Motherless Brooklyn [2019]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. November 2019
Genre: Krimi / Drama

Originaltitel: Motherless Brooklyn
Laufzeit: 144 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Edward Norton
Musik: Daniel Pemberton
Besetzung: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Bobby Cannavale, Willem Dafoe, Bruce Willis, Ethan Suplee, Cherry Jones, Dallas Roberts, Josh Pais, Leslie Mann, Fisher Stevens


Kurzinhalt:

New York City in den 1950er-Jahren. Frank Minna (Bruce Willis) ist Privatdetektiv und beschäftigt in seiner Detektei drei Mitarbeiter. Sie alle hat er vor vielen Jahren aus einem Waisenhaus heraus aufgenommen. Lionel (Edward Norton) fühlt sich Minna nicht nur deshalb verpflichtet. Als Frank bei der Übergabe von Dokumenten eines Falles an die Auftraggeber getötet wird, schwört Lionel, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Da Frank niemandem sagte, woran er gearbeitet hatte, muss Lionel mit dem Wenigen beginnen, wovon er weiß. So sehr ihm sein außergewöhnliches Gedächtnis dabei weiterhilft, so hinderlich sind seine Ticks und verbalen Ausbrüche, die ihn seit seiner Jugend begleiten. Seine Nachforschungen führen ihn zu Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw), eine Mitarbeiterin von Gabby Horowitz (Cherry Jones), die sich gegen die Gentrifizierung der Stadt starkmacht. Die wird von dem hochrangig vernetzten Moses Randolph (Alec Baldwin) vorangetrieben, der seine Vision von New York City wahrmachen will. Wenn was Lionel von Franks Hinweisen verstanden hat, stimmt, schwebt Laura in großer Gefahr und ihm bleibt nur eine Woche, den Fall zu lösen …


Kritik:
Wie viel Herzblut Filmemacher Edward Norton in die Adaption von Jonathan Lethems Roman Motherless Brooklyn steckte, sieht man dem fertigen Film durchaus an. Beinahe 20 Jahre dauerte es, ehe das preisgekrönte Buch auf die Leinwand gebracht werden konnte. Das Ergebnis ist anders, als man erwarten würde – was kein Kritikpunkt ist. Aus dem Jahr 1999 in die 1950er-Jahre transferiert, entfaltet die Geschichte eine überragende Atmosphäre, und weist dadurch womöglich umso offensichtlicher Parallelen zur heutigen Zeit auf. Es fehlt nicht viel, dies zu einem modernen Klassiker zu machen.

Im Zentrum der Geschichte, die auch von der Hauptfigur aus dem Off erzählend begleitet wird, steht der ebenfalls von Norton gespielte Lionel Essrog. Als Waise aufgewachsen, arbeitet er seit vielen Jahren für den Privatdetektiv Frank Minna. Lionel leidet, ohne dass es dafür zu jener Zeit einen Namen gäbe, unter Zuckungen und verbalen Ausbrüchen, die er nicht kontrollieren kann. Was später als Tourette-Syndrom bekannt wird, ist für ihn, als wenn in seinem Kopf viele Gedankenzüge in entgegengesetzten Richtungen aufeinanderprallen. Während ein Teil von ihm alles in Ordnung bringen muss, ist der andere damit beschäftigt, den Alltag zu bewältigen. Das führt oft zu Konflikten. Gleichzeitig verfügt Lionel über ein herausragendes Gedächtnis und ist vermutlich der kombinationsstärkste von Minnas Männern. Er und seine zwei Kollegen sehen sich einem Scherbenhaufen gegenüber, als Frank bei einem Fall ermordet wird. In dessen Details hat er seine drei Angestellten zuvor nicht eingeweiht. Was sich Lionel erschließen kann ist, dass eine afroamerikanische junge Frau in Gefahr ist, irgendetwas Wichtiges nächste Woche Donnerstag geschehen wird, und einige Namen, die bei einem Gespräch, das er kurz vor Franks Ermordung mithörte, gefallen sind.

So beginnt Lionel mit seinen Nachforschungen, das Geheimnis um Franks Tod zu lüften. Ohne die heutigen Annehmlichkeiten wie Internet oder Mobiltelefone. Stattdessen schildert Filmemacher Edward Norton die klassische Detektivarbeit mit vielen Beobachtungen, Gesprächen, zahlreichen Momenten mit Figuren in Hut und Trenchcoat im Schatten einer verlassenen Straßengasse. Motherless Brooklyn ist ein herrlich klassischer Noir-Krimi, bei dem Stück für Stück das Puzzle um den Mord zusammengesetzt wird. Werden Figuren wie der von Alec Baldwin verkörperte Lokalpolitiker Moses Randolph vorgestellt, wird schnell klar, dass der Fall mit einem Komplott in New Yorks politischen Sphären zusammenhängen muss. Dabei bleibt dies stets ein Krimi, der von seinem Publikum Mitdenken erfordert, um die Zusammenhänge zu begreifen.

Die Besetzung ist ebenso namhaft wie hervorragend zusammengestellt. Als Frank Minna hat Bruce Willis zwar nur einen kurzen Auftritt, es ist jedoch sein bester Leinwandausflug der vergangenen Jahre. Alec Baldwin wird mit einem so denkwürdigen ersten und letzten Auftritt bedacht, dass diese die Figur wie den Darsteller dahinter auszeichnen. Ohne Perücke zieht sein Moses Randolph Parallelen zu einer politischen Person, die Baldwin abseits des Kinos im Stand-Up-Comedy-Bereich regelmäßig verkörpert. Er ist ein Paradebeispiel für einen autokratischen Herrscher im Herzen der größten Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber selbst wenn alle Beteiligten, zu denen auch Willem Dafoe und Gugu Mbatha-Raw zählen, sichtbar gefordert und engagiert zugleich sind, Nortons Darbietung von Lionel Essrog gehört zu den Highlights des Films. Sein Tourette-Syndrom äußert sich unter Stress spürbar stärker, was vor allem durch die Wortausbrüche für einige lockere Momente sorgt. Das mag anfangs lustig wirken, tatsächlich ist es für ihn jedoch überaus tragisch. Wie niemand anderes trägt er seine innersten Gedanken nach außen, nicht in der Lage, etwas für sich zu behalten. Sieht man bei einer Szene in einer Bar, in der eine Jazz-Band spielt, wie Lionels Ticks und Ausbrüche sich im Einklang mit der improvisierten Musik äußern und wie Edward Norton in der Titelrolle Lionels Kampf gegen diese Zwänge kämpft, ist das schlicht beeindruckend und ebenso preiswürdig.

Auch dank der tollen Ausstattung gelingt Motherless Brooklyn, die 50er-Jahre-Atmosphäre greifbar zum Leben zu erwecken. Hier fällt jedoch merklich und nicht unbedingt positiv die verwendete Kamera auf. Sind die Perspektiven überaus statisch – was durchaus zur Thematik und dem Ambiente passt – wirken die digital aufgenommenen Bilder zu glatt, beinahe zu hell in den dunklen Szenen. Es ist, als wäre eine zeitgemäße Geschichte mit dem Stil, der Mode und den Farben von damals, aber mit modernster Aufnahmetechnik aufgenommen worden. Es ist ein Mix, der dem Noir-Krimi am ehesten als Makel angekreidet werden kann, zumal die Stimmung nie so schmutzig oder anrüchig erscheint, wie sie in der verklärten Vorstellung jener Zeit eigentlich sein müsste.


Fazit:
Ist es allgemein eher schwierig, eine Geschichte durch eine Erzählung aus dem Off zu begleiten, gelingt dies hier überaus gut. Vor allem deshalb, weil Lionels Erzählungen nicht den Krimi erklären, sondern was in seinem Kopf vor sich geht veranschaulichen. Der Krimi selbst entpuppt sich als klassisch „Noir“, der sich durchaus so damals zugetragen haben könnte, aber heute einen ebenso aktuellen Bezug aufweist. Die fantastische Besetzung ist ebenso sehenswert wie die geradlinige Erzählung, die allenfalls im Mittelteil etwas lang geraten ist. Dafür überzeugen Atmosphäre und Ausstattung, die das Setting der 50er-Jahre hervorragend einfangen. Auch dank der fantastischen Musik. Die Crime-Story richtet sich an ein reifes Publikum, das sich nicht nur auf die unaufgeregte, stilvolle Inszenierung einlässt, sondern auch bereit ist, mitzurätseln. Solche Filme sind heute bedauerlicherweise überaus selten. Auch deshalb ist Motherless Brooklyn ein Fest für Genrefans und einer der sehenswertesten Krimis der vergangene Jahre. Erstklassig ausgestattet und mit einer Liebe zum Detail erzählt, dass es auch dank der überraschend unterhaltsamen Umsetzung eine Freude ist, zuzusehen. Klasse!