Living – Einmal wirklich leben [2022]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 7. April 2023
Genre: DramaOriginaltitel: Living
Laufzeit: 102 min.
Produktionsland: Großbritannien / Japan / Schweden
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt
Regie: Oliver Hermanus
Musik: Emilie Levienaise-Farrouch
Besetzung: Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlins, Hubert Burton, Oliver Chris, Michael Cochrane, Anant Varman, Zoe Boyle, Lia Williams, Jessica Flood, Patsy Ferran, Barney Fishwick, Nichola McAuliffe
Kurzinhalt:
London im Jahr 1953. Über das Planungsbüro der Baubehörde hinaus ist der Verwaltungsangestellte Mr. Rodney Williams (Bill Nighy) bekannt. Der Neuzugang im Büro, Mr. Wakeling (Alex Sharp), hat ebenfalls von ihm gehört, und findet in seinem Vorgesetzten einen Mann kurz vor der Pensionierung vor, der vollkommen in sich gekehrt ist. Mit stoischer Ruhe und stets akkurat arbeitet er seine Vorgänge ab und lässt sich durch die immer höher werdenden Papiertürme von Anträgen und Einsprüchen nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ebenso festgefahren wie die gesamte Verwaltung, wie Mr. Wakeling feststellt, als der Antrag von drei Frauen auf einen Spielplatz von einer Abteilung zur nächsten gereicht wird, ohne bearbeitet zu werden. Doch als Mr. Williams die Diagnose erhält, dass er nur noch sechs bis neun Monate zu leben hat, beginnt er sich zu fragen, ob er bislang überhaupt schon richtig gelebt hat. Die junge Miss Harris (Aimee Lou Wood), die für ihn gearbeitet hat, ist ihm in Hinblick auf ihre Lebensfreude und ihren Tatendrang ein Vorbild und die einzige Person, der er sich anvertraut. Nicht einmal sein Sohn und seine Schwiegertochter wissen von seiner Krankheit. So sucht Mr. Williams nach einer Möglichkeit, seinem Leben eine Bedeutung zu verleihen …
Kritik:
Basierend auf Akira Kurosawas preisgekröntem Drama Ikiru: Einmal wirklich leben [1952] erzählt Filmemacher Oliver Hermanus in Living – Einmal wirklich leben von einem Mann, der nach einer erschütternden Diagnose darum bemüht ist, seinem Leben noch eine Bedeutung zu verleihen. Ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten, ist so tragisch wie bitter, die Stimmung so hoffnungslos wie zuversichtlich. Die fantastische, einnehmende Darbietung von Bill Nighy im Zentrum prägt den Film ungemein.
Angesiedelt ist Living ebenfalls zu Beginn der 1950er-Jahre, wobei bereits der Vorspann das Publikum auf die Art Erzählung einstimmt, die es erwartet. Werken jener Zeit bleibt Regisseur Hermanus treu, unterlegt die Titelsequenz mit Bildern aus London jener Jahre. Ruhig, zurückgenommen. Es ist eine Zeit, in der die Herren der Gesellschaft mit Hut und Anzug, die Zeitung in der Hand, am Bahnsteig stehen und selbst wenn sie später gemeinsam im Büro sitzen, überwiegend schweigen. Es ist der erste Tag von Peter Wakeling im Planungsbüro der städtischen Baubehörde. Er darf mit seinen Kollegen und der Kollegin bei Mr. Rodney Williams arbeiten, einer regelrechten Legende der Verwaltung. Auch im Büro herrscht eine gedrückte Atmosphäre, die Anwesenden sprechen sich mit Nachnamen an, Berge von Akten und Papier türmen sich auf. Mit höchster Akkuratesse werden Bewilligungen ausgestellt, Anträge abgelehnt. In Ruhe. Es ist eine Verwaltungsstruktur, die nicht nur festgefahren ist, sondern in der am Ende niemandem geholfen wird. Wie Mr. Wakeling am eigenen Leib erfährt, werden Petenten nur von A nach B geschickt, der Vorgang irgendwann abgelegt, ohne ihn zu bearbeiten. So auch der Antrag von drei Damen, die ein verfallenes Grundstück in einen Spielplatz umbauen wollen, aber an der Bürokratie scheitern. Einen Vorgang wie ihren auf den Stapel mit anderen zu packen, schadet ja nicht. Man wird sich darum kümmern, zu gegebener Zeit.
Doch genau diese Zeit ist endlich, wie Mr. Williams am eigenen Leib erfährt, als sein Arzt ihm mitteilt, dass er an Krebs erkrankt ist und sechs bis neun Monate zu leben habe. Selbst wenn sich seine Haltung, sein Auftreten und seine Mimik nicht verändern, es ist eine Diagnose, die ihn zutiefst erschüttert. Seinem Sohn und dessen Frau, die in seinem Haus wohnen, kann oder will er sich nicht anvertrauen. Freunde hat er nicht und auch im Kollegenkreis spricht man nicht über private Dinge. Die eigene Vergänglichkeit urplötzlich vor Augen geführt, versucht Mr. Williams, bei einem Ausflug ins Nachtleben Spaß zu haben – doch er weiß einfach nicht, wie. Sogar in der Familie schweigt man sich nur an, niemand erzählt dem anderen, was einen bewegt. Nicht einmal, als Gerüchte die Runde machen, Mr. Williams wäre in London mit einer jungen Frau in einem Lokal gesehen worden. Es ist eine ehemalige Mitarbeiterin aus dem Büro, Miss Harris, der Mr. Williams begegnet und deren Lebensfreude und Lebensmut ihn gerade jetzt so faszinieren. Nicht nur, dass er ihre Gesellschaft sucht und das Alleinsein so vermeiden will, er hofft, dass ihre Lebendigkeit, die er bei sich selbst vermisst, auf ihn überspringt. Ihr vertraut er sich an und es entsteht eine Freundschaft, die ihn ermutigt, sich ein Projekt vorzunehmen, um noch etwas zu bewirken. Ein Projekt, das in der Antragsflut untergeht.
So findet Mr. Williams einen Grund, wieder ins Büro zu gehen und inspiriert seine Kollegen, etwas zu bewegen. Hat es zu Beginn den Anschein, als wolle Living – Einmal wirklich leben aussagen, dass zu leben bedeutet, sich treiben zu lassen und Spaß zu haben, wandelt sich dies im Verlauf. Zu leben heißt vielmehr, seinem Leben eine Bedeutung zu verleihen. Wann Mr. Williams zu dem Mann wurde, der er ist, weiß er selbst nicht. Es ist eine Selbsterkenntnis, die ihn mit so viel Bedauern und Traurigkeit erfüllt, dass Bill Nighys Blick genügt, das Herz des Publikums vor Schwermut sinken zu lassen. Von kleinauf wollte er ein Gentleman sein. Nun, für aufstrebende Jünglinge eine Vorbild, eine lebende Legende, muss er erkennen, dass er doch nicht er selbst ist und ein Leben voller nicht genutzter Möglichkeiten hinter ihm liegt. Mit dem Ende in Sichtweite, erkennt er, zu wem er geworden ist, aber er weiß nicht, wie er sich ändern soll.
Living – Einmal wirklich leben fühlt sich an wie eine melancholische Ballade. Doch selbst wenn am Ende Mr. Wakelings Beobachtungen der Vergänglichkeit der Inspiration ernüchtern, die Bedeutung dessen, was bleibt, überwiegt und strahlt aus. Mag man Mr. Williams’ Schicksal und seine späte Erkenntnis als bedrückend empfinden, sein Wandel und sein Bestreben, einmal wirklich zu leben, bevor er die Welt verlässt, ist doch ermutigend. Oliver Hermanus kleidet seine Erzählung in ruhige, unaufdringliche Bilder, die dennoch eine beeindruckende Bestimmtheit, eine Komposition ausstrahlen. In ihrem Zentrum steht Bill Nighy, der sich mit einer zurückgenommenen Darbietung selbst ein Denkmal setzt. Seine Präsenz ist mit Händen zu greifen, seine Verzweiflung und seine Hoffnungslosigkeit ebenso wie seine spätere Entschlossenheit. Dem beizuwohnen, ist ein Privileg und für ein Publikum, das sich auf ein ruhiges Drama einlässt, mehr als sehenswert.
Fazit:
Wie erstaunlich die Entwicklung des dem Tode geweihten Mr. Williams ist, erschließt sich erst, wenn man genauer darüber nachdenkt. Die Reaktion auf seine Diagnose könnte vielfältig ausfallen. Er könnte sich so verhalten, als spiele alles keine Rolle mehr, oder sein Schicksal leugnen. Zu Beginn versucht er ersteres, bis er erkennt, dass gerade jetzt jede seiner Handlungen eine Bedeutung haben sollte. Filmemacher Oliver Hermanus lässt uns an dieser Erkenntnis teilhaben und gibt sie in die Hände eines Bill Nighy, dessen Zurückhaltung seine innere Verzweiflung nur unterstreicht. Die Selbstreflexion seines Mr. Williams ist eine der besten Darbietungen des vergangen Kinojahres. Zwar gibt es Nebenhandlungen wie die neue Anstellung von Miss Harris, die letztlich kaum weiterverfolgt werden, aber ist es im Leben nicht oft so, dass wir das Ende von Vielem, das wir beobachten, nicht wahrnehmen? Dass die Erzählung im letzten Drittel in Rückblicken erfolgt, macht es einem weniger aufmerksamen Publikum zwar schwer, sich den Verlauf der Geschichte zu erschließen, aber es verdeutlicht umso mehr, was sie im Kern aussagen möchte. Living – Einmal wirklich leben ist eine fantastisch gespielte und toll bebilderte Geschichte über das, was im Leben zählt, darüber, einen bleibenden Eindruck im Leben anderer zu hinterlassen. Das ist es, was überdauert. Für ein ruhiges Publikum ist dies so schön, so getragen wie melancholisch mitanzusehen.