Verschwiegen [2020]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 28. August 2020
Genre: Drama / Krimi

Originaltitel: Defending Jacob
Laufzeit: 402 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Morten Tyldum
Musik: Atli Örvarsson
Besetzung: Chris Evans, Michelle Dockery, Jaeden Martell, Cherry Jones, Pablo Schreiber, Betty Gabriel, J. K. Simmons, Sakina Jaffrey, Poorna Jagannathan, Daniel Henshall, Ben Taylor, Jordan Alexa Davis, Megan Byrne, Patrick Fischler, William Xifaras


Kurzinhalt:

Als der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Andy Barber (Chris Evans) an einen Tatort gerufen wird, ahnt er noch nicht, dass dieser Fall sein ganzes Leben verändern wird. Ein Teenager wurde ermordet, der dieselbe Schule besucht, wie Andys Sohn Jacob (Jaeden Martell). Erste Recherchen von Polizistin Pam Duffy (Betty Gabriel) lenken die Ermittlungen auf einen in der Nähe lebenden, verurteilten Pädophilen. Noch am ersten Tag bezichtigen Mitschüler im Internet Jacob, er wäre der Täter. Dann wird an der Kleidung des Opfers ein blutiger Fingerabdruck von seinem Sohn gefunden und Andy der Fall entzogen. Schon bald wird Anklage erhoben und das einst gehobene Leben der Familie Barber liegt in Trümmern. Jacobs Mutter Laurie (Michelle Dockery) setzt die soziale Ausgrenzung immer mehr zu, selbst wenn Anwältin Joanna Klein (Cherry Jones) ihnen Hoffnung auf einen Freispruch macht. Je näher der Prozess rückt, umso verzweifelter sucht Andy nach dem wahren Täter. Doch entgegen der Beteuerungen bleiben Zweifel, ob ihr Sohn überhaupt die Wahrheit sagt. An dieser Ungewissheit droht nicht nur die Familie zu zerbrechen …


Kritik:
Mit Verschwiegen adaptiert der Streamingservice Apple TV+ den gleichnamigen Roman von William Landay aus dem Jahr 2012. Die achtteilige Miniserie handelt von der respektierten Familie Barber, deren Leben auf den Kopf gestellt wird, als ihr Sohn Jacob verdächtigt wird, einen Mitschüler getötet zu haben. Namhaft besetzt und zurückhaltend inszeniert von dem norwegischen Filmemacher Morten Tyldum (The Imitation Game - Ein streng geheimes Leben [2014]), ist dies keine angenehme Unterhaltung, aber als Drama nichtsdestoweniger sehenswert.

Dabei könnte es Familie Barber zu Beginn kaum besser gehen: Andy ist als stellvertretender Bezirksstaatsanwalt in der Stadt Newton, Massachusetts, angesehen und bekannt, seine Frau Laurie arbeitet im sozialen Bereich für eine Einrichtung, die benachteiligte Kinder unterstützt. Selbst zu ihrem Teenager-Sohn Jacob haben sie einen guten Kontakt. Doch dann wird Andy an den Tatort eines Mordes gerufen, nicht weit entfernt in einem Park. Ein Mitschüler Jacobs wurde mit drei Stichen getötet. Nachdem der Verdacht eingangs auf den polizeibekannten Pädophilen Leonard Patz fällt, steht unversehens Andys Sohn Jacob selbst im Fokus der Ermittlungen, nachdem Mitschüler ihn beschuldigen und behaupten, er besäße ein Messer, das die Tatwaffe sein könnte. Nachdem sich die Nachricht im Internet wie ein Lauffeuer verbreitet und die leitende Bezirksstaatsanwältin politische Ambitionen hegt, beginnt für die Familie Barber ein geradezu surrealer Alptraum.

Genau diesen fängt Tyldum mit seiner ausgewaschenen Farbpalette, die stellenweise beinahe erscheint, als würde man – wie die verschiedenen Menschen von außen, die Jacob verurteilen, ehe er überhaupt vor Gericht steht – das Geschehen in schwarz und weiß sehen. Trotz der Laufzeit von beinahe sieben Stunden, konzentriert sich Verschwiegen auf weniger als ein Dutzend Figuren. Erzählt wird die Geschichte hauptsächlich aus Sicht von Jacobs Eltern Laurie und Andy, von denen Andy, selbst wenn er als ermittelnder Staatsanwalt verständlicherweise vom Fall abgezogen wurde, eingangs nicht sicher scheint, ob er seinem Sohn glauben soll, der sagt, er sei es nicht gewesen. Laurie hingegen ist von Beginn an überzeugt, doch werden sich diese Positionen im Laufe der Erzählung noch mehrmals verschieben. Ebenso wie diejenigen des Publikums.
Dabei rahmt Drehbuchautor Mark Bomback (Planet der Affen: Survival [2017]) die eigentliche Handlung durch Szenen ein, in denen Andy Barber nach den Ereignissen bei einer Anhörung vor Gericht befragt wird. Sie dient dazu zu klären, ob Anklage erhoben werden soll, und sieht man, zu welchen Mitteln Andy greift, um seine Familie zu beschützen, als er das Messer seines Sohnes findet, ahnt man auch, warum.

Diese Erwartungen des Publikums macht sich Verschwiegen eindrucksvoll zunutze, umso mehr dadurch, dass Jacob nicht in dem Maße beleuchtet wird. Die Frage, ob er es tatsächlich gewesen ist, beschäftigt seine restliche Familie zusehends und für jede seiner Beteuerungen, er war es nicht, kommen neue Hinweise und Belege ans Licht, wie sehr er unter den Hänseleien des Ermordeten gelitten hat. Dass Jacob außerdem sozial nur schwer Kontakt findet, macht ihn nur noch mehr verdächtig. Zu beobachten, was diese Unsicherheit zusammen mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die die Familie erfährt, mit den Figuren anrichtet, ist ebenso erschreckend wie erschütternd. Alleinig auf Indizien beruhend, wird ein Prozess vorbereitet, und doch müssen Laurie und Andy in gewissem Umfang am „normalen“ Leben teilzuhaben versuchen. Dabei werden die Anfeindungen immer offener und unmittelbarer, so dass sich Laurie nur bei Ladenöffnung zum Einkaufen wagt – um dort derjenigen Person zu begegnen, deren Leben durch einen unvorstellbaren Verlust gleichermaßen in Scherben liegt. Selbst wenn im Prozess alles gut für die Familie ausgehen würde, der gesellschaftliche Bruch wird sich nicht ungeschehen machen lassen.

Dass am Ende nur wenige Figuren beleuchtet werden, versetzt die Macher in die Lage, diese dem Publikum auf ungekannte Art und Weise nahezubringen. Anstatt was in ihnen vorgeht, auszusprechen, werden lediglich ihre Reaktionen gezeigt. Die Zurückhaltung, die Chris Evans hier darstellt, wird umso eindrucksvoller, wenn er in wenigen Momenten seine Beherrschung verliert. Seine Darbietung ist ebenso sehenswert wie diejenige von Michelle Dockery als Laurie Barber, deren Verzweiflung zunehmend größer wird, bis die Ungewissheit sie regelrecht erdrückt. In der Rolle des unscheinbaren und gleichermaßen verletzten wie unnahbaren Jacob ist Jaeden Martell, bekannt aus Es [2017], toll besetzt. Gleiches gilt für Cherry Jones als dessen Anwältin und J. K. Simmons als Andys Vater.
Sie alle sind mit Bedacht und Zurückhaltung in Szene gesetzt. Anstatt, wie es bei Produktionen für die kleine Leinwand oftmals der Fall ist, zu dicht an den Figuren zu verweilen, gibt Morten Tyldum den Personen hier Raum, baut bewusst Distanzen zwischen ihnen auf, um zu zeigen, wie weit Andy und Laurie hinsichtlich ihrer Positionen entfernt sind. Gerade auf Grund der ruhigen Umsetzung entwickelt das Drama für die Charaktere eine merkliche Zugkraft, die auch durch die unaufdringliche Musik von Atli Örvarsson, getragen von einem für Gänsehaut sorgenden Thema von Ólafur Arnalds, verstärkt wird.

Doch so gelungen diese Aspekte alle sind, es bleibt der Eindruck, dass sich die Macher in mancherlei Hinsicht ihrer Sache zu sicher sind. So wird bereits in der vorletzten Episode eine scheinbar überraschende Wendung vorbereitet, deren Hintergründe Krimi-Fans lange werden kommen sehen. Dass Figuren wie Jacobs Mitschüler Derek oder Sarah, zu der er Kontakt findet, zeitweise vorgestellt werden, ohne dass sie aber wirklich etwas zu tun bekommen, lässt Potential ungenutzt. Sich außerdem kaum auf die Familie des Opfers zu konzentrieren, mag eine bewusste Entscheidung sein, sie ist aber nicht in jedem Fall nachvollziehbar, zumal der Ermordete wiederholt als Bully dargestellt wird, als würde dies die Schwere des Verbrechens schmälern. Auf diese Punkte legt Verschwiegen zu wenig Wert, wohingegen einige Überraschungen mehr als gelungen sind. Am Ende ist es aber die emotionale Verbindung mit den Charakteren, die diese acht Episoden trotz der ruhigen Erzählweise wie im Flug vorbeigehen lassen.


Fazit:
Auch wenn Morten Tyldum Andy Barbers Bemühungen in den Fokus rückt, die Unschuld seines Sohnes zu beweisen, indem er selbst nach möglichen Tätern sucht, der Krimi-Aspekt nimmt bei Verschwiegen nur eine untergeordnete Rolle ein. Die lange Zeit bis zum Prozessbeginn zu sehen, während der der Familie kein normales Leben möglich ist, sie aber auch nicht einfach aufhören können, so etwas wie einen Alltag zu beschreiten, führt ebenso eindringlich wie anschaulich vor Augen, wie es Betroffenen ergehen muss. Für eine Vorverurteilung braucht es in Zeiten von Social Media nicht einmal handfeste Beweise und sie endet auch nicht mit Abschluss des Prozesses. Selbst wenn die Indizien deutlich auf Jacob zeigen, was ihm gleichermaßen zum Verhängnis wird ist, dass er keinen Beweis erbringen kann, es nicht gewesen zu sein. Darf bei einem solchen Verbrechen der Grundsatz bestehen bleiben, unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist? Sieht man selbst Jacobs Eltern zweifeln und irgendwann verzweifeln, ist das auf eine erschreckende Weise glaubwürdig. Verschwiegen ist ein toll gespieltes, erstklassig inszeniertes Drama um Schuld und Zweifel. Gerade die Umsetzung als Miniserie erlaubt es den Beteiligten, das Publikum stärker an die Figuren zu binden. Die Fragen, die man sich dabei irgendwann selbst stellt, mögen zwar nicht angenehm sein, aber genau das zeichnet die nachdenklich stimmende Story am Ende aus.
Klasse!