Mary & Max oder Schrumpfen Schafe wenn es regnet? [2009]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 11. September 2010
Genre: Animation / Komödie / Drama

Originaltitel: Mary and Max
Laufzeit: 92 min.
Produktionsland: Australien
Produktionsjahr: 2009
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Adam Elliot
Musik: Dale Cornelius
Originalstimmen: Toni Collette, Philip Seymour Hoffman, Eric Bana, Barry Humphries, Bethany Whitmore, Renée Geyer, Ian 'Molly' Meldrum, John Flaus, Julie Forsyth, Michael Ienna


Kurzinhalt:
Es ist das Jahr 1976 als die achtjährige Mary Daisy Dinkle (Bethany Whitmore / Toni Collette), die in Australien lebt und in der Schule wegen ihres Muttermals auf der Stirn gehänselt wird, an einen fremden Mann in New York schreibt. Max Horovitz (Philip Seymour Hoffman) ist 44 Jahre alt und sehr überrascht, als Mary ihm eine Brieffreundschaft anbietet. Er lebt allein und kennt das Martyrium, das Mary in der Schule durchlebt, nur zu gut. Nur kann Max seine Gefühle nicht so ausdrücken und deutet Vieles wörtlicher, als es wohl gemeint ist. Darum gilt auch er als Außenseiter.
Die Freundschaft zwischen beiden legt gerade deshalb immer wieder unerwartete Pausen ein, denn Marys offene, kindliche Art und ihre schonungslosen Fragen lösen bei Max mitunter Angstzustände und sogar einen Nervenzusammenbruch aus. Mit ihrer gut gemeinten Absicht setzt sie etwas in Gang, das ihrer beider Leben für immer verändert ...


Kritik:
Wer heutzutage in der Großstadt einen Fuß vor die Tür setzt, wird schon nach wenigen Minuten sagen, dass die Welt vollkommen verrückt geworden ist. Nur, was spricht dagegen, dass der Rest der Welt das von einem selbst auch behaupten würde? Mary & Max schildert in einem skurrilen Ambiente eine wunderliche Freundschaft zwischen der achtjährigen Mary, die in einem Vorort von Melbourne in Australien lebt, und dem 44jährigen, jüdisch erzogenen Atheisten Max, der in New York im Jahr 1976 sein Dasein fristet. Alles beginnt damit, dass Mary sich einen zufälligen Namen im New Yorker Telefonbuch heraussucht, um mit derjenigen Person eine Brieffreundschaft zu beginnen. In ihrem Zuhause, mit einer Alkoholsüchtigen Mutter und einem Vater, zu dem sie wenig Bezug hat, kann sich das Mädchen, das wegen eines Muttermals auf seiner Stirn in der Schule gehänselt wird, nicht entfalten. So stellt sie Max, nachdem dieser auf ihren ersten Brief (samt Schokoriegel) geantwortet hat, auch zahlreiche Fragen, und sei es nur, um zu erfahren, wie die Dinge in Amerika funktionieren. Ob dort Babys aus Cola-Dosen geboren werden, beispielsweise – in Australien kämen sie laut ihrem Vater aus Biergläsern. Dass sie mit ihren naiv und nicht böse gemeinten Fragen Max jedoch regelmäßig zu einem Nervenzusammenbruch bringt, ist ihr nicht bewusst. Woher soll sie auch wissen, dass der Mittvierziger von jeher an einer Krankheit leidet, die es ihm erschwert, mit äußeren Einflüssen umzugehen, und auch sich selbst nicht so artikulieren kann, wie er es vielleicht wollte.

Womit die Zuschauer in dem Stop-Motion-Film konfrontiert werden, ist durchaus derb. Von Selbstmord über Angstzustände, Depressionen, tödlichen Unfällen und sogar Mobbing bei Kindern wird erzählt. Doch bringt Filmemacher Adam Elliot seine Themen mit sehr viel makabrem und schwarzem Humor dar, der sich eindeutig an ein erwachseneres Publikum richtet. Für Kinder eignet sich der Film, der mit einer ähnlichen Technik wie Wallace & Gromit: Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen [2005] entstand, sicherlich nicht und auch aufmerksame Zuseher werden Schwierigkeiten haben, die vielen verschiedenen Nebensächlichkeiten zu verstehen, die Mary & Max aber zu so einem hintersinnigen Werk machen. So sollte man nicht nur auf Plakate im Hintergrund achten, sondern beispielsweise auch auf die Schilder der Bettler, die sich im Laufe der immerhin 22 Jahre, die der Film umspannt, merklich in ihren Aussagen ändern. Werden dort anfangs noch "Umarmungen", später "Küsse" für ein paar Cent angeboten, gibt es wenig später andere "Dienstleistungen" im Angebot, bis hin zu "Organspenden", ehe Ende der 1980er Jahre auf dem Schild geschrieben steht "Behaltet Euer Geld, ich will, dass sich etwas ändert!".
Der Film spricht sozialkritische Themen auf subtile Weise an, ohne die Relevanz des Themas jedoch herunterzuspielen. Der eigentliche Kern der Geschichte ist die Frage, was eine Freundschaft ausmacht, auch wenn die befreundeten Personen durch einen großen Altersunterschied und einen Ozean voneinander getrennt sind und sich nie gesehen haben. Nur dann kann man auch verstehen, weswegen Max wutentbrannt den Kontakt abbricht, als die promovierte Biologiestudentin Mary ihm freudig in einem Brief berichtet, sie wolle jetzt einen Weg finden, ihn von seinem Asperger-Syndrom zu heilen. Immerhin fühlte sich Max trotz der Beteuerungen seines Psychiaters nicht krank und Mary sollte ihn doch so akzeptieren, wie er ist. Sollten das Freunde nicht immer? Diese Botschaften werden durch den der Situation immer mit der richtigen Stimmung angepassten Erzähler absichtlich nicht hervorgehoben, das Publikum soll sich dazu selbst Gedanken machen.

Mary & Max (den irreführenden und überflüssigen deutschen Zusatztitel sollte man besser ignorieren) ist mit einer verschwenderischen und ebenso lustigen Musikuntermalung ausgestattet, die längst vergessene Stücke der vergangenen Jahrzehnte – und noch länger zurückliegende – umfasst. Sie fügt sich, auch mit den talentierten Sprechern der deutschen Sprachfassung, zusammen zu einer Atmosphäre, die durch die einfallsreichen Bilder zum Leben erweckt wird. Dass dabei die Farbwahl mit Grautönen im städtischen New York und Brauntönen in Marys Heim, bis zuletzt erhalten bleibt, spricht für das durchdachte Konzept, immerhin wirken die Geschenke, die Mary mitsendet so wie eine Signalfarbe in Max' Welt – und umgekehrt.
Den Neurotiker dabei in New York zu beheimaten erscheint letztlich nicht nur Woody Allen-Fans natürlich, auch wenn man sich kaum vorstellen kann, sieht man denn die Welt durch Max Augen, dass die Anderen dort draußen weniger neurotisch (ob mit Syndrom oder ohne) sein sollen, wie er selbst.


Fazit:
Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen der 8jährigen und dem 44jährigen samt seinen Neurosen. Sie sind füreinander wie eine Zuflucht, eine Insel der Vernunft im Sturm der unbegreiflichen Umwelt. Und doch müssen beide lernen, sich selbst zu akzeptieren wie man ist und schließlich auch den anderen. Insbesondere bei Mary ist dies ein schmerzvoller Prozess und Regisseur Adam Elliot verpackt die ungewöhnliche, freundschaftliche Beziehung in skurril anmutenden Bildern.
Mary & Max ist nicht nur tadellos und einfallsreich eingefangen, vielmehr entführt die schwarzhumorige Komödie in eine Welt, die unserer den Spiegel vorhält. Stellenweise verschwimmen die Grenzen zwischen Komödie und Drama, was nur unterstreicht, dass der Filmemacher seine Geschichte an ein reiferes Publikum richtet. Dieses wird ihm die gelungene Atmosphäre ebenso danken wie die pointenreichen Dialoge und die treffenden Figuren. Hier trifft eine Story mit Hintersinn auf das künstlerische Talent, diese auf ungewohnte Art und Weise zum Leben zu erwecken. Unterhaltsam und lustig, aber ebenso nachdenklich stimmend.