Petite Maman - Als wir Kinder waren [2021]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 10. März 2022
Genre: Drama / Fantasy

Originaltitel: Petite maman
Laufzeit: 72 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Céline Sciamma
Musik: Jean-Baptiste de Laubier
Besetzung: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne, Margot Abascal


Kurzinhalt:

Nach dem Tod ihrer Großmutter (Margot Abascal) begleitet die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) ihre Mutter Marion (Nina Meurisse) und ihren Vater (Stéphane Varupenne), die das Haus der Verstorbenen ausräumen. Nicht nur, dass Marion der Verlust ihrer eigenen Mutter merklich zusetzt, der Aufenthalt in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, beschäftigt sie sehr. In einem Wald in der Nähe des Hauses begegnet Nelly beim Spielen einem anderen Mädchen, das ebenfalls acht Jahre alt ist – und Marion (Gabrielle Sanz) heißt. Als sie das Mädchen zu deren Zuhause begleitet, stellt Nelly fest, dass diese Marion ihre eigene Mutter ist, vor 23 Jahren. Ihrer eigenen Mutter im Kindesalter zu begegnen, bietet Nelly die Möglichkeit, sie besser und von einem ganz anderen Blickwinkel aus kennenzulernen. Hat sie oft das Gefühl, ihre Mutter wäre traurig, sieht sie so, dass Marion keine einfache Kindheit hatte und dass sich die beiden Mädchen auch in ihren Erfahrungen und ihrer Selbstwahrnehmung ähnlicher sind, als sie glauben …


Kritik:
In Petite Maman - Als wir Kinder waren trifft die achtjährige Nelly auf ihre Mutter Marion, als auch diese acht Jahre alt war. Céline Sciammas überraschend herzliches Drama, bei dem es viele Momente gibt, in denen sich ein warmes Gefühl beim Publikum ausbreitet, erzählt von Ängsten und Verständnis. Der Fantasyaspekt der Geschichte spielt dabei nie eine wirkliche Rolle und doch regt gerade der letzte Moment zum Nachdenken an. Berührend und dezent gespielt, gibt es hier Einiges zu entdecken.

Der Film beginnt mit damit, dass sich Nelly von den Bewohnerinnen eines Seniorenheims verabschiedet. Von jeder einzeln. Sie geht in ihr Zimmer, sagt „auf Wiedersehen“ und geht weiter. Was seltsam anmutet, erklärt sich später, denn in diesem Heim war auch ihre Großmutter untergebracht, die kürzlich verstorben ist – und von der sich Nelly nicht verabschieden konnte. Dies bedrückt sie sehr, so wie Nellys Mutter Marion bedrückt ist, als sie zusammen mit Nellys Vater das Haus ihrer Mutter auszuräumen beginnt. Viele Erinnerungen werden dabei wach, von ihrem alten Kinderzimmer über die notdürftig gestrichenen Wände. Wie es für Marion gewesen sein muss, in diesem Haus aufzuwachsen, kann Nelly wenig später hautnah beobachten, denn beim Spielen im Wald, wo sie eine Hütte sucht, wie sie ihre Mutter früher gebaut hat, trifft sie auf ein Mädchen, das so alt ist wie sie – und das Marion heißt. Als Nelly dem Mädchen nach Hause folgt, gelangt sie zum Haus ihrer Großmutter, nur dass diese dort noch mit ihrer achtjährigen Tochter Marion lebt.

Wie es sein kann, dass Nelly 23 Jahre in die Vergangenheit reist, erklärt Petite Maman nicht, zumal die achtjährige Marion sogar mit Nelly in die Gegenwart kommt und auf ihren künftigen Ehemann trifft. Das warum ist hier auch nicht wichtig, sondern vielmehr, was Nelly und die junge Marion miteinander erleben. Dabei ist die verschlossene Nelly viel aufmerksamer, als man im ersten Moment vermuten würde. Sie erkennt die Situation schnell und weiht ihre gleichaltrige Mutter sogar ein. Aber selbst wenn sie sich eingangs etwas fürchtet, beide scheinen dadurch aufzublühen, dass sie jemanden haben, mit dem sie sprechen können und der versteht, was sie bedrückt. So machen beide ähnliche Erfahrungen mit ihren Müttern. Marions Mutter erzählt ihrer Tochter stets, dass sie nicht wisse, ob sie den nächsten Tag erleben werde. Nellys Mutter ist oft traurig und Nelly vermutet, dass sie selbst die Ursache ist.

Für beide Mädchen ist es eine schwere Zeit. Für Marion, die sich einerseits vor dem Verlust ihrer Mutter fürchtet und vor einer Operation, die ihr bevorsteht, für Nelly, die Angst hat, sie sei der Grund für das Unglücklichsein ihrer Mutter. Beide haben bis dahin niemanden, dem sie sich anvertrauen können, sind bislang allein mit ihren Sorgen und finden gerade deshalb zueinander, während sich die erwachsene Marion ihren Erinnerungen an ihr Elternhaus nicht stellen kann.
Dieser Entdeckungsreise beizuwohnen, fühlt sich besonders an, weil sie nicht auf Augenhöhe der Erwachsenen erzählt ist, sondern aus Sicht der Kinder. Kinder, die nicht ständig über das sprechen, was sie bedrückt und die ihre Umgebung feinfühliger wahrnehmen, als man ihnen zutrauen würde, selbst wenn sie dies nicht in Worte zu fassen vermögen. Petite Maman nähert sich diesem Blickwinkel auf eine solch behutsame Weise, dass sich das selbst in den Bildern und den Perspektiven wiederfindet.

Petite Maman - Als wir Kinder waren ist kein Drama, bei dem große Konflikte im Zentrum stehen, das auf eine Läuterung seiner Figuren hinarbeitet. Es beobachtet stattdessen zwei Figuren beim Erwachsenwerden und zeigt gleichzeitig, wie sehr die Erfahrungen der Kindheit unser erwachsenes Leben prägen. Die Ausgangsidee, seinen eigenen Eltern im Kindesalter zu begegnen, hat etwas Zauberhaftes und ist von den beiden Jungdarstellerinnen Joséphine und Gabrielle Sanz mit einer kindlichen Leichtigkeit und gleichzeitig einer jungen Melancholie eingefangen, die sich in Nina Meurisse als erwachsene Marion wiederfindet. Céline Sciammas Film bringt all diese Facetten zur Geltung. Jedoch nur für ein Publikum, das bereit ist, sich auf die ruhige Erzählweise einzulassen.


Fazit:
Eine Frage, die lange in Vergessenheit gerät, aber doch noch aufgegriffen wird, betrifft Nellys Abschied von ihrer Großmutter. Hier wie bei den zarten Banden, die sich zwischen Mutter Marion und ihrer Tochter entwickeln, beweist Regisseurin Céline Sciamma ein beeindruckendes Fingerspitzengefühl. Scheint die Beziehung eingangs distanziert, vor allem ausgehend von der erwachsenen Partei, weckt Nellys Erleben von Marions Kindheit Verständnis hierfür und zeigt am Ende doch auf, dass zwischen beiden eine Verbindung entstanden ist, die es zuvor nicht gab. Behutsam erzählt, räumt das Drama den Figuren viel Zeit ein. Für Manche mag das Gezeigte zu profan sein, doch dank der guten Darbietungen ist es das magische Flair, dass Nelly eine Freundschaft zu ihrer Mutter im Kindesalter aufbauen kann, das hier überspringt. Konsequent und feinfühlig aus den Augen der Kinder erzählt, ist Petite Maman - Als wir Kinder waren trotz der bedrückenden Ausgangslage unerwartet leicht und in der Wirkung einfach schön. Sofern man sich darauf einlässt und selbst, wenn das in manchen Momenten trotz der kurzen Laufzeit länger ist, als es womöglich sein müsste.