Der Musterschüler [1998]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 17. Juni 2002
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Apt Pupil
Laufzeit: 106 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1998
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Bryan Singer
Musik: John Ottman
Darsteller: Ian McKellen, Brad Renfro, Bruce Davison, Elias Koteas


Kurzinhalt:
1985 - Todd Bowden (Brad Renfro) ist das, was man allgemein unter einem Musterschüler versteht, er hat nur Einsen in der Schule, wird von seinen Mitschülern respektiert und auch die Lehrer stehen auf seiner Seite. Er zeigt großes Interesse an Geschichte, speziell am zweiten Weltkrieg. Vor allem interessieren ihn die Verbrechen, die die Nazis zu jener Zeit begangen haben.
Eines Tages geschieht es, dass er einen alten Mann (Ian McKellen) im Bus erkennt, in dem er einen Nazi-Verbrecher vermutet. Er stellt weitere Nachforschungen an, nimmt sogar Fingerabdrücke vom Briefkasten des alten Mannes und ist letztendlich überzeugt, dass sich hinter dem zurückhaltenden alten Mann der Nazi-Scherge Kurt Dussander verbirgt.
Todd sucht ihn auf und erpresst Dussander damit, seine Informationen an die Presse und die Israelis weiterzugeben, die Dussander liebend gern in die Finger bekommen würden. Im Gegenzug will er, dass Dussander ihm bis ins kleinste Detail von den Konzentrationslagern und allgemein von den Nazi-Verbrechen erzählt.

Widerwillig geht Dussander darauf ein.
Ein Kreislauf beginnt, den früher oder später niemand mehr kontrollieren kann.


Kritik:
Apt Pupil, so der Originaltitel, kam hierzulande gar nie in die Kinos – eine unwürdige Videoveröffentlichung war sein Schicksal. Und das, obwohl sich große Namen hinter dem Projekt verbergen: Bryan Singer, der mit Die üblichen Verdächtigen [1995] einen hervorragenden Thriller ablieferte, führte Regie. Ian McKellen, zuletzt gesehen als Gandalf in Der Herr der Ringe [2001] spielt den Nazi-Verbrecher Dussander, und nicht weniger beeindruckend, Stephen King lieferte mit seiner Novelle, die aus der Sammlung "Frühling, Sommer, Herbst und Tod" stammt, die Vorlage. Aus der gleichen Sammlung waren bereits Stand by Me - Das Geheimnis eines Sommers [1986] und Shawshank Redemption - Die Verurteilten [1994] sowohl erfolgreich, wie auch von Kritikern gewürdigt, verfilmt worden.

Kritiker und Zuschauer waren bei Der Musterschüler jedoch gespalten, als der Film veröffentlicht wurde; für mich liegt der Fall dagegen eindeutig: es ist schon einige Zeit her, dass mich ein Film dermaßen beunruhigt und mitgenommen hat. Nicht nur, dass beide Figuren derart hervorragend verkörpert sind, auch die Art und Weise, wie ihre Beziehung aufgebaut wird und schließlich außer Kontrolle gerät, ist überzeugend und erschreckend zugleich.

Nur eines verstehe ich erneut nicht: Wie die deutsche FSK diesen Film ab 16 Jahren freigeben kann. Nicht nur, dass das Thema eindeutig für Erwachsene gedacht ist, der Film hat auch einige äußerst brutale Szenen, die keines Falls für Jugendliche geeignet sind. Erneut ein Beweis dafür, dass diese Behörde dringendst reformiert gehört.

Zu Beginn des Films scheint der Fall recht klar, der Musterschüler Todd ist fasziniert von den Verbrechen der Nazis und sieht in Dussander (der tatsächlich die Kontrolle über einige Konzentrationslager hatte und für tausende Tote verantwortlich ist) die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, als er sich je erträumen könnte. Obwohl dieser an sich unscheinbare alte Mann anfangs nicht darauf eingehen möchte und immer wieder versucht, es dem Jungen auszureden, beharrt dieser darauf und droht Dussander an, was die Israelis mit ihm machen würden, sollte er die Informationen, die er über ihn gesammelt hat, weitergeben.

Eine wirklich ergreifende Szene hierbei ist für mich diejenige, in der Todd Dussander eine Nazi-Uniform schenkt und ihm befiehlt, sie anzuziehen. Gedemütigt gehorcht der Nazi-Verbrecher und beginnt sogar auf Todds Anweisung hin, auf der Stelle zu marschieren. Anfangs noch unbeholfen und langsam, doch dann erinnert er sich langsam und wird schneller – wenig später merkt Todd, dass Dussander nicht mehr nach seinen Regeln marschiert, sondern Gefallen daran findet. Er muss ihn sogar mehrmals anschreien, damit er wieder aufhört. Dussander fasst die Szene anschließend in dem Satz zusammen "Du solltest nicht mit dem Feuer spielen, Junge", und genau das dachte ich mir ebenfalls. Obgleich Bowden vorher schon Einiges von dem alten Mann erzählt bekam, in dieser Szene hat er das Monster von vor über 40 Jahren erstmals wirklich wieder freigelassen.

Schlimmer noch, er hat in einen für ihn zu tiefen Abgrund geblickt, während er sich die "Geschichten" aus den Konzentrationslagern erzählen ließ – doch ein solcher Abgrund kann nicht aus sicherer Entfernung betrachtet werden und Todd ist schon beinahe hinuntergefallen.

Immer mehr nimmt er Gebärden und Redensarten Dussanders an und entfernt sich so immer weiter von seiner gewohnten Umgebung. Glücklichweise bemerkt er das, als ihn die Bilder und Geräusche, die er sich während den Erzählungen ausdachte, sowohl im Schlaf, als auch am Tag verfolgen. Er will die Beziehung zu Dussander beenden. Aber der erpresst ihn damit, dass er alles aufgeschrieben habe, was Todd von ihm wissen wollte. Dass Todd wusste, wer er war, dass Todd es für sich behalten habe und dass all das in einem Bankschließfach verschlossen sei. Sollte er sterben, würden diese Unterlagen an die Presse weitergeleitet werden und Todds Leben wäre ruiniert.

Dussander dreht den Spieß um und verleiht dem Film so eine neue Richtung.
Ein "Quid pro quo" wird erreicht und ansich könnte dies das Ende der Geschichte sein, doch als Dussander einen Obdachlosen ermordet und Todd zur Hilfe zwingt, da er selbst einen Herzinfarkt erleidet, wird deutlich, wieviel der Schüler tatsächlich von seinem Lehrer übernommen hat.

Kamera und Schnitt sind außergewöhnlich gut gelungen, auch die Musik von John Ottman verleiht dem Film einen düsteren Unterton. Geradezu erschreckend real wird der Nazi-Verbrecher von Ian McKellen verkörpert – dafür wurde er auch mit einigen Preisen ausgezeichnet. Doch auch der junge Todd Bowden, der von Brad Renfro gespielt wird, überzeugt in seiner Rolle voll und ganz. Wie er dem Sog des Bösen verfällt und sich in jeder neuen Situation mit den von Dussander gelernten Mitteln verteidigt, ist ergreifend gespielt. Das geht sogar soweit, dass er seinen ehemaligen Schullehrer erpresst und auf dessen Aussage "Das kannst Du nicht tun" nur antwortet "Sie wissen gar nicht, wozu ich fähig bin".

In der Tat, man weiß es nicht, Todd hat in dem Film vieles getan, was man ihm nicht zugetraut hätte und eben das beunruhigte mich zum Ende hin am meisten: es gibt kein Happy End in dem Sinne und man weiß nicht, was im nachhinein noch alles geschehen könnte. Wie viel hat der junge Todd tatsächlich gelernt, und wozu wird er es einsetzen?

Sicher spielt der Film mit dem alten Klischee, dass Verbrecher aus dieser Zeit ein Leben lang Monster im Schafspelz bleiben. Und das ist auch bei Dussander der Fall, nach über 40 Jahren braucht es nur die Erinnerung und eine Uniform, um all seine Bestialität erneut zutage treten zu lassen.
In Wirklichkeit haben sich einige Nationalsozialisten nach dem Krieg humanitären Organisationen angeschlossen und ihre Taten bereut. Jeder muss für sich entscheiden, ob man ihnen diesen Sinneswandel glaubt oder nicht, für mich war die "Entwicklung" des Kurt Dussander aus einem Verbrecher zu einem unscheinbaren Element der Gesellschaft, bis seine monströse Natur erneut durchbricht, ebenso glaubhaft und nachvollziehbar.


Fazit:
Der Musterschüler überzeugt mit reifen und geradezu fürchterlich glaubhaften Charakterstudien und hat ein solches Nischendasein sicherlich nicht verdient. Atmosphärisch beunruhigend und von allen Beteiligten hervorragend gespielt verliert der Film meines Erachtens in vielen Szenen den Anspruch "Film", da das Geschehen nicht nur real wirkt, sondern real ist. Gleichfalls entwickelt der Film das Verlangen, die Augen nicht vom Gezeigten abzuwenden, obgleich man ahnt und weiß, dass es nur schlimmer werden kann.
Ein sehr guter und beängstigender Film, der meines Erachtens für Erwachsene eine eindeutige Empfehlung ist, mit dem Vorbehalt, dass es seine Zeit braucht, ihn zu verarbeiten.