Borga [2021]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 30. September 2021
Genre: Drama

Originaltitel: Borga
Laufzeit: 104 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: York-Fabian Raabe
Musik: Tomer Moked
Besetzung: Eugene Boateng, Christiane Paul, Lydia Forson, Adjetey Anan, Jude Arnold Kurankyi, Emmanuel Affadzi, Prince Kuhlmann, Ibrahima Sanogo, Joseph Otsiman, Thelma Buabeng, Jerry Kwarteng


Kurzinhalt:

Zusammen mit seinem Bruder Kofi (Jude Arnold Kurankyi) wuchs Kojo (Eugene Boateng) auf der Elektroschrott-Müllhalde Agbogbloshie in der Hauptstadt Ghanas, Accra, auf. Seit jeher wollte Kojo etwas aus seinem Leben machen und seiner Familie dort heraus helfen. Doch obwohl er vor Ort zur Schule gegangen ist, sieht es so aus, als würde er sein Leben damit verbringen müssen, Metalle aus dem Schrott der westlichen Welt zu gewinnen. Als sich ihm die Möglichkeit bietet, nach Deutschland zu fliehen, ergreift er sie. Doch statt eine bessere Zukunft, erwartet ihn dort als illegaler Einwanderer ein Leben auf der Straße. Durch seine Bereitschaft, auch zweifelhafte oder gar illegale Arbeit zu verrichten, kommt er zwar voran und findet in Lina (Christiane Paul) jemanden, die wenigstens das Bild, das Kojo von sich erschaffen hat, akzeptiert, doch als ihn sein Weg zurück nach Ghana führt, muss er erkennen, dass sein Traum nicht nur ihn ins Unglück gestürzt hat …


Kritik:
Mit seinem Drama Borga verleiht Filmemacher York-Fabian Raabe denjenigen Menschen eine Stimme, über die meist nur dann berichtet wird, wenn die Gesellschaft versucht, sie hiervon auszuschließen. Mit einer spürbaren Authentizität erzählt, verhindert lediglich der fehlende inhaltliche Fokus, dass die Geschichte des Ghanaers Kojo, der versucht, in Deutschland Arbeit zu finden und dessen Weg ihn schließlich wieder zu seinen Wurzeln führt, dass der Film wohl ein so großes Publikum ansprechen wird, wie er eigentlich sollte.

Er beginnt an einem Ort, von dem man immer wieder hört oder liest, den aber die wenigsten je gesehen haben: Eine Müllhalde in Accra, Ghana. Dort gewinnen die Menschen, darunter der Junge Kojo, Metall aus Elektroschrott aus dem Rest der Welt. Platinen, Geräte, alles wird von Hand bearbeitet, um die wertvollen Metalle zurück zu gewinnen. Die Gifte, denen sie sich aussetzen, beispielsweise wenn sie den Schrott abbrennen, um Kabelisolierung loszuwerden, nehmen sie in Kauf. Von seinem Vater wird Kojo gerügt, denn er war auf der Müllhalde, anstatt in der Schule zu sein. Kojos Ausrede ist so simpel wie niederschmetternd: Er wollte von dem Geld eine Cola kaufen. Ein Produkt aus eben jener, anderen Welt, die ihm den Schrott vor die Füße wirft. So hart Kojo auch arbeitet, sein Bruder Kofi ist es, der die rechte Hand seines Vaters wird. Jahre später lebt und arbeitet die Familie immer noch auf der Elektroschrott-Müllhalde Agbogbloshie. Doch als sich Kojo die Möglichkeit bietet, flieht er nach Deutschland, in der Hoffnung, es den „Borgas“ gleichzutun. Der Titel gebende Begriff „Borga“ steht für den Onkel, der im Ausland reich geworden ist, und eine Begegnung im Kindesalter hat Kojo diesbezüglich maßgeblich geprägt.

Doch mit der gefährlichen Überfahrt, den langen Routen oder den Verpflichtungen, die Kojo seinen Schleppern gegenüber eingegangen ist, beschäftigt sich Borga nicht. Vielmehr springt die Erzählung weitere vier Jahre nach vorn, als Kojo in Mannheim angekommen ist und auf der Straße lebt. Der Traum vom Reichtum in der westlichen Welt hat sich als eine Illusion entpuppt. Als illegaler Einwanderer darf er nicht arbeiten und nur über einen Zufallskontakt wird er schließlich angestellt – als Schrottsammler, wobei die Container, die er belädt, letztlich wieder nach Ghana gesandt werden. Er ist nun also Teil des Kreislaufs geworden. In Mannheim trifft Kojo auf Lina, aber ob ihre Beziehung außer der offensichtlichen Anziehung tieferer Natur ist, erörtert das Drama nicht. Es ist ein Erzählstrang, der zwar immer wieder aufgegriffen wird, aber letztlich nicht wirklich wichtig erscheint und auch keinen Abschluss findet.
Dafür zeigt York-Fabian Raabe, der hier sein Spielfilmregiedebüt feiert, wie unermüdlich Kojo bemüht ist, Arbeit zu finden, um mit dem Geld, das er verdient, seiner Familie in Ghana ein besseres Leben zu ermöglichen. Er ist bereit, alles zu tun und sein Kontakt in Deutschland, Bo, hat auch eine Sonderaufgabe für Kojo, über deren Inhalt sich der Film lange ausschweigt.

Die Auflösung ist nicht wirklich überraschend, wenn auch unerwartet. Sie zeigt, welche Grenzen Kojo bereit ist, für sein Ziel zu überschreiten. Für seine Aufgabe sendet Bo ihn zurück nach Ghana, wo Kojo nun tatsächlich wie ein Borga auftritt, er aber feststellen muss, dass sich in den Jahren viel verändert hat, selbst wenn alles gleich geblieben ist. Immer noch steckt seine Familie in Agbogbloshie fest, aber nicht alle Familienmitglieder sind noch am Leben. Borga verwendet viel Zeit darauf zu zeigen, wie Kojo in Deutschland mit zweifelhaften Methoden seinen Lebensunterhalt bestreitet und anschließend in Ghana als reicher Gönner auftritt, anstatt sich auch auf den bedeutend interessanteren Aspekt zu konzentrieren, welche Auswirkungen dies auf seine Familie in Ghana hat, wenn dort der Eindruck entsteht, ihr Bruder oder Onkel wäre reich. Dass es gerade hier einen interessanten und auch für Kojos Entwicklung inhaltlich wichtigen Erzählstrang gäbe, beweist das Drama im letzten Drittel. Doch dann sind die Charakterentwicklungen, die Erkenntnisse und Konflikte zu schnell gelöst, zu rasch einem versöhnlichen Ende geopfert, das weder der Hauptfigur, noch denen, die ihn auf seinem Weg begleitet haben, gerecht wird.

Auch blendet das Drama vollkommen aus, ob Kojo nach seiner Ankunft in Deutschland je versucht hat, mit ehrlicher Arbeit Fuß zu fassen. Nur einmal, und das auch erst gegen Ende, sieht man ihn einer „regulären“ Arbeit nachgehen, ansonsten beteiligt er sich daran, illegal Elektroschrott nach Ghana zu verbringen, den die Menschen dort ohne Schutzausrüstung gar nicht sicher verarbeiten können. Die Auswirkungen erfährt er am eigenen Leib.
Trotz einiger verpasster Chancen bleibt Raabes Borga als ein in den Darstellungen des Lebens der Menschen in Ghana ungeschönt raues und gerade deshalb intensives Drama in Erinnerung, dem es trotz toller Darbietungen nicht ganz gelingt, ein breites Publikum anzusprechen. Vielleicht hätte man auch deutlicher unterstreichen können, wie sehr das Verhalten der „entwickelten“ Länder das Schicksal der Menschen dort beeinflusst, wenn sie deren Schrott zerlegen, so dass man sich selbst das Prädikat Recycling-Weltmeister auf die Fahne schreiben kann. Dass eben dieses Verhalten die Menschen dort ihrer Existenzgrundlage beraubt und man sie hierzulande mit einem finanziellen Anreiz wieder in ihre Hoffnungslosigkeit zurücksenden will, wird zwar erwähnt, aber so subtil, dass dies vermutlich den Wenigsten auffallen wird.


Fazit:
Dank preisverdächtiger, starker Darbietungen bis in die Nebenrollen, erzeugt Filmemacher York-Fabian Raabe nicht nur ein Gefühl dafür, wie Kojo zu manchen seiner Entscheidungen gelangt, sondern auch, wie es den Menschen Ghanas auf jener Elektroschrottdeponie Tag für Tag ergehen muss. Sieht man darüber hinaus, was Kojo für seine Familie auf sich nimmt, wie sehr er sich anstrengt und dass all dies schließlich vor seinen Augen in sich zusammenfällt, macht das betroffen. Doch versanden einige Ideen hier und obwohl Kojos Auftreten zurück in Ghana und dessen Auswirkungen auf seinen Neffen für Kojo einen Wendepunkt darstellen sollte, kommen seine Erkenntnisse sehr spät und doch plötzlich. Wiederholen sich manche Darstellungen bis dahin, überschlagen sich im letzten Drittel förmlich die Ereignisse und zuvor wird Vieles von Kojos Reise gar nicht gezeigt oder erwähnt. Darin liegt durchaus erzählerisches Potential brach. Trotzdem: Auf eine erschreckende und unverblümte Art und Weise authentisch sowie stark gespielt, lässt Borga Menschen zu Wort kommen, bevor und nachdem sie für gewöhnlich in den medialen Fokus unserer Öffentlichkeit geraten und ebenso schnell auch wieder daraus herausgetreten sind. Gerade deshalb ist das Drama wichtig und sehenswert.