Das Zimmer der Wunder [2023]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. März 2024
Genre: Drama

Originaltitel: La chambre des merveilles
Laufzeit: 94 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Lisa Azuelos
Musik: Bonjour Meow
Besetzung: Alexandra Lamy, Muriel Robin, Hugo Questel, Xavier Lacaille, Martine Schambacher, Hiroki Hasegawa, Marcel Gitard, Rafi Pitts, Clara Caneshe


Kurzinhalt:

Auch wenn die alleinerziehende Thelma Carrez (Alexandra Lamy) gerade an die Schule ihres 12jährigen Sohnes Louis (Hugo Questel) gerufen wurde, weil dieser eine Prügelei mit einem größeren Schüler begonnen hat, an sich kommen Mutter und Sohn gut miteinander zurecht. Thelma ist beruflich eingespannt und verbringt die Abende mit Lernen für eine mögliche Beförderung. Louis’ Interessen kennt sie kaum. Dann, von einem Moment auf den anderen, wird ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt, als Louis auf der Straße angefahren wird. Die Ärztinnen und Ärzte versetzen ihn ins künstliche Koma, aus dem Louis jedoch auch nach Wochen und Monaten nicht erwacht. Tag für Tag besucht Thelma ihren Sohn im Krankenhaus und kehrt abends in die leere Wohnung zurück. Dort entdeckt sie in Louis’ Zimmer sein Notizbuch, in dem sie nicht nur Zeichnungen findet, von denen Thelma gar nicht wusste, dass Louis solches Talent besitzt, sondern auch Punkte einer Liste, die ihr Sohn erfüllen wollte. Um ihm nahe zu sein und seinen Überlebenswillen zu wecken, macht sich Thelma gegen den Rat ihrer Mutter Odette (Muriel Robin) daran, diese Liste Stück für Stück zu erfüllen. So lernt sie ihren Sohn zwar immer besser kennen, doch das bewahrt sie nicht vor immer neuen Rückschlägen – auch beim Hoffen darauf, dass Louis wieder aufwacht …


Kritik:
Was der alleinerziehenden Mutter Thelma in Lisa Azuelos’ Verfilmung von Julien Sandrels gleichnamigem Roman Das Zimmer der Wunder widerfährt, ist vermutlich eine der schlimmsten Befürchtungen eines jeden Elternteils. Nach einem Unfall, der sich ereignet, als sie kurz abgelenkt ist, fällt ihr 12jähriger Sohn Louis ins Koma. In der Hoffnung, dass sich dessen Zustand dadurch bessern könnte, beginnt sie, Herausforderungen zu absolvieren, die sich Louis vorgenommen hatte. Zu sehen, wie sie nicht nur ihm damit näher kommt, sondern auch mehr über sich selbst erfährt, macht das Drama trotz einiger Klischees unerwartet inspirierend.

Der Augenblick, in dem das Unglück geschieht, könnte alltäglicher kaum sein. Thelma begleitet Louis zu einem Fussballtraining am Wochenende, obwohl dieser den Sport gar nicht mag, sondern lieber Skateboardfahren möchte. Als ihr Vorgesetzter aus dem Warenlager anruft, nimmt Thelma den Anruf an und blickt einen Moment in die andere Richtung, während Louis die Straße quert. Danach ist nichts mehr wie es war. Nachdem Louis ins künstliche Koma versetzt wurde, werden aus Tagen des Bangens Wochen der Ungewissheit, die sich zu Monaten summieren. Eines Abends entdeckt Thelma im Zimmer ihres Sohnes dessen Notizbuch. Zwischen zahlreichen Zeichnungen findet sie die Punkte einer Liste von Dingen, die Louis „vor dem Untergang der Welt erledigen“ wollte. Einen Punkt hat er bereits abgestrichen: er wollte sich mit einem Mitschüler prügeln, was Thelma den jüngsten Zwischenfall in der Schule erklärt. Die anderen Punkte sind weniger rabiat und reichen unter anderem von einem schwer zu beschaffenden Autogramm über ein Graffiti bis hin zu einem besonderen Schwimmerlebnis. Auch möchte Louis seinen Vater kennenlernen.

Obwohl Thelma und Louis ein gutes und fürsorgliches Verhältnis miteinander haben, er sie sogar zudeckt, wenn sie auf Grund der Arbeitsbelastung und den für eine angestrebte Beförderung notwendigen Fortbildungen abends vor Erschöpfung auf dem Sofa einschläft, nachdem sie das Notizbuch gefunden hat, ist es, als würde sie ihren Sohn zum ersten Mal wirklich sehen. Sie beginnt, seine Träume und Wünsche zu verstehen und eine Persönlichkeit zu entdecken, die sie bislang nicht einmal vermutet hat. Glaubt sie, eine Reaktion in Louis’ komatösem Zustand zu sehen, als sie ihm von der Liste erzählt, setzt sie ihre ganze Hoffnung darin, die Liste ihres Sohnes zu erfüllen, in der Überzeugung, er würde daraufhin aufwachen. Die Aufgaben führen sie nicht nur beinahe rund um den Globus, nach Japan, Schottland oder Portugal, sondern auch an ihre persönlichen Grenzen. So muss sie einmal das Gesetz übertreten oder sich ein andermal ihrer größten Furcht stellen. In einem Moment, als Louis für sie unerreichbarer kaum sein könnte, ist Thelma ihrem Sohn doch näher als je zuvor.

Ihr Weg ist dabei nicht gespickt mit dramatisierten Schicksalsmomenten, wie man sie oft in Dramen sieht. Vielmehr bewahrt sich Das Zimmer der Wunder zumindest in den ersten zwei Dritteln eine Natürlichkeit, die einem Thelmas Herausforderungen nur näher bringt. So muss sie ganz normal weiter ihrer Arbeit nachgehen, auch wenn ihr Sohn im Krankenhaus liegt und ungeachtet der Unterstützung ihrer Mutter ist es einzig an ihr, ob sie sich dem Vater ihres Sohnes stellt, oder nicht. Anstatt sich dem Grübeln und Vorwürfen hinzugeben, findet Thelma in der Liste ihres Sohnes eine Aufgabe, die sie den Alltag bewältigen lässt. Filmemacherin Lisa Azuelos kleidet den Weg, den ihre Protagonistin dabei beschreitet, in mitunter malerische Bilder, die von zerklüfteten Küsten bis hin zu schillernden Metropolen reichen. Die Perspektiven sind wohl überlegt, lassen Alexandra Lamy in der alles tragenden Rolle der Thelma sowohl Raum, fangen ihre Zweifel und Verzweiflung aber gleichermaßen tadellos ein.

Zwar fehlt es Das Zimmer der Wunder in gewisser Hinsicht ein wenig an der Dramatik, die dafür sorgt, dass das Publikum mitgerissen wird, doch das bedeutet nicht, dass Thelmas Mission, ihren Sohn dadurch zurück zu holen, dass sie seine „Bucket List“ erfüllt, nicht bewegen würde. Es ist vielmehr ihre Entschlossenheit, trotz der Rückschläge weiterzumachen, die inspiriert und dem Publikum gleichzeitig aufzeigt, wie viel auch interessierte Eltern über ihre Kinder lernen können, wenn man sich mit deren Interessen beschäftigt, anstatt lediglich die eigenen vererben zu wollen. Das stimmt nachdenklich und hoffnungsvoll, selbst wenn die Aussagen, die das Drama darin findet, nicht wirklich neu oder überraschend klingen. Trotz des rührenden Inhalts packt Louis’ Überlebenskampf weniger, als Thelmas Engagement, seinen Willen zum Weiterleben zu wecken. Das schmälert nicht die Aussagen, es erklärt nur, weswegen die Geschichte weniger in Erinnerung bleibt, als man vermuten würde.


Fazit:
Trotz einiger humorvoller Momente, eine Tragikomödie, wie die Vorlage es sein soll, ist Lisa Azuelos’ Adaption des Bestseller-Romans nicht. Auch konzentriert sich die Erzählung auf wenige Punkte von Louis’ Liste, die ausführlich vorgestellt werden, während manche am Ende gewissermaßen in einer Collage zusammengefasst sind. Das resultiert in einer überraschend kurzen Laufzeit, die sich jedoch länger anfühlt. Grund hierfür ist, dass die Erzählung nachvollziehbarer Weise einzig aus Thelmas Perspektive und ihrer Interpretation von Louis’ Wünschen geschieht. Sie lernt die Interessen ihres Sohnes zwar kennen und schätzen, doch es fehlt gewissermaßen ein Gegenpol, von dem aus ihr Engagement gesehen wird. Die Geschichte, bei der einige Aspekte wie Thelmas Vorgesetzter oder eine mögliche Affäre, die ganz am Ende vorgestellt, zuvor aber gar nicht wirklich erwähnt erwähnt oder vorbereitet werden, ist wenigstens bis zum letzten Dritteln geerdet erzählt und speist ihre emotionale Zugkraft aus Thelmas Hoffnung und Entschlossenheit. Dank der guten Besetzung ist es durchaus inspirierend, dem beizuwohnen und die lebensbejahenden Aussagen mit dem zusätzlichen Appell, jeden Tag zu nutzen, hallen spürbar nach. Aber trotz der handwerklich tadellosen und mitunter sogar malerischen Umsetzung fehlt dieser am Ende leider unnötig kitschigen Reise der Selbstentdeckung in Das Zimmer der Wunder ein wenig die bittersüße Note der Tragik, die zwar den Schmerz noch bedrückender, aber die empfundene Freude noch intensiver werden ließe. Ein Publikum in der richtigen Stimmung wird sich dennoch mühelos mittragen lassen.