Der weiße Hai [1975]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 2. Juli 2017
Genre: Horror / Drama / Thriller

Originaltitel: Jaws
Laufzeit: 124 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1975
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Steven Spielberg
Musik: John Williams
Darsteller: Roy Scheider, Robert Shaw, Richard Dreyfuss, Lorraine Gary, Murray Hamilton, Carl Gottlieb, Jeffrey Kramer, Susan Backlinie


Kurzinhalt:

Amity ist ein friedvoller Ort. Auf der Insel, die sich im Sommer mit Touristen füllt, geschehen keine nennenswerten Verbrechen, wie sie der früher in der Großstadt tätige Polizei-Chief Martin Brody (Roy Scheider) gesehen hat. Doch eines Morgens wird der Familienvater an den Strand gerufen – die Leiche einer jungen Frau wurde gefunden. Ursprünglich als Opfer eines Hai-Angriffs vom Leichenbeschauer bezeichnet, ändert dieser seine Meinung nach Rücksprache mit dem Bürgermeister Vaughn (Murray Hamilton), der Umsatzeinbußen befürchtet, wenn die Touristen auf Grund der Nachricht ausbleiben würden. Nachdem die nächsten Opfer zu beklagen sind und sich der Meeresbiologe Matt Hooper (Richard Dreyfuss) sicher ist, dass ein weißer Hai für die Attacken verantwortlich zeichnet, macht sich Brody mit Hooper und dem Hai-Jäger Quint (Robert Shaw) auf, das Tier zu töten. Doch dafür müssen sie ein Revier befahren, in dem der Mensch nicht die Krone der Schöpfung darstellt ...


Kritik:
Filmemacher Steven Spielberg ist noch nicht einmal 30 Jahre alt, als er Der weiße Hai auf die Leinwand bringt. In seinem zweiten Kinofilm nach Sugarland Express [1974] kehrt der Regisseur zu dem unterschwelligen Terror zurück, den sein Spielfilmdebüt Duell [1971] bereits ausgezeichnet hat. Statt einem unüberwindbaren Lastwagen ist der Widersacher hier ein großer weißer Hai, der die Bewohner der beschaulichen Insel Amity in Angst und Schrecken versetzt. Das Ergebnis ist nicht nur ein Klassiker, sondern ein Meilenstein des modernen Kinos.

Kaum ein Hai-Horror-Film kommt heute ohne Einstellungen der bedrohlich an der Wasseroberfläche tänzelnden Schwanzflosse des Raubjägers aus. Nicht selten wird dabei noch die ikonische Musik von John Williams eingespielt, der für seine Klänge den Oscar verliehen bekam. Dabei ist die Geschichte denkbar einfach und ebenso schnell erzählt: Die Badestrände von Amity, die gerade während der Sommermonate von unzähligen Touristen heimgesucht werden, auf die die Anwohner angewiesen sind, werden von einem gefräßigen Hai heimgesucht. Zu Beginn will niemand auf den von New York auf die Insel gezogenen Polizei-Chief Brody hören, doch schließlich willigt man ein, den erfahrenen Hai-Jäger Quint zu engagieren, um das Vieh zu erlegen. Dass die drohenden Umsatzeinbußen sogar von den Bewohnern der Insel als schlimmer empfunden werden als der Verlust von Menschenleben, ist dabei eine treffende, aber nicht wirklich neue Gesellschaftskritik.

Was also macht Der weiße Hai so besonders? Dazu zählt zum einen die Besetzung, angeführt von Roy Scheider als wasserscheuer Chief Brody. Er verleiht der Geschichte eine geerdete Perspektive, frei von persönlichen ,finanziellen Interessen. Auf der anderen Seite steht Richard Dreyfuss, der als Hai-Experte und Meeresbiologe angefordert wird, um die Gefahr einzuschätzen. Dritter im Bunde ist Robert Shaw als raubeiniger Seemann Quint, der von einem Moment auf den anderen durchaus sympathisch und dann wieder vollkommen unausstehlich erscheint. Nehmen die drei Männer die Mission auf sich, im letzten Filmdrittel das Tier zu erlegen, wandelt sich interessanterweise auch die Perspektive.
Zuvor zeigt Spielberg immer wieder die Szenerie aus der Sicht des Hais, der sich auf Beutejagd befindet und seine Opfer im Blick hat. Begeben sich die Männer jedoch buchstäblich in seine Gefilde (was mit einer tollen Einstellung der ausfahrenden Orca – Quints Boot – durch das Gebiss eines Hais symbolisiert wird), erleben wir beinahe das gesamte Finale aus ihrer Sicht.

Neben der tollen Besetzung, die für unterschiedliche Blickwinkel auf die Situation steht und durch grundverschiedene Charaktere mit Leben erfüllt wird, zeichnet die überlegte, einnehmende Umsetzung Der weiße Hai aus. An Land versteht es der Regisseur, genau diejenige Perspektive einzufangen, die sowohl das persönliche Empfinden der jeweiligen Figur am besten zum Ausdruck bringt, beispielsweise durch die verschiedenen Fokuseinstellungen, wenn Chief Brody am Strand von Inselbewohnern um Gefallen gebeten wird und gleichzeitig das Geschehen im Wasser im Auge behalten will. Im Wasser nutzt er die Blickwinkel, um die Gefahr für die schwimmenden Bewohner greifbar zu machen, indem das Publikum in die Sicht des Hais gezwängt wird.
Dass er dabei den Hai selbst lange Zeit nicht zeigt, er im besten Fall durch die Flosse angedeutet wird (oder wenn er sich bei etwas festgesetzt hat), ist eine der besten Entscheidungen. Ein Monster, das man nicht sieht, ist bedeutend Furcht einflößender als eines, das ständig im Zentrum steht.

Steven Spielberg erzählt Der weiße Hai behutsam, steigert stets, was auf dem Spiel steht, wenn zuerst einzelne Schwimmer angegriffen werden, später ganze Touristen-Horden den Strand bevölkern, unter denen sich auch Brodys Sohn befindet. Erst dadurch wird der Polizei-Chief aus der Reserve gelockt und begibt sich in die Fänge des Monsters. Inhaltlich ist das alles andere als vielschichtig, aber so atmosphärisch und packend erzählt, dass der Film auch nach über 40 Jahren nichts von seiner Spannung eingebüßt hat.


Fazit:
Anstatt einen Monsterfilm mit namenlosen Opfern zu präsentieren, konzentriert sich Filmemacher Steven Spielberg auf Figuren, die sich von einander grundlegend unterscheiden. Dass er dabei nicht alles erzählt, manches nur andeutet, legt umso näher, dass sie mehr sind als die Momente, die man zu sehen bekommt. Ein gutes Beispiel ist die Szene auf der Orca, als Hooper und Quint ihre Narben vergleichen und Chief Brody nur kurz das Shirt anhebt. Die verheilte Verletzung, die man sieht, wird nicht weiter thematisiert (obwohl der die Figur ist, zu der man den größten Bezug hat und die einen am meisten interessieren würde). Weswegen er wasserscheu ist, nie ausgesprochen – es ist ein Teil des Charakters, den man nur erahnen kann.
Die Bedrohung, der sich die Bewohner von Amity gegenübersehen, ist lange Zeit nur spürbar und darum umso beängstigender. Der weiße Hai lebt von seiner Stimmung, die sich in wenigen Spitzen in blanken Horror verwandelt, der ganze Generationen von Zusehern davor abgeschreckt hat, in freien Gewässern baden zu gehen. Auch dank der prämierten Musik ist der Film ein Meilenstein des Kinos, vielschichtig umgesetzt und mit tollen Darstellern versehen. Ein zeitloses Meisterwerk mit einem (immer noch) herausragenden Finale.