Die Jagd [2012]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 12. Februar 2014
Genre: Drama

Originaltitel: Jagten
Laufzeit: 115 min.
Produktionsland: Dänemark / Schweden
Produktionsjahr: 2012
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Thomas Vinterberg
Musik: Nikolaj Egelund
Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm, Susse Wold, Anne Louise Hassing, Lars Ranthe, Alexandra Rapaport, Sebastian Bull Sarning, Daniel Engstrup, Bjarne Henriksen


Kurzinhalt:
Nach der schwierigen Scheidung hat Lucas (Mads Mikkelsen) einen Job als Erzieher in einem Kindergarten gefunden. Sein Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm) ist bei seiner Ex-Frau geblieben, möchte aber zu ihm ziehen. Als er seiner Kollegin Nadja (Alexandra Rapaport) näher kommt, scheint sich endlich alles zum Besseren zu wenden. Bis ihn seine Vorgesetzte Grethe (Susse Wold) darüber informiert, dass ein Kind im Kindergarten meinte, Lucas habe sich vor ihm oder ihr entblößt. Erst später erfährt Lucas, dass die Aussage von Klara (Annika Wedderkopp) stammt, der Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen).
Auch wenn er die Folgen dieser Anschuldigung noch gar nicht absehen kann, in kürzester Zeit ist Lucas wieder arbeitslos und wird von der Polizei befragt. Theo glaubt seiner Beteuerung, er sei unschuldig, ebenso wenig wie irgendjemand anders und die gesamte Gemeinde begegnet ihm mit Verachtung. Nur Marcus, der unangekündigt zu ihm kommt, hält zu ihm. Wie soll er beweisen, dass er nichts getan hat? Und selbst wenn, würde es denn, nachdem alle davon überzeugt sind, dass er sich an Klara vergangen hat, noch etwas ändern?


Kritik:
Welcher Polizist, welcher Staatsanwalt kann unbefangen handeln, wenn der Vorwurf eines Kindesmissbrauchs gegen die Person erhoben wurde, die vor einem steht? Regisseur Thomas Vinterberg greift in Die Jagd ein leider immer aktuelles Thema auf, erzählt es jedoch mit einem anderen Hintergrund, als bisher. Entgegen allen Anschuldigungen hat ein Übergriff hier nie stattgefunden – doch wem soll man glauben? Einem erwachsenen Mann mit einer gescheiterten Ehe? Oder dem kleinen Mädchen, das in seiner Obhut war?

Es beginnt alles mit einer kleinen Lüge, die Klara äußert, ohne zu ahnen, was sie damit lostritt. Lucas ist der beste Freund ihres Vaters und ein immer gern gesehener Gast. Er ist außerdem ihr Kindergärtner und beschäftigt sich mit ihr, ganz im Gegensatz zu Zuhause, wo sie allzu oft mitanhört, wie ihre Eltern streiten und ihr großer Bruder Torsten mit seinem Freund in der Pubertät die Pornografie für sich entdeckt hat. Es sind viele Einflüsse, die zusammenkommen und vermutlich weiß Klara gar nicht, was sie sagt, wenn sie der Leiterin des Kindergartens, Grethe, erzählt, Lucas hätte sich vor ihr entblößt. Es ist eine Lüge, die sie auch nicht wiederholt, sondern auf die Fragen der Erwachsenen, die folgen, nur noch antwortet. Dass sie dabei immer schnieft, wenn sie lügt, fällt den Erwachsenen um sie herum nicht auf. Warum sollten sie darauf auch achten?

Nach einer schwierigen Scheidung, bei der sein Sohn Marcus bei seiner Ex-Frau geblieben ist, hat der ehemalige Lehrer Lucas sein Leben gerade wieder im Griff und findet Spaß an seinem Beruf als Erzieher. Sogar sein Privatleben scheint sich zum Guten zu wenden mit Nadja, die ebenfalls im Kindergarten arbeitet. Auch er ahnt vermutlich nicht, was folgen wird, nachdem ihn Grethe mit der Anschuldigung konfrontiert und ihm rät, ein paar Tage Urlaub zu nehmen. Es ist, als würden sie alle in eine Schockstarre verfallen, aus der sie erst langsam wieder erwachen.
Statt Die Jagd als juristisches Drama aufzuarbeiten und zu zeigen, wie Lucas in die Mühlen der Justiz gerät, konzentriert sich der Film auf das persönliche Umfeld von Lucas und begleitet ihn in seiner zunehmend auswegloser werdenden Verzweiflung. Denn nicht nur, dass ein Missbrauchsvorwurf gegen ihn erhoben wird, urplötzlich sprechen alle Kinder im Kindergarten davon, dass er sie missbraucht hätte.

Wer kann den Anwohnern der kleinen Gemeinde ihre Verachtung übelnehmen? Würde man selbst den Unschuldsbeteuerungen des Beschuldigten glauben? Oder würde man sich auf die Aussagen der Kinder verlassen? Und selbst, wenn sie alle von Lucas' Keller erzählen, sein Haus jedoch keinen Keller besitzt, weshalb sollten sich die Kinder so etwas ausdenken? Es könnte ja dennoch etwas Wahres an ihren Aussagen sein.
Nicht nur, dass Lucas seinen besten Freund verliert, nachdem er gerade Fuß gefasst hat, verliert er auch jeglichen Rückhalt in der Gemeinde. Was ihm am Ende bleibt, auch wenn er angeschrien und sogar öffentlich verprügelt wird, ist weiter auf seine Würde zu bestehen. Selbst wenn ihm diese genommen wird.

Durch die ruhige Erzählung wirkt Die Jagd unterkühlt und ist dabei doch aufwühlender, als man sich eingestehen mag. Die Tatsache, dass man weiß, wie haltlos die Anschuldigungen sind, macht es nur noch unfassbarer, wie sehr die Eigendynamik der Situation alles überrollt. Mads Mikkelsen gelingt eine intensive Darbietung, die unter die Haut geht. Und sieht man in den Augen der Erwachsenen, die erkennen, dass sie Lucas zu Unrecht verurteilt haben, ihre stille Scham und ihre Angst davor, was ihr Umfeld von ihnen halten wird, wenn sie sich auf seine Seite stellen, glänzen auch sämtliche Nebendarsteller.

Dabei macht Thomas Vinterberg glücklicherweise nie Klara einen Vorwurf, oder verharmlost die Thematik Kindesmissbrauch generell. Ganz im Gegenteil. Man sollte sein Drama vielmehr als Mahnung sehen, dass gerade bei einer hochsensiblen Thematik sich die Menschen ihre Meinung nicht bilden sollten, ehe alle Beweise auf dem Tisch liegen. Denn was ist der Freispruch eines Richters wert, wenn einen das persönliche Umfeld schon verurteilt hat?


Fazit:
Sieht man, wie sich die Geschichte unaufhaltsam entfaltet, die Situationen ein Eigenleben entwickeln, das sich nicht aufhalten lässt, vergehen die beinahe zwei Stunden bedeutend schneller, als man es von einem Drama erwarten würde. Die Aussage, die Die Jagd am Ende trifft, ist ebenso deprimierend wie glaubwürdig. Man sieht es in Lucas' Blick, dass er sich nie wird sicher fühlen können, dass immer ein Zweifel bei den Menschen bleibt.
Der Weg dorthin ist in ruhigen, erstklassigen Bildern und mit einem Gespür für die unausgesprochenen Details hervorragend erzählt, aber anstrengend. Es ist ein Film, dessen Ende nie zufriedenstellen kann, ganz egal, für welchen Weg er sich entscheidet. Für ein erwachsenes Publikum sehenswert, wirkt Lucas' Schicksal nach und sollte einen daran erinnern, gerade dann unvoreingenommen zu bleiben, wenn es am schwersten ist. Nur wer kann das angesichts dieses Themas ehrlich von sich behaupten?