Die zwölf Geschworenen [1957]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. Januar 2022
Genre: Drama / Krimi

Originaltitel: 12 Angry Men
Laufzeit: 96 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1956
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Sidney Lumet
Musik: Kenyon Hopkins
Besetzung: Martin Balsam, John Fiedler, Lee J. Cobb, E.G. Marshall, Jack Klugman, Edward Binns, Jack Warden, Henry Fonda, Joseph Sweeney, Ed Begley, George Voskovec, Robert Webber


Kurzinhalt:

Sie haben den Zeugenvernehmungen beigewohnt, die Beweisstücke gesehen und die Plädoyers gehört. Nun sollen die zwölf Geschworenen sich zurückziehen und beraten, ob sie den 18jährigen Angeklagten für schuldig befinden, seinen Vater erstochen zu haben. In dem stickigen, aufgeheizten, kleinen Raum am heißesten Tag des Jahres scheint der Fall klar: Schuldig im Sinne der Anklage. Doch während elf der anwesenden diesen Schuldspruch unterstützen, äußert der Geschworene Nummer 8 (Henry Fonda) Zweifel an den vorgebrachten Aussagen und Beweisen. Da das Urteil einstimmig sein muss, entbrennt zwischen den zwölf eine erbitterte Diskussion. Manche lassen sich dabei von den Argumenten umstimmen, andere beharren auf ihrer Meinung. Je länger die Beratungen dauern, umso stärker treten persönliche Konflikte zu Tage. Bis bei einer geheimen Abstimmung bereits zwei Stimmen gegen den Schuldspruch gezählt werden, der für den Angeklagten den sicheren Tod bedeuten würde …


Kritik:
Nach dem Erfolg eines live aufgeführten Fernsehspiels adaptierte Filmemacher Sidney Lumet das Kammerspiel Die zwölf Geschworenen als seine erste Kinoregie. Mit Henry Fonda in der Rolle des Geschworenen, der nicht zweifelsfrei von der Schuld eines wegen Mordes angeklagten jungen Mannes überzeugt ist, gelingt ihm dabei ein Stück Filmgeschichte, dessen inhaltliche Aussagen heute wie damals Bestand haben. Es ist ein Drama, welches das Publikum mit sich selbst konfrontiert, auf eine demaskierende Art und Weise.

Die Aufgabe, mit der die zwölf Männer zu Beginn durch einen Richter betraut werden, klingt einfach genug, selbst wenn sich einige der großen Bürde, die damit verbunden ist, nicht bewusst sind. Vor Gericht stand ein 18 Jahre junger Mann aus ärmlichen Verhältnissen, der im Verdacht steht, seinen Vater erstochen zu haben. Dafür gibt es Zeugen. Sollte er schuldig gesprochen werden, droht ihm die Todesstrafe. Doch das Urteil der Geschworenen muss einstimmig sein und sollten sie einen begründeten Zweifel sehen, müssten sie ihn freisprechen. Es ist ein heißer Tag in dem Gerichtsgebäude von New York County und zu allem Überfluss geht der Ventilator im Beratungsraum nicht. Keiner von ihnen will dort sein, der Geschworene Nummer 7 hat sogar Baseballkarten für den Abend und will dies daher so schnell wie möglich hinter sich bringen. Der Fall scheint klar – nur der Geschworene Nummer 8, gespielt von Henry Fonda, hat Zweifel.

Wie Die zwölf Geschworenen ablaufen wird, ist im Grunde keine Überraschung, wohl aber, wie meisterhaft der damals erst 32jährige Regisseur Lumet das Publikum in das Kammerspiel integriert, das bis auf Einleitung und Schluss einzig in dem Beratungsraum der Geschworenen (und der Toilette nebenan) spielt. Die unsägliche Hitze in dem beengten Raum, in dem die Geschworenen kaum alle Platz am langgezogenen Tisch finden, ist spürbar und nimmt nur zu, je erhitzter die Gemüter werden. Für viele steht fest, dass der junge Mann schuldig ist, nur Nummer 8 sagt, er habe Zweifel. Wohlgemerkt nicht, dass der Angeklagte unschuldig sei, sondern lediglich, er wäre sich nicht zweifelsfrei sicher. So versuchen die übrigen elf zu Beginn, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wiederholen nochmals die Zeugenaussagen, lassen sich die vermeintlich einzigartige Tatwaffe bringen und versuchen, sich ein Motiv für den Mord ebenso herzuleiten, wie das Ergebnis des Verhörs des Angeklagten wenige Stunden nach der Tat, das ihn zusätzlich belastet. Doch mit jedem Beweisstück, das vorgestellt wird, kommen mehr Fragen auf, die diejenigen, die den jungen Mann für schuldig erachten, nicht erklären können. Was ist nun aber ein solch begründeter Zweifel? Oder anders gefragt, wie hoch muss die Sicherheit sein, um einen anderen Menschen zum Tode zu verurteilen?

Die zwölf Geschworenen vereint in diesem Besprechungsraum einen Querschnitt der Gesellschaft, Angestellte, Arbeiter, Geschäftsleute und Selbständige aus unterschiedlichen Altersgruppen und unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, sogar unterschiedlicher Herkunft, so dass sich wenigstens einer der Geschworenen mit dem aus den „Slums“ stammenden Angeklagten identifizieren kann. Auch er ist von der Schuld des Täters überzeugt, zumindest anfangs. Denn ist der Zweifel einmal gesät, lässt er sich kaum mehr aus der Welt schaffen. Dabei sind die meisten der anwesenden Männer zwar in ihrer Meinung fest, aber durchaus einer Diskussion aufgeschlossen. Stellen sie ihre Begründungen zu Beginn vor, gibt dies bei vielen einen Einblick in ihre Überzeugungen. Sei es der Geschworene Nummer 1, der die Leitung der Diskussion übernimmt, Nummer 2, der sich die Meinungen anderer vorgeben lässt. Nummer 3 ist hitzköpfig und hat eine zutiefst persönliche Motivation, zu seinem Urteil zu gelangen, wie der Film herausarbeitet. Andere sind analytisch und lassen sich von Fakten lenken, Nummer 7 scheint jedes Ergebnis recht, wenn er zu seinem Baseballspiel kommt, während andere ihre Meinung stets nach der Mehrheit richten.

Durch die Fragen von Nummer 8 entzündet sich eine Diskussion, die, als die verschiedenen Zeugenaussagen wiederholt und Zweifel laut werden, von anderen aufgegriffen wird. Es ist ein konstanter Dialog mit Wendungen und Offenbarungen, der den Fall, der dem Publikum bis dahin ja nicht bekannt ist, nochmals aufrollt und gleichermaßen die Charakterzüge hinter den Geschworenen bloßlegt. Wenn der Geschworene mit seinen unsäglichen, rassistischen Vorurteilen schließlich hervortritt und er von allen, egal, ob sie den Angeklagten für schuldig erachten, oder nicht, ausgegrenzt wird, sie sich körperlich von ihm abwenden, anstatt sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen, ist das der stärkste Moment des Dramas und ein eindringliches Beispiel dafür, wie falsch es ist, zu versuchen, mit denjenigen den Dialog zu suchen, die lediglich an einer Bestätigung ihrer eigenen entmenschlichenden Vorurteile interessiert sind.

So demaskiert Die zwölf Geschworenen in rasiermesserscharfen Dialogen viele verschiedene Teilaspekte unserer Gesellschaft, konzentriert in diesem Mikrokosmos des Beratungsraums die besten und schlimmsten Wesenszüge, die uns als zusammenlebende Spezies ausmachen und zeigt gleichzeitig die Stärke einer Demokratie, in der durch Dialog eine bereits gebildete Meinung korrigiert werden kann. Dem beizuwohnen ist nach wie vor spannend, dabei oftmals amüsant und auf eine das Publikum einbeziehende Weise ermutigend. Einer der wichtigsten und besten Filme, die je gedreht wurden. Auch nach 65 Jahren.


Fazit:
Mit einer so einfachen wie effektiven Technik versetzt Filmemacher Sindey Lumet das Publikum hier unmittelbar in jenen Besprechungsraum mit den zwölf Geschworenen. Anfangs aus größerer Entfernung und von einer erhöhten Position aus eingefangen, werden stets mehrere Männer auf einmal gezeigt. Doch je länger die Beratungen dauern, je hitziger die Diskussionen, umso tiefer gerät der Blickwinkel und umso dichter sind die einzelnen Gesichter in Großaufnahme zu sehen, so dass einem nicht entgeht, wie ihnen allen der Schweiß auf der Stirn steht. Es ist nicht nur, dass das Dialogdrama die besondere Verantwortung der Beteiligten des Geschworenensystems veranschaulicht, durch den Querschnitt der Gesellschaft verdeutlicht Die zwölf Geschworenen, welch vernichtendes Urteil wir alle bereit sind zu fällen, allein auf Grund einer Vorverurteilung, meist basierend auf unseren Meinungen oder persönlichen Werdegangs. Mit seinen geschliffenen, mitreißend dargebrachten Dialogen hält das wortreiche Drama dem Publikum so den Spiegel vor (passenderweise haben die Geschworenen bis kurz vor Ende nicht einmal Namen) und man kann nur hoffen, dass trotz unserer zunehmend polarisierten Gesellschaft immer noch genügend Menschen den Mut haben, auch in Anbetracht lauter Gegenstimmen, zu sprechen und sich Gehör zu verschaffen. Und dass die übrigen zumindest zum großen Teil einsichtig genug sind, auf Argumente zu hören.
Ein gesellschaftliches Lehrstück – und ein zeitloses Meisterwerk.