New Order - Die neue Weltordnung [2020]

Wertung: 2 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 9. August 2021
Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: Nuevo orden
Laufzeit: 86 min.
Produktionsland: Mexiko / Frankreich
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Michel Franco
Musik: Cormac Roth
Besetzung: Naian Gonzalez Norvind, Diego Boneta, Mónica Del Carmen, Fernando Cuautle, Darío Yazbek, Eligio Meléndez, Roberto Medina, Patricia Bernal, Lisa Owen, Enrique Singer, Gustavo Sánchez Parra


Kurzinhalt:

Marianne Novelo (Naian Gonzalez Norvind) und ihr soeben angetrauter Ehemann Alan (Darío Yazbek) feiern den vermeintlich schönsten Tag ihres Lebens in einem luxuriösen Anwesen in Mexiko, das durch hohe Mauern und in einem noblen Bezirk gelegen, vom Rest der Stadt abgeschottet ist. Nur an einigen eintreffenden Gästen sehen sie Spuren dessen, was in den Nachrichten zu hören ist, dass sich Unruhen wie ein Lauffeuer verbreiten und die gewaltsamen Demonstrantinnen und Demonstranten ein Anwesen nach dem nächsten einnehmen. Durch diese Unruhen sieht sich der ehemalige Angestellte Rolando (Eligio Meléndez) gezwungen, Mariannes Mutter Rebeca (Lisa Owen) aufzusuchen und sie um Geld für eine Operation seiner schwerkranken Frau zu bitten. Als Marianne davon hört und Rolando ohne die benötigte Summe wieder abgereist ist, entschließt sie sich, mit dessen Neffen Cristian (Fernando Cuautle), der ebenfalls im Haushalt arbeitet und dessen Mutter Marta (Mónica Del Carmen) ihre Haushälterin ist, Rolando aufzusuchen. Sie haben kaum die Hochzeitsgesellschaft verlassen, als sich Menschen aus sozial benachteiligten Schichten Zugang zum Haus verschaffen und die Anwesenden unter Anwendung äußerster Gewalt überfallen. Während die ganze Stadt in brutalen Protesten versinkt, kann Marianne bei Cristian und Rolando unterkommen. Als Marianne jedoch verschwunden bleibt, bittet Alan sogar den der Familie bekannten General Oribe (Gustavo Sánchez Parra) um Hilfe, sie zu finden. Doch die „Neue Ordnung“ bestehend aus schwer bewaffneten, vermummten Milizen, die sich nach dem Chaos erhebt und das Land übernimmt, geht nicht nicht von Aufständischen aus …


Kritik:
Trotz der kurzen Laufzeit von weniger als eineinhalb Stunden ist New Order - Die neue Weltordnung ein zunehmend schwerer Film. Sowohl schwer zu verstehen als auch schwer zu ertragen und es darf bezweifelt werden, ob beides von Filmemacher Michel Franco so beabsichtigt ist. Was beginnt wie eine dystopische Gesellschaftskritik, in der sich die untere Klasse gegen die obere auflehnt, wandelt sich in eine nihilistische Umsturzphantasie, in der das Publikum sowohl Komplize als auch Voyeur sein soll. Nur hat man sich auf diesen Weg nicht freiwillig begeben, wenn man sich für bestimmte Figuren interessiert, noch will oder kann man an etwas beteiligt sein, das hier inhaltlich nur in grobsten Zügen skizziert wird und dessen Verwicklungen erst in den letzten Szenen deutlich werden.

Nach einer Bildercollage zu Beginn, bei der unter anderem auch Berge von Leichen gezeigt werden, beginnt New Order in einem Krankenhaus in Mexiko, wo ein älterer Herr, Rolando, mit seiner Frau in einem Zimmer auf eine Operation wartet. Doch als das Krankenhaus überläuft mit Verletzten aus Demonstrationen, sollen die bereits vorhandenen Patientinnen und Patienten verlegt werden. Aus dem Grund soll Rolandos Frau nun in einem privaten Krankenhaus operiert werden, doch diesen lebenswichtigen Eingriff dort kann sich das ältere Paar nicht leisten. Daran anschließend wechselt Franco, der auch die Drehbuchvorlage liefert, zu einer Hochzeitsgesellschaft in einem riesigen, durch Mauern und Sicherheitspersonal abgeriegelten Anwesen. Marianne und Alan haben sich das Jawort gegeben und viele Gäste eingeladen. Sie alle bringen viel Geld in Umschlägen als Geschenke, die Mariannes Mutter Rebeca sogleich im Tresor einschließt. Dass die Situation nicht so idyllisch bleiben soll, wie sie beginnt, ahnt auch Rebeca, als sie den Wasserhahn aufdreht und grünes Wasser herausläuft. Während der Feierlichkeiten sucht Rolando sie auf, der sein halbes Leben für die Familie gearbeitet hat und sie um Geld für die Operation seiner Frau bittet, das er zurückzahlen will. 200.000 Pesos benötigt er, umgerechnet circa 8.500 Euro. Aber obwohl jede und jeder der Anwesenden unermesslich reicher ist, schickt Rebeca Rolando weg, mit weniger als einem Viertel der Summe. Auch Marianne wird auf Rolando aufmerksam und will helfen, entgegen der Blockade ihres frisch angetrauten Ehemannes Alan, gegen ihren Bruder Daniel und den Widerstand ihrer Mutter. So nimmt sie sich ihre Kreditkarte und den Sohn der Hausdame Marta, Cristian, der auch Rolandos Neffe ist, und macht sich auf zu Rolandos Haus in einem armen Viertel der Stadt.

Bereits auf dem Weg dahin sieht sie, was zuvor lediglich im Hintergrund zu hören war, dass Unruhen die Stadt übernehmen, Demonstranten und Randalierende ganze Stadtviertel einnehmen. Kaum hat sie die Hochzeitsgesellschaft verlassen, wird auch diese von einer Gruppe Aufständischer angegriffen. Man kann dabei gar nicht übersehen, welche Stereotype New Order hier bedient: Sämtliche Angreifenden, bewaffnet mit allem, was sie finden können, haben einen dunkleren Teint, die Angegriffenen, die privilegierte Oberklasse, ist dagegen auffallend weiß. Auch wenn eine Verteilung von Reichtum in Mexiko durchaus so aussehen kann, muss man sich doch fragen, welche Vorurteile Michel Franco bedienen will, wenn er zeigt, wie die schwächere Gesellschaftsschicht die Anwesen der Reichen verwüstet, sogar die Angestellten der Hochzeitsgesellschaft sich gegen die Familien wenden, für die sie gearbeitet haben mit Kommentaren wie „ihr habt uns jahrelang unterdrückt, jetzt holen wir uns zurück, was uns gehört“. Welche Ressentiments soll es bedienen, wenn man sieht, wie eine Haushaltshilfe nur wenige Momente, nachdem der Aufstand das Haus erreicht hat, lächelnd ihre Taschen mit Schmuck und Wertsachen vollstopft, während ihre Arbeitgeberin im Nebenzimmer hingerichtet wird? In Mexiko hat der Film deshalb einen medialen Aufschrei verursacht und das nicht zu unrecht.

Die Aufständischen plündern und morden, alles und jeden. Männer, Frauen, Kinder, Schwangere. Egal, wie sehr man Menschen wie Rolando – der sich im Übrigen wie auch Cristian und dessen Mutter Marta, nicht an den Unruhen beteiligt – verstehen mag, sieht man die Wut der benachteiligten Gesellschaftsschichten sich in so unbändiger Gewalt entladen, kann man hierfür kein Verständnis aufbringen. So fühlt man mit den einzigen Personen in dieser Geschichte, die empathisch auftreten, die Mitgefühl zeigen und sich für andere einsetzen: Marianne, gefolgt von Cristian, Marta und Rolando. Doch ob bewusst oder unbewusst, Franco tritt diese Sympathien des Publikums mit Füßen. Marianne wird, nachdem der erste Aufstand vorbei ist, von Soldaten mitgenommen. Anstatt sie in Sicherheit zu bringen, wird sie in ein Lager gesperrt, wo sie und andere Frauen wie Männer katalogisiert und schwer, auch sexuell, misshandelt werden. Einen Monat bleibt sie verschwunden, in dem die gut vernetzte Familie auch mit hochrangigen Militärs angeblich alles versucht, sie zu finden. Dann wenden sich die Entführer an die Familie und verlangen Lösegeld. Parallel dazu wenden sich die zwei Soldaten, die Marianne entführt haben, an Marta und Cristian und wollen über sie zusätzliches Lösegeld der Familie erpressen.

Irgendwann kristallisiert sich heraus, dass diese „Neue Ordnung“, die sich aus den Unruhen erhebt, keine aus den Aufständischen selbst heraus sein soll, sondern eine im Zuge dessen installierte Militärdiktatur, die durch vermummte, bewaffnete Soldaten, die ungehindert morden, vergewaltigen und stehlen, aufrecht erhalten wird. Arbeitserlaubnisse, Identitätskarten und Kontrollzonen sollen zeigen, wie diese Diktatur das gesamte Land aufteilt und wer Zeuge oder Zeugin der Verantwortlichen ist, wird beseitigt. Doch bis diese Zusammenhänge klar werden, und das tun sie erst in den letzten Momenten, fragt man sich, weshalb niemandem auffällt, dass unzählige Menschen, die hier vom Militär festgehalten und misshandelt werden, nach den Unruhen einfach fehlen? Wieso wird nirgendwo von den Lösegeldforderungen bekannt, an deren Ende wenig überraschend eine Freilassung weder sicher, noch wahrscheinlich ist? Vielmehr konzentriert sich New Order darauf zu zeigen, dass sich für die Reichen auch unter der neuen Führung nichts ändert. Diejenigen, die den ersten Angriff überlebt haben und nicht in Gefangenschaft geraten sind, ziehen in neue, große und abgeriegelte Häuser, wo Angestellte sich im sie kümmern.

All diejenigen, die sich engagiert haben, die Mitgefühl zeigten, haben hingegen unter diesem Regime zu leiden, werden ausgebeutet oder weit Schlimmeres. Filmemacher Michel Franco zeigt all dies, scheinbar ohne Partei zu ergreifen, ohne Position zu beziehen. Dafür soll das Publikum stumm zusehen, wenn ganze Gruppen von Menschen mit auf die Stirn geschriebene Zahlen nackt von denen, die sie gefangen genommen haben, abgeduscht werden. Und die Hoffnungen all derer, die befürworten, dass die stets größer werdende Schere zwischen Arm und Reich irgendwann geschlossen wird, werden zu Komplizen gemacht, wie mit einer neuen Gesellschaftsordnung noch weniger Freiheit und Chancengleichheit herrschen, als zuvor. Zusammen mit systematischer Unterdrückung und menschenverachtender Gewalt. Dem zuzusehen, lässt einen nicht nur unwohl fühlen, man fühlt sich danach regelrecht schmutzig.


Fazit:
Was beginnt, als würde Michel Franco einen gewaltsamen, gesellschaftlichen Umsturz am Mikrokosmos jener Figuren beleuchten, wandelt sich plötzlich, als würde der Regisseur aus der Szenerie herauszoomen, in einen Blick auf das ganze Land. Dies geschieht so schnell und unkontrolliert, dass man nicht weiß, was für ein Szenario hier eigentlich entworfen werden soll. Die in einen roten Anzug gekleidete Braut erinnert dabei an das kleine Mädchen in Schindlers Liste [1993], doch anstatt das Publikum als Zeuge der Geschichte hinzuzuziehen, bei der nicht jede Gräueltat gezeigt werden muss, um den Horror begreifbar zu machen, wird man hier mit andauernder Brutalität und Grausamkeiten konfrontiert. Die führen am Ende dazu, dass man sich wie ein Voyeur vorkommt. Die ersten 35 Minuten von New Order - Die neue Weltordnung sind beunruhigend und erschreckend, wenn das Land durch diese Proteste im Chaos versinkt. Was folgt, verwundert zuerst, macht dann fassungslos und schließlich mehr wütend, als dass es deprimiert, wenn das eigene Mitgefühl in die wenigen, sympathischen Figuren zu solchen Ergebnissen führt. Was immer die Verantwortlichen hier erreichen wollten, es kann kaum sein, das Publikum derart gegen sich aufzubringen. Über die inhaltliche Fehlleitung täuscht auch die künstlerische Umsetzung nicht hinweg.