Die Aussprache [2022]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 31. Januar 2023
Genre: Drama

Originaltitel: Women Talking
Laufzeit: 104 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Sarah Polley
Musik: Hildur Guðnadóttir
Besetzung: Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Ben Whishaw, Frances McDormand, Sheila McCarthy, Michelle McLeod, Kate Hallett, Liv McNeil, Emily Mitchell, Kira Guloien, Shayla Brown, August Winter


Kurzinhalt:

Immer noch umfassender wurden die Übergriffe innerhalb der abgeschieden lebenden Glaubensgemeinschaft gegenüber Frauen. Die Ältesten der Gemeinde haben die Berichte der Opfer anfangs als Einbildung oder Teufelswerk abgetan, selbst die Vergewaltigungen. Bis Täter auf frischer Tat ertappt wurden und weitere Männer genannt haben, die sich an Frauen der Gemeinde vergingen. Während die Männer von der Polizei festgehalten werden, beraten die Frauen, darunter Agata (Judith Ivey), Mariche (Jessie Buckley) und Greta (Sheila McCarthy), was sie tun sollen. Sollen sie bleiben, die Gewalt der Männer vergeben, wie die Ältesten verlangen, oder sollen sie kämpfen, oder gar die Gemeinschaft verlassen, wobei ihnen dann der Zutritt ins Himmelreich verwehrt würde? Salome (Claire Foy) ist dafür, zu kämpfen, ältere Frauen wie Janz (Frances McDormand) wollen die Gewalt weiter erdulden, und Ona (Rooney Mara) will gehen. August (Ben Whishaw), der als Lehrer die Jungen der Gemeinschaft unterrichtet, führt Protokoll bei den Beratungen, die sich in alle Richtungen entwickeln. Doch die Zeit drängt, denn schon bald werden die Männer zurückkehren – und mit ihnen die Gewalt …


Kritik:
Basierend auf dem gleichnamigen, im Jahr 2018 erschienenen Roman von Miriam Toews, erzählt Die Aussprache von den Frauen einer abgeschiedenen, erzkonservativen Religionsgemeinschaft, die von den Männern der Gruppe ausgebeutet und missbraucht werden. Daraufhin finden sich die Frauen in dem Gewissenskonflikt wieder, die körperliche Gewalt als Prüfung zu erdulden, also zu bleiben, gegen ihre Unterdrücker zu kämpfen, oder die Gemeinschaft zu verlassen. Inhaltlich so wichtig wie erschreckend, fällt es schwer, einen Zugang zu den Figuren zu finden. So preiswürdig sie daher auch verkörpert werden, ihr Schicksal nimmt weniger mit, als erwartet.

Inspiriert von den wahren Vorkommnissen einer abgeschlossenen, mennonitischen Glaubensgemeinschaft in den Jahren 2005 bis 2009, ist Die Aussprache keine direkte Nacherzählung. Filmemacherin Sarah Polley hält sich bewusst zurück, was Ort und Zeit ihrer Erzählung anbelangt. Es ist wohl das Jahr 2010, doch an der Kleidung der Figuren kann man das kaum erahnen. Abgeschieden auf dem Land in einer bäuerlichen Gemeinschaft lebend, ohne elektrischen Strom, könnte es heute, vor 50 oder 100 Jahren sein. Daher stellen diese Figuren und ihre Geschichte nicht eine Biografie dar, sie stehen vielmehr stellvertretend für alle Frauen, die unterdrückt werden und Opfer eines von langer Hand geplanten Machtmissbrauchs sind.

Die junge Frau Ona, so vielschichtig wie packend verkörpert durch Rooney Mara, erzählt einen „Akt weiblicher Fantasie“. Ona ist schwanger, wie nie ausgesprochen wird, wurde auch sie wie viele Frauen der tiefgläubigen Kolonie vergewaltigt. Selbst Kinder sind unter den Opfern. Verantwortlich sind männliche Mitglieder, die die Frauen mit Tiernarkosemitteln betäubt und sich dann an ihnen vergangen haben. Anfangs wurden die Berichte der Opfer als weibliche Fantasien oder Teufelswerk abgetan, bis die Täter auf frischer Tat ertappt wurden. Vorübergehend verhaftet, werden sie am nächsten Tag auf Kaution freikommen und bis zum Morgengrauen haben die Frauen der Kolonie Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Darum haben sie einen Rat gebildet, der aus den Frauen mehrerer Familien besteht. Sollen sie bleiben, sich gegen die Männer wehren, oder die Gemeinde verlassen? Sollten sie gehen, so kämen sie – wie ihnen von den Ältesten der Gemeinde prophezeit wird – nicht ins Himmelreich. Manche sind der Meinung, sie müssten vergeben, so wie sie seit Jahren die Übergriffe, die Gewalt ihrer Männer vergeben haben. So wie Frauen es seit jeher getan haben.

„Ist Vergebung, die man uns aufzwingt, wirklich Vergebung?“ Es sind Fragen wie diese, die das kammerspielartige Dialogdrama auszeichnen. Die Aussprache stellt nicht nur diese Figuren vor, es erörtert systemische Abhängigkeiten, die damit beginnen, dass Frauen hier der Zugang zu Bildung verwehrt wird und darin mündet, dass sie emotional zum Ertragen der Gewalt und der Vergewaltigungen erpresst werden. Wem nicht beigebracht wird, zu lesen, wem das selbständige Denken verweigert wird, der wird nie unabhängig sein können. Wird die vermeintlich göttliche Ordnung mit dem Mann an der Spitze hinterfragt, wird man selbst ausgeschlossen, und wer glaubt, Gewalt selbst über sich gebracht zu haben, wird sich nicht gegen die Täter, sondern gegen sich selbst wenden. Es wundert daher nicht, dass die Diskussion der Frauen zwischen ihren verschiedenen Möglichkeiten hin und her pendelt, selbst diejenigen, die für das Weggehen stimmen wollen, Zweifel bekommen. Zu Beginn gar wollen sie noch nicht einmal Gerechtigkeit für das an ihnen getane Unrecht, sie würden nur den künftigen Kurs der Kolonie mit den Männern bestimmen wollen.

All diese Frauen sind Opfer, wie auch der einzige Mann, der Teil des Ensembles ist. Als Lehrer unterrichtet er die Jungen der Gemeinschaft und soll hier Protokoll führen. Dass er in Ona verliebt ist, macht die Situation für ihn nur noch schlimmer. Doch so vielschichtig die Aussagen und so tief traumatisiert die Figuren, die überdies von einer fantastischen Besetzung zum Leben erweckt sind, es fällt schwer, sich in sie hineinzuversetzen und von ihrem Schicksal ergriffen zu sein. Zu wenig greifbar wird, weshalb sie seit Generationen in einer Glaubensgemeinschaft verbleiben, in der sie zum Opferdasein verdammt sind, und zu sehr wird der Glaube als sie erlösendes Mittel weiterhin in den Fokus gerückt. Anstatt das Glaubenskonstrukt insgesamt als ein patriarchisches Machtgefüge zu entblättern, das für den eigenen Machterhalt gleichermaßen auf die Machtlosigkeit wenigstens eines Teils der Gläubigen angewiesen ist, wird dieser Aspekt nicht hinterfragt. So greift Die Aussprache zwar den Missbrauch dieser Figuren auf, aber nur zwischen den Zeilen das System, das ihn in erster Linie ermöglicht. Das ist auch eine verpasste Chance.


Fazit:
Nicht nur durch die dem einfachen Leben in Demut geschuldete Kleidung und Häuser der Glaubensgemeinschaft, auch durch die stark um ihre Farben reduzierte Inszenierung besitzt Sarah Polleys Erzählung vom Schicksal dieser Frauen etwas beängstigend zeitloses. Obwohl die Gewalt selbst nicht gezeigt wird, das Ergebnis zeigt der Film sehr wohl. Sowohl in körperlicher Hinsicht als auch, wie es die Opfer traumatisiert. Dies kann sich darin äußern, dass sie sich in den Glauben geflüchtet ihrem Schicksal ergeben, oder dass sie bereit sind, selbst zu töten, um weiteres Leid zu verhindern. Die Dynamiken des systematischen Machtmissbrauchs erörtert das in wohl überlegten Bildern eingefangene Drama auf geradezu erschreckende Weise. Die Dialoge bringen die verschiedenen Seiten und wie sich die Positionen der Figuren verändern, sie sich gegeneinander richten, hervorragend zur Geltung. Doch so aufwühlend Die Aussprache inhaltlich ist, sie ist nur schwer zugänglich und lässt einen trotz ergreifender Darbietungen wie derjenigen von Rooney Mara oder Claire Foy emotional unterkühlt zurück. Wichtig, gerade auf Grund der inhaltlich universellen Feststellungen, ist es dennoch.