerschaft eignet sich das aber nicht.