The Sixth Sense - Nicht jede Gabe ist ein Segen [1999]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. Oktober 2022
Genre: Drama / Fantasy

Originaltitel: The Sixth Sense
Laufzeit: 104 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1999
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: M. Night Shyamalan
Musik: James Newton Howard
Besetzung: Bruce Willis, Haley Joel Osment, Toni Collette, Olivia Williams, Donnie Wahlberg, Glenn Fitzgerald, Mischa Barton, Trevor Morgan, Bruce Norris, Angelica Page, Greg Wood


Kurzinhalt:

In der Hoffnung, einen schrecklichen Fehler wieder gut machen zu können, durch den ein Patient zu Tode kam, nimmt sich der Kinderpsychologe Malcolm Crowe (Bruce Willis) des Falles des neun Jahre alten Cole Sear (Haley Joel Osment) an. Der Einzelgänger wirkt verängstigt, nicht nur auf dem Weg zur Schule oder dort, sondern sogar zuhause. Einzig, wenn er sich in die Kirche zurückzieht, hat er das Gefühl, sicher zu sein. Seine alleinerziehende Mutter Lynn (Toni Collette) findet keinen Zugang zu ihm und beobachtet in seiner Gegenwart Dinge, die sie sich nicht erklären kann. Auch findet sie Objekte und Schriftstücke in Coles Besitz, die auf etwas Dunkles schließen lassen. Während Cole zu Malcolm langsam Vertrauen aufbaut, ist dieser der Überzeugung, dass er Cole um jeden Preis helfen muss, wenn er mit alledem abschließen können will. Selbst wenn dies bedeutet, dass er sich noch weiter von seiner Frau Anna (Olivia Williams) entfernt …


Kritik:
Mit seinem so ungewöhnlichen wie unvorhersehbaren Genrefilm The Sixth Sense - Nicht jede Gabe ist ein Segen etablierte sich Filmemacher M. Night Shyamalan als namhafte Größe in Hollywood mit einem Faible für ruhige Geschichten, deren überraschendes Ende ein Markenzeichen darstellten. Tatsächlich erzählt er mit seinen zwei Hauptfiguren auch zwei Geschichten, von denen eine in der Filmvorschau aus unerfindlichen Gründen bereits vollständig verraten wird. Nur oberflächlich ein gruseliger Horrorfilm, gewinnt das darin schlummernde, behutsam erzählte Drama beim wiederholten Ansehen nur dazu.

In einer seiner besten Darbietungen verkörpert Bruce Willis den Kinderpsychologen Malcolm Crowe, der zu Beginn mit seiner Frau Anna die Verleihung einer Ehrenwürde durch die Stadt Philadelphia feiert, als ein ehemaliger Patient, der in ihr Haus eingedrungen ist, eine Waffe zieht und auf Malcolm schießt. Im nächsten Herbst wartet Malcolm auf einen möglichen weiteren Patienten, den neunjährigen Cole Sear. Der scheint von Beginn an sehr ängstlich, insbesondere draußen, aber auch in der Schule und zuhause. Er sammelt Heiligenfiguren, die er zum Teil aus der Kirche stiehlt, in die er sich häufig flüchtet. Seine alleinerziehende Mutter Lynn hat es schwer, zu ihm durchzudringen, denn weder vertraut er sein Geheimnis ihr an, noch Malcolm. Dass es ein finsteres ist, steht außer Frage, denn Cole hat oft Wunden am Körper, Kratzspuren und blaue Flecke. Obwohl es den halben Film dauert, ehe das Publikum tatsächlich erfährt, was sein Geheimnis ist, wird dieses in der Vorschau bereits verraten. Daher, und weil eine Dialogzeile des Films zu einer der meistzitierten überhaupt geworden ist, sollten diejenigen, die The Sixth Sense noch nicht kennen, einen großen Bogen um den Trailer machen.

Es soll genügen zu sagen, dass Coles Geheimnis für jeden äußerst beunruhigend wäre, es einem neunjährigen Jungen aufzubürden, erscheint aber eine für ihn kaum erträgliche Belastung. Umso gelungener bringt der junge Haley Joel Osment in seiner vermutlich bekanntesten Filmrolle die tiefe Traurigkeit zur Geltung, die ihn in jedem Moment zu durchströmen scheint. Ungeachtet seines auch durch die Frisur beinahe engelhaften Gesichts, wirkt er vom ersten Moment an, als trage er das Unglück dieser Erde auf seinen Schultern. In seinem Blick ein Wissen und eine Reife wie ein Erwachsener, umgibt seine Figur ein Mysterium, das ein ebenso zentraler Bestandteil der Geschichte ist, wie Malcolms Bemühen, diesem Jungen zu helfen, in der Hoffnung, er könne damit die Fehler wieder gutmachen, die ihm bei dem Patienten unterliefen, der ihn zu Beginn des Films aufgesucht hat. Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen sind kaum von der Hand zu weisen, bis hin zu einer blonden Strähne hinter Coles rechtem Ohr. Insgesamt nehmen sowohl Malcolm als auch Cole in etwa gleich viel Raum ein, selbst wenn sie weniger Zeit miteinander verbringen, als man vermuten würde. Ergänzt werden sie durch Coles Mutter Lynn, die zunehmend daran zu verzweifeln droht, dass sie nicht weiß oder versteht, mit welchen Dämonen ihr Sohn zu kämpfen hat, und Malcolms Frau Anna, mit der er nach den Ereignissen zu Beginn kein Wort mehr wechselt und die ihren eigenen Alltag lebt.

Vieles am Verhalten der Personen scheint beim ersten Ansehen zurückhaltend und unterkühlt. Es braucht ein Verständnis der Geschichte selbst, um zu verstehen, dass dies eben ein Ergebnis dessen ist, in welcher Situation sich die Charaktere wiederfinden. M. Night Shyamalan erzählt nur auf den ersten Blick einen Film mit unheimlichen Szenen und einigen der effektivsten Schreckmomente der Kinogeschichte. Im Kern ist dies ein Drama, dessen Figuren jeweils einen Weg finden, mit ihrer Situation umgehen zu lernen. Sie alle sind verletzt und gezeichnet. Und sie alle haben eine Aufgabe zu erfüllen – welche dies ist, gilt es jedoch erst herauszufinden. Dabei wartet The Sixth Sense sowohl mit Momenten auf, die gruseliger kaum sein könnten, weil sie aus alltäglichen Augenblicken heraus erwachsen, wie wenn Cole Zuhause heimgesucht wird. Aber auch mit fantastischen, unter die Haut gehenden Dialogen, wenn Malcolm glaubt, Coles Situation erraten zu können und so Zugang zu ihm zu finden. Ihr Gespräch im Krankenhaus ist ein ebenso gutes Beispiel, wie das Abendessen von Cole und seiner Mutter oder ihr Moment im Auto kurz vor dem Ende. Nicht nur, dass Shyamalan spürbar viel Überlegung in diese Dialoge legt, auch ihre Umsetzung könnte besser kaum sein. Durch lange Einstellungen lässt er die Situationen sich entfalten, gibt den Darstellern nicht nur Zeit, in den Moment hinein zu wachsen, sondern tatsächlich miteinander zu sprechen. Dass sowohl Willis als auch die stets großartige Toni Collette ihren jungen Ko-Star nicht spürbar führen, sondern ihn das Tempo und die Intensität der Szenen bestimmen lassen, unterstreicht nur umso mehr, weshalb dies einer der besten Filme seines Genres und Osment eine perfekte Wahl für diese Rolle ist.

Nominiert für sechs Oscars, vereint The Sixth Sense so viel Talent vor wie hinter der Kamera, dass es einem beinahe den Atem verschlägt. Auch wenn das Werbematerial zum Film seinerzeit etwas anderes suggerierte, ist dies kein wirklicher Horrorfilm und ebenso wenig ein Thriller im klassischen Sinn. Ruhig und in wohl ausgesuchten Bildern erzählt, ist es ein zurückhaltendes Filmerlebnis, dessen unheimliche Aspekte beim ersten Mal überwiegen. Sieht man sich Malcolms und Coles Reise erneut an, offenbart sich das darunter liegende, berührende Drama mit drei herausragenden Darbietungen im Zentrum. Dieses wiederzuentdecken, lohnt sich heute vielleicht noch mehr als zuvor.


Fazit:
Es ist im Grunde bedauerlich, dass sich Filmemacher M. Night Shyamalan durch seine überraschenden Enden einen Namen gemacht hat, denn seither erwartet das Publikum einen solchen Twist am Schluss seiner Werke – was ihnen damit die Überraschung nimmt. Mit The Sixth Sense - Nicht jede Gabe ist ein Segen begann dies damals und war niemals so effektiv wie hier. Nicht, weil die Wendung so unvorhersehbar ist, im Gegengeil. Sondern weil deren Erwartung beim Publikum auf Grund der unter die Haut gehenden Geschichte vollkommen in den Hintergrund gerät. In ihr werden Bruce Willis und Toni Collette, die beide für sich so zurückhaltend wie einnehmend spielen, beinahe zu Nebenfiguren. Im Zentrum steht Haley Joel Osment, dessen Darbietung auf eine Art und Weise berührt, dass die erduldende Traurigkeit, die er ausstrahlt, eine regelrechte Heimsuchung darstellt. So einfühlsam wie bedrückend gespielt, ist dies ein stellenweise unheimliches, manchmal packendes Drama, über das man vor dem ersten Ansehen möglichst wenig wissen sollte. Kehrt man zu diesem Film zurück, kann man eine neue Erzählebene entdecken, die so viel Feingefühl und erzählerische Finesse offenbart, dass man es kaum glauben mag. Dies ist ein starker, handwerklich eindrucksvoller Film. Einer der besten seines Genres und vermutlich Shyamalans bester.