Rheingold [2022]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 4. Oktober 2022
Genre: Biografie / Krimi

Laufzeit: 140 min.
Produktionsland: Deutschland / Italien / Niederlande
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Fatih Akin
Musik: Ralf Kemper
Besetzung: Emilio Sakraya, Mona Pirzad, Kardo Razzazi, Ilyes Raoul, Sogol Faghani, Minú Köchermann, Hüseyin Top, Arman Kashani, Ensar „Eno“ Albayrak, Denis Moschitto, Uğur Yücel


Kurzinhalt:

Im Jahr 1981 wird Giwar Hajabi (Emilio Sakraya) in der iranischen Provinz Kurdistan geboren. Seine Eltern waren einst erfolgreiche und angesehene Musiker, sein Vater Eghbal (Kardo Razzazi) ein Komponist, der insbesondere unter der kurdischen Bevölkerung im Land einen ausgezeichneten Ruf genoss. Bis das Regime die Minderheit im Land gewaltsam unterdrückte. Nach der Flucht wächst Giwar mit seiner Mutter Rasal (Mona Pirzad) und seiner Schwester Zanina (Minú Köchermann) in Bonn auf. Um schnell zu Geld zu kommen, beginnt er, Drogen zu verkaufen und erarbeitet sich einen Ruf auf der Straße, der ihm den Namen „Xatar“ einbringt. Als die Ermittlungsbehörden auf ihn aufmerksam werden, flieht er nach Holland und beginnt ein Studium, das er ebenfalls mit zweifelhaften Einkünften finanziert. Doch als sich Giwar viel Geld bei einem sehr einflussreichen Landsmann leiht und verliert, kommt er auf die aberwitzige Idee, seine Schulden mit einem Goldraub zu bezahlen. Eine weitere Wegstation seines bewegten Lebens …


Kritik:
Frei basierend auf dessen 2015 erschienener Autobiografie, erzählt Filmemacher Fatih Akin in Rheingold die Geschichte des Unternehmers Giwar Hajabi, auch bekannt als Xatar. Der erlangte nicht zuletzt durch einen Überfall auf einen Goldtransporter 2009 Bekanntheit. Dabei spielt der Titel nicht ausschließlich auf diesen Raub an, sondern auf den mystischen Nibelungenschatz, der ebenso unerreichbar ist wie für Giwar das Leben, das er sich wünscht. Vermutlich auf Grund der umfangreichen Beteiligung des wirklichen Hajabi lebt die Biografie von einer greifbaren Authentizität. Allerdings setzt sie sich wenig mit der Hauptfigur und der Auswirkungen seiner Taten auseinander.

Die Erzählung, die von Giwar aus dem Off begleitet wird, beginnt im Jahr 2010, als er zusammen mit zwei weiteren Männern in ein syrisches Gefängnis gebracht wird. Dabei ist ein Gefängnis die erste Erinnerung, die er besitzt. Doch Rheingold geht noch weiter zurück und beginnt bei Giwars Eltern, die als Teil einer kurdischen Gemeinschaft im Iran lebten. Sein Vater ein angesehener Komponist, seine Mutter aus wohlhabendem Hause und ebenfalls Musikerin. Der Erste Golfkrieg und die Verfolgung der Kurden haben sie zu Freiheitskämpfern werden lassen, noch bevor Giwar geboren wurde. Nach Folter und Misshandlung kommt die Familie schließlich über Frankreich nach Bonn, wo Giwars Vater Eghbal endlich wieder als Komponist tätig sein kann. Als er die Familie verlässt, bleibt Giwar mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester zurück und verdient sich anfangs mit Gaunereien wie dem Vertrieb von kopierten Sex-Filmen Geld hinzu. Doch sorgt dies auch dafür, dass er – trotz guter Leistungen – der Schule verwiesen wird. Um zu Geld zu kommen, beginnt er, mit Drogen zu handeln und erarbeitet sich, nachdem er angegriffen wurde und fortan trainiert, einen Ruf auf der Straße. Wie es allerdings dazu kommt, dass sich der Drogen dealende Giwar in Amsterdam mit mafiösen Familien anlegt und trotz seines Faibles für Musik ein Golddieb wird, gestaltet sich so unwahrscheinlich wie amüsant.

Es ist diese zweite Filmhälfte, die leichter erscheint, in der die überlebensgroße „Karriere“ des kriminellen Musikers mit seinen großen Ambitionen weniger wie eine Milieustudie erscheint, als wie eine Nacherzählung, deren Schilderungen in den damaligen Tageszeitungen bereits klangen, als stammten sie aus einem Unterhaltungsfilm. Aber so nahbar und einnehmend Xatar von Emilio Sakraya verkörpert wird und so rundum stimmig die Besetzung insgesamt ist, von der Mona Pirzad und Kardo Razzazi besonders hervorstehen, was Rheingold fehlt, ist ein kritischer Blick auf seine zentrale Figur. Dies soll nicht die traumatisierende Kindheit oder die Traumata bagatellisieren, die Giwars Eltern in einem von Gewalt geprägten System erlitten haben. Akin verwendet durchaus Zeit darauf herauszustellen, was ihnen angetan wurde. Doch fehlt eine greifbare Verbindung, wie Giwar auf Grund seiner Erlebnisse zu der Person wurde, die er ist.

So stellt die Erzählung zwar heraus, dass Giwar unter anderem kriminell wurde, damit seine Mutter die Familie nicht mehr mit niederen Tätigkeiten über Wasser halten musste. Wie er jedoch damit umgeht, dass seine Mutter die mit Verbrechen gemachte Unterstützung gar nicht haben möchte, thematisiert das Drehbuch nicht. Ebenso wenig, ob sich Giwar jemals vor Augen führt, was seine Drogen bei den Menschen anrichten, die sie konsumieren. Oder ob er einen zweiten Gedanken an die Opfer seiner Angriffe verwendet. Rheingold zeigt die Wegstationen seines Lebens, wenn er sich auf der Straße behauptet, zum ersten Mal ins Gefängnis kommt oder in die Niederlande flieht. Der Film begleitet seinen Aufstieg und konfrontiert ihn damit, dass Menschen, die er im Grunde nicht verletzen möchte, durch seine Handlungen Schaden nehmen. Aber inwieweit ihn das beschäftigt, wird nicht geschildert. Anstatt sich der filmischen Figur von Giwar Hajabi zu nähern, sie auch aus unangenehmen Blickwinkeln zu beleuchten, verharrt Filmemacher Fatih Akin in der Position des Beobachters. Das allein wäre ein Versäumnis, würde sich am Ende für Giwar nicht alles zum Positiven wenden. Sitzt er mit seiner Familie schließlich auf der Couch in einem für die meisten Menschen unerschwinglichen Anwesen, sendet dies das Signal, dass alles, was er getan hat, ihn dorthin geführt hat – auch die Gewalt und seine Verbrechen. Wenn es auf dem Weg zu Ruhm und Erfolg letztlich aber nichts zu bereuen gibt, ist dies dann nicht ein erstrebenswerter Pfad? Eine Antwort darauf liefert der Film bedauerlicherweise nicht.


Fazit:
Dass ihm die Absurditäten der Geschichte bewusst sind und er ebensolche Spitzen umsetzen möchte, kann man an Fatih Akins Inszenierung durchaus erkennen, dem es sogar gelingt, eine Hommage an Alfred Hitchcocks Die Vögel [1963] mit einzubauen. In der zweiten Hälfte überraschend amüsant, ist Rheingold eine durchweg authentisch anmutende und trotz der Laufzeit überraschend kurzweilige Biografie. Inwieweit sich der Autorenregisseur tatsächlich an wahren Ereignissen orientiert, sei dahingestellt. Zu Beginn mehr Milieu- und Charakterstudie, bleibt die Figur im Zentrum dennoch ein Mythos und nie nahbar. Dialoge, Musik und Ausstattung sind beeindruckend und glaubwürdig, die Besetzung toll zusammengestellt. Doch wird nicht hinter den überlebensgroßen Ruf geblickt, Schicht um Schicht abgetragen und herausgearbeitet, was Xatar zu dem gemacht hat, was er wurde, dann verklärt eine solche Biografie, selbst wenn sie „frei nacherzählt“ ist, ein solches Leben zum Heldentum. Wird Giwar am Ende von der Person, die ihm vermutlich am wichtigsten auf der Welt ist, gefragt, weshalb er den Goldtransporter überfallen hat, antwortet er darauf, es sei vor langer Zeit gewesen. Das ist zwar eine Antwort, aber eine Erklärung, weshalb er sich für diesen Weg entschieden hat, oder ob er seine Entscheidungen gar bereut, ist es nicht. Leider.