Run [2020]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 7. März 2021
Genre: Thriller / Horror

Originaltitel: Run
Laufzeit: 90 min.
Produktionsland: USA / Kanada
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Aneesh Chaganty
Musik: Torin Borrowdale
Besetzung: Sarah Paulson, Kiera Allen, Pat Healy, Sara Sohn, Erik Athavale, BJ Harrison, Sharon Bajer, Onalee Ames


Kurzinhalt:

Seit sie sich erinnern kann, ist Chloe (Kiera Allen) auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch ihre übrigen Erkrankungen, darunter ein schweres Asthma, prägen ihren Alltag. Die 17jährige wird von ihrer alleinerziehenden Mutter Diane (Sarah Paulson) zuhause unterrichtet. Bald soll sie aufs College gehen, doch eine Rückmeldung auf ihre Bewerbung steht aus. Jeden Tag hofft Chloe daher darauf, dass Postbote Tom (Pat Healy) ihr einen Brief mitbringt, aber ihre Mutter ist immer vor ihr am Briefkasten und die gute Nachricht kommt einfach nicht. Als Chloe in der Einkaufstasche ein neues Medikament entdeckt, das ihrer Mutter verschrieben wurde, denkt sie sich nichts dabei. Bis diese ihr die Tabletten am Abend geben will. Wenig später fällt das Internet aus und Chloe wird noch mehr als ohnehin bereits in dem abgeschieden gelegenen Haus isoliert. Es beschleicht die Teenagerin das Gefühl, dass ihre Mutter ein dunkles Geheimnis hat …


Kritik:
Aneesh Chagantys Run ist ein Thriller, dem es dank seiner starken, geforderten Besetzung und kluger Einfälle gelingt, die vertraut klingende Geschichte um neue Aspekte zu bereichern. Die Authentizität der Figuren trägt ungemein dazu bei, dass die kurze Laufzeit von nur eineinhalb Stunden für das Publikum wie im Flug vergeht. Auch wenn einige Fragen hier unbeantwortet bleiben, nicht zuletzt eine mutige Entscheidung am Ende etabliert den Thriller als einen der sehenswertesten der vergangenen Jahre.

Nach einem kurzen Prolog, der für Genrefans an sich bereits zu viel verrät und im Laufe der Geschichte vermutlich besser aufgehoben wäre – zumal ein weiterer Rückblick den Beginn ohnehin erweitert – stellt Regisseur Chaganty, der auch an der Drehbuchvorlage mitschrieb, seine beiden Hauptcharaktere vor: Diane Sherman und ihre teils schwerkranke, siebzehnjährige Tochter Chloe, die auf Grund einer Lähmung nicht laufen kann und auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Durch ihre weiteren Erkrankungen benötigt sie viele Medikamente und einen Asthma-Inhalator. Ihre Mutter unterrichtet sie zu Hause, Kontakt zu anderen Menschen hat Chloe kaum. Umso mehr fiebert sie Antworten auf ihre Collegebewerbungen entgegen, die jedoch bislang ausgeblieben sind. Eher zufällig findet Chloe in einer Einkaufstasche erneut ein neues Medikament, das jedoch auf ihre Mutter ausgeschrieben ist. Als sie ihrer Tochter diese Tabletten wenig später verabreicht, wird Chloe misstrauisch und vermutet, dass ihre eigene Mutter ein dunkles Geheimnis hat.

Mehr sollte man zu Run an sich nicht verraten, obwohl selbst diese Beschreibung schon ausreichen dürfte, dass Genrekenner viele Eckpunkte der Geschichte absehen können. Dies ist auch der einzige Schwachpunkt des Thrillers derselben Verantwortlichen, die vor wenigen Jahren einen der besten Filme des damaligen Kinojahres präsentierten: Den innovativen Thriller Searching [2018], der einzig aus der „Sicht“ verschiedener Bildschirminhalte erzählt war. So unvorhersehbar jene Geschichte, so vertraut klingt die Ausgangslage von Run. Diesen Umstand macht die Produktion hauptsächlich und mühelos durch ihre Besetzung wieder wett. Im Zentrum steht das Spielfilmdebüt der erst 22jährigen Kiera Allen, auf deren Schultern ein Großteil der kammerspielartigen Szenen ruht. Umso beeindruckender ist, was die junge Darstellerin hier zeigt. Von der Ausgangslage zu Beginn einer unbeschwerten, hoffnungsvollen Teenagerin, die hofft, auf dem College in eine neue Welt eintauchen zu können, über die schleichende Befürchtung und einer ausgewachsenen Panik, bis schließlich zu einer vollkommenen Resignation, könnte die Wandlung kaum größer sein. Dass sie selbst auf Grund ihrer körperlichen Einschränkung auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wäre dann keine Erwähnung wert, wenn es in Hollywoodfilmen üblich wäre, dass auch behinderte Schauspielerinnen und Schauspieler für solche Rollen besetzt werden. Tatsächlich ist weit mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, seit die Hauptrolle in einem Film mit einer gehbehinderten Person von jemandem verkörpert wurde, die bzw. der tatsächlich von dieser Einschränkung betroffen war.

Lässt man die Tatsache, dass Allen der Rolle dadurch eine nicht zu leugnende Authentizität verleiht, außer Acht, gilt dennoch festzuhalten, dass sie schlicht preisverdächtig spielt. Das unumwundene Highlight ist dabei eine Sequenz, die von ihrer Herausforderung her bereits kaum zu überbieten ist, bei der man sich jedoch selbst dabei ertappt, wie einem gefühlt eine Ewigkeit buchstäblich der Atem geraubt wird und man erst dann wieder Luft holt, wenn sie es auch tut. Gleichermaßen getragen wird Run von Sarah Paulson, der es gelingt, trotz ihrer Entscheidungen ihrer Figur eine gewisse Tragik zu verleihen. Zu sehen, wie sich beide Darstellerinnen ergänzen, ist fesselnd und teilweise aufwühlend zugleich.
Auf ähnliche Weise nutzt Aneesh Chaganty die Stimmung seines Thrillers, die anfangs eher unheimlich anstatt bedrohlich ist. Zu sehen, wie Chloe in einer Apotheke ihre Einschränkungen nutzt, um schneller zur Apothekerin an der Kasse zu gelangen, ist beinahe amüsant und spielt gekonnt mit den Herausforderungen, der sich die Gelähmte gegenübersieht. Nur eine Minute später wandelt sich diese Atmosphäre mit einer Enthüllung, die nicht nur Chloe, sondern auch das Publikum regelrecht schockiert. Dieser Zustand hält bis unmittelbar zum Schluss des Films, bei dem das Drehbuch ebenso viel Mut wie Biss beweist. Dies mag für kontroverse Diskussionen sorgen, hebt den Thriller aber spürbar von ähnlichen Vertretern des Genres ab.


Fazit:
In gewisser Weise ist Filmemacher Aneesh Chaganty selbst dafür verantwortlich, dass die zwei großen Überraschungen seiner Geschichte zumindest für Fans des Genres nicht unerwartet kommen. Die erste kündigt er bereits früh selbst an und hätte er dort die letzte Dialogzeile gestrichen, wäre ihm der Twist vermutlich besser gelungen. Doch diesen Umstand verzeiht man gern, sieht man diese zwei talentierten und völlig gegensätzlich agierenden Darstellerinnen gemeinsam spielen. Sarah Paulson ist fantastisch und Kiera Allen eine wahre Entdeckung, der die verschiedenen Extreme ihre Figur ebenso gut gelingen wie das Wechselbad der Gefühle, in dem sie sich befindet. In toll aufgebauten, hervorragend gefilmten Szenen baut der Thriller das Szenario einer geradezu erschreckenden Hilflosigkeit auf und versieht dies mit einem Horror, der bis zum Ende packt. Der Schluss mag für Diskussionen sorgen, doch ist gerade er es, der den Film letztlich von verwandten Genrevertretern abhebt. Im direkten Vergleich ist Run zwar nicht so innovativ wie der vorangegangene Searching, doch es ist einer der mitreißendsten, ein stellenweise buchstäblich Atem raubender Thriller der vergangenen Jahre, brillant gespielt und hervorragend sehenswert umgesetzt. Klasse!