September 5 - The Day Terror Went Live [2024]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 13. Dezember 2024
Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: September 5
Laufzeit: 91 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Tim Fehlbaum
Musik: Lorenz Dangel
Besetzung: Peter Sarsgaard, John Magaro, Ben Chaplin, Leonie Benesch, Zinedine Soualem, Corey Johnson, Georgina Rich, Benjamin Walker, Rony Herman


Kurzinhalt:

Mehr als die Hälfte der Olympischen Sommerspiele des Jahres 1972 in München sind bereits vergangen, als ABC Sports-Produzent Geoffrey Mason (John Magaro) am 5. September morgens im Studio neben dem Olympischen Dorf eintrifft, in dem die Athletinnen und Athleten untergebracht sind. Die Übertragung des Senders ist die erste eines solchen Großereignisses, die live über Satellit in die ganze Welt ausgestrahlt wird. Doch noch bevor die Sonne aufgegangen ist, hört Übersetzerin Marianne (Leonie Benesch) aus dem Olympischen Dorf Schüsse. Wenig später steht fest, dass Terroristen das israelische Quartier angegriffen und Geiseln genommen haben. Die Situation ist unübersichtlich, doch ABC Sports-Präsident Roone Arledge (Peter Sarsgaard) entscheidet, dass die Crew über die Entwicklung berichten soll, selbst wenn sie keine Nachrichtenredaktion im eigentlichen Sinne ist. Im Laufe des Tages, während zu Beginn die Spiele sogar noch zweiter ausgetragen werden, übertragen sie live die Geschehnisse und müssen sich dabei, wie Produzent Marvin Bader (Ben Chaplin) herausstellt, auch die Frage stellen, was sie bereit sind, zu berichten. Wiegt das Interesse der Öffentlichkeit schwerer als das der Geiseln oder gar von Hinterbliebenen? Und sollten sie überhaupt Aussagen treffen, wenn diese nicht gesichert sind? Noch ehe sie eine Antwort darauf finden, überschlagen sich die Ereignisse …


Kritik:
Das auf dem sogenannten Münchner Olympia-Attentat vom 5. September 1972 basierende Drama September 5 - The Day Terror Went Live beleuchtet weder die politischen Hintergründe der Geiselnahme in München, noch wirft es ein Schlaglicht auf das Versagen der Deutschen Behörden. Vielmehr begleitet Filmemacher Tim Fehlbaum die Ereignisse aus dem Kontrollraum der Crew von ABC Sports, deren Bilder ebenso um die Welt gingen, wie ihre verheerende Aussage am Ende eines unvorstellbar langen Nachrichtentages. Das Geschehen aus dieser Perspektive zu verfolgen, ist so aufschlussreich wie packend – und klingt beinahe wie eine Entschuldigung.

Man mag es sich aus heutiger Sicht kaum vorstellen können, doch die 20. Olympischen Sommerspiele, die seinerzeit in München ausgetragen wurden und mit denen sich Deutschland 27 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als weltoffenes, gastfreundliches Land präsentieren wollte, das den Nationalsozialismus überwunden hatte, waren die ersten Spiele überhaupt, die per Satellit live rund um den Globus mitverfolgt werden konnten. An jenem Dienstagmorgen des 5. September nimmt die Crew von ABC Sports früh ihre Arbeit auf, um später am Tag, wenn ihr ein Zeitfenster beim Satelliten zugeteilt ist, aktuell von den Spielen berichten zu können. Während einer kurzen Pause hört die Übersetzerin Marianne Schüsse, die aus dem unweit des Studios gelegenen Olympische Dorf stammen und kurz darauf erhält Produzent Geoffrey Mason einen Anruf, der dies bestätigt. Obwohl die Informationen nur unvollständig und bruchstückhaft eintreffen, bereitet der ebenfalls vor Ort befindliche Präsident der Crew, Roone Arledge, eine Live-Berichterstattung vor. Zwar ist ABC Sports keine Nachrichtenredaktion, doch versammelt er in Windeseile Journalisten, Techniker und Kameraleute, die die Geschehnisse übertragen, während sich das Drama nur wenige Hundert Meter von ihnen entfernt abspielt.

Über die Geiselnahme, bei der insgesamt elf Geiseln und ein Polizist ums Leben kamen, bevor die Polizei fünf der acht Terroristen erschoss, gibt es zahlreiche Dokumentationen und filmische Aufarbeitungen. Filmemacher Tim Fehlbaum wählt für seinen Film eine ungewohnte Herangehensweise. Er schildert das Geschehen einzig aus Sicht der Sport-Redaktion des amerikanischen Fernsehsenders ABC, die in die Geschichte eingehen sollte. September 5 versetzt das Publikum unmittelbar in ihre beengten Räumlichkeiten, erläutert scheinbar einfache Prozesse, wie beispielsweise Texteinblendungen in Live-Übertragungen damals möglich gemacht wurden oder mit was für einem logistischen Aufwand eine spontane Live-Übertragung nur wenige Meter vom Studio entfernt überhaupt realisiert werden konnte. Schnell wird so deutlich, mit welcher Improvisationskunst die Redaktion zugange war, um eine Berichterstattung zu ermöglichen, wie es sie bis dahin nicht gegeben hat. Informationen treffen spärlich ein und sind noch schwieriger zu verifizieren. Wird das Olympische Dorf abgeriegelt, schmuggelt die Redaktion Filmmaterial hinein und heraus, das erst entwickelt werden muss, bevor es wenig später gesichtet und gesendet werden kann.

In einer Zeit, in der beinahe eine jede und ein jeder eine Kamera und ein Mikrophon in der Hosentasche bei sich trägt, kann man sich dies kaum vorstellen. Umso beeindruckender ist, mit welchem Detailgrad September 5 all dies präsentiert. Nicht nur, dass Archivaufnahmen, unter anderem von Moderator Jim McKay oder dem Geschehen insgesamt, derart nahtlos mit den tatsächlich gedrehten Szenen zusammengefügt werden, wie unsichtbar all dies geschieht, macht einen sprachlos. Ebenso die dargestellte Technik, von den Aufnahmegeräten, der Studio-Ausrüstung oder der Lokalität in München. Tim Fehlbaum gelingt das Kunststück, sein Drama wie einen Thriller zu erzählen, der in jeder Sekunde das Gefühl vermittelt, er wäre zur damaligen Zeit entstanden.

Das ist auch der renommierten und durchweg geforderten Besetzung zu verdanken, bei der Peter Sarsgaard, John Magaro, Ben Chaplin und Leonie Benesch am meisten hervorstehen. Ihre Figuren versuchen nicht nur, der Situation gerecht zu werden, sondern müssen sich gleichzeitig überlegen, wie sie damit umgehen sollen. Hierfür gibt es keine Blaupause und kein Muster. Während sie der Münchner Polizei vorwerfen, dass sie nicht wüsste, was sie tut und heillos überfordert sei (was durchaus zutrifft), erkennen sie doch nicht, dass es ihnen selbst nicht anders ergeht, in einer Situation, die viel größer ist, und für die sie als Journalisten keinerlei Erfahrung mitbringen. Sie müssen sich fragen – und streiten darüber –, wie weit sie gehen wollen, wenn es um die Darstellung eines Terrorakts und möglicher Gewalt geht, die sich live vor ihren Augen abspielt und die sie beinahe einer Milliarde Menschen zugänglich machen. All dies vor dem Hintergrund, dass sie keine Nachrichtenredaktion sind und Arledge die Story auch nicht an die hauseigene Redaktion abgeben will. Nur, weil sie es live übertragen können, sollten sie es tun? Steht die Pflicht des Journalismus, den Menschen Zugang zu Informationen zu gewähren, über dem Recht der Familien der Geiseln, diese nicht vor einem Millionenpublikum misshandelt zu sehen, oder gar schlimmeres? Es sind Fragen, die man sich heute ebenso sehr, wenn nicht gar noch mehr stellen kann und muss. Gleichzeitig schneidet September 5 Themen wie Fremdenhass, Geschlechterklischees und alteingesessene Ressentiments an. Es wundert in Anbetracht der vielen verschiedenen Aspekte nicht, dass sich Fehlbaums Erzählung so dicht komprimiert anfühlt, dass die eineinhalb Stunden wie im Flug vergehen.

Dies führt schließlich zu einem Moment am Ende von McKays insgesamt 14stündiger Moderation ohne Unterbrechungen, die ebenfalls in die Geschichtsbücher eingehen sollte. September 5 beschreibt ihn als das Ergebnis einer Berichterstattung, bei der alle Beteiligten ihr Bestes versuchten und am Ende an einer Fehleinschätzung scheiterten. Dies ist nicht als Verurteilung zu verstehen, sondern lediglich als Erklärung. Und als Plädoyer, dass die Grundprinzipien des Journalismus über allen anderen Bestrebungen in der Berichterstattung stehen sollten. Ganz egal, wie sehr man sich auch manch ein Ergebnis wünscht.


Fazit:
900 Millionen Menschen verfolgten die Berichterstattung von ABC Sports, bei der die Redaktion in einer unübersichtlichen, bis dahin nie dagewesenen Situation eines live übertragenen Akts von Terrorismus über sich hinausgewachsen ist. Dabei wurden Fehler gemacht, deren Auswirkungen die Beteiligten selbst kaum abschätzen konnten. Regisseur Tim Fehlbaum nähert sich dem aus einer ungewohnten und beinahe klaustrophobischen Perspektive jenes Kontrollraums und verharrt in dem Blickwinkel der Redaktion. So stellt man sich selbst die Frage, was man an ihrer Stelle getan und wie man sich entschieden hätte. Das ist bereits auf Grund der Herangehensweise interessant, aber aus ihrer Warte die Entwicklungen jenes Tages zu beobachten, ist ungemein fesselnd. Und das nicht erst dann, wenn sie sich die Frage stellen, ob die Terroristen ihre Live-Sendungen womöglich ebenfalls verfolgen. September 5 - The Day Terror Went Live ist eine packende Rekonstruktion einer der wegweisendsten Berichterstattungen in der Geschichte des Live-Fernsehens. Das stimmt mit den aufgeworfenen Dilemmas und Fragestellungen, die heute genauso aktuell sind, nachdenklich und besticht durch eine mit Händen zu greifende Authentizität. Großartig und erschreckend!