Begabt - Die Gleichung eines Lebens [2017]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. Juni 2017
Genre: Drama

Originaltitel: Gifted
Laufzeit: 101 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2017
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Marc Webb
Musik: Rob Simonsen
Darsteller: Chris Evans, Mckenna Grace, Lindsay Duncan, Jenny Slate, Octavia Spencer, Michael Kendall Kaplan, John M. Jackson, Glenn Plummer, John Finn, Elizabeth Marvel, Candace B. Harris, Jon Sklaroff


Kurzinhalt:

Seit dem Tod seiner Schwester Diane vor sechseinhalb Jahren kümmert sich der alleinlebende Frank Adler (Chris Evans) um seine Nichte Mary (Mckenna Grace). Inzwischen ist Mary sieben Jahre alt und kein gewöhnliches Kind. Wie ihre Mutter besitzt sie eine besondere Begabung, was insbesondere das Mathematikverständnis anbelangt. Um ihr eine normale Kindheit zu ermöglichen, sorgt Frank dafür, dass Mary eine reguläre erste Klasse besucht, wo auch ihre Lehrerin Bonnie (Jenny Slate) schnell bemerkt, dass Mary etwas Besonderes ist. Durch Bestrebungen der Schulleitung, Mary an eine Schule für begabte Kinder zu verweisen, wird Franks Mutter Evelyn (Lindsay Duncan) auf die Talente ihrer Enkelin aufmerksam. Sie hatte zuvor Diane gefördert und als sie sieht, dass Frank das Potential, das in dem Kind schlummert, nicht nutzen möchte, strengt sie das alleinige Sorgerecht an. Nicht nur finanziell kann sie Mary dabei bedeutend mehr bieten als Frank ...


Kritik:
Nach zwei mehr als durchwachsenen Ausflügen in das Comic-Superhelden-Genre kehrt Regisseur Marc Webb in das Independent-Fach zurück, in dem er mit (500) Days of Summer [2009] seinen preisgekrönten Leinwandeinstand feierte. Wie damals konzentriert sich Begabt - Die Gleichung eines Lebens auf die Figuren in einer Geschichte, die so neuartig gar nicht ist. Dank der beiden Hauptdarsteller, die ein Altersunterschied von 25 Jahren trennt, ist das nicht nur sehenswert, sondern einer der zurückhaltend berührendsten Filme, die dieses Kinojahr bislang hervorgebracht hat.

Im Zentrum der Geschichte steht die siebenjährige Mary Adler, die bei ihrem Onkel Frank in Florida aufwächst. Mary ist etwas besonderes und – wie ihre Mutter vor ihr – ein mathematisches Genie. Als Mary in die Schule geht, erkennt ihre Lehrerin Bonnie das Talent und ist zusammen mit der Schulleiterin bemüht, Marys Begabung entsprechend zu fördern, wogegen sich Frank allerdings wehrt. Weshalb er das tut, hängt mit dem Selbstmord seiner hochbegabten Schwester vor sechseinhalb Jahren zusammen. Als überraschend Marys Großmutter Evelyn, von der sich Frank bereits vor Jahren entfremdet hat, vor der Tür steht und Marys Potential ebenfalls nutzen möchte, droht die kleine Familie auseinanderzubrechen, da Evelyn das alleinige Sorgerecht beantragt.

Kinder in tragenden Rollen im Film einzubinden ist stets ein Wagnis. Dass es gelingen kann, diesen sehr jungen Schauspielerinnen und Schauspielern komplexe Rollen aufzuerlegen, haben zahllose Beispiele wie The Sixth Sense [1999] bewiesen. Es ist dabei nicht selten, dass die erwachsenen Darsteller in den gemeinsamen Szenen versuchen, ausdrucksvoller zu spielen, um den vermeintlich verhaltenen Ausdrucksschatz ihrer jungen Kolleginnen und Kollegen zu kompensieren. Auch deshalb ist es Chris Evans in der Rolle des unfreiwilligen Ziehvaters Frank hoch anzurechnen, dass er genau den entgegengesetzten Weg geht. Er gibt den ruhigen und verschlossenen Frank mit einer in sich gekehrten Ausdrucksweise, dass man selbst in der herzzerreißendsten Minute des Films den Sturm an Emotionen nur unter der Oberfläche toben sieht.

Zusammen mit Mckenna Grace in der Rolle von Mary sind die beiden ein Traumpaar auf der Leinwand. Sie ergänzen sich auf eine so natürliche Art und Weise, dass das Gefühl für das Familienleben von der ersten Minute an überspringt. Mary ist begabt, außerordentlich sogar. In den Szenen, in denen sie mathematische Probleme analysiert und löst, sieht man ihr förmlich an, wie sie die komplexen Zahlen und Gleichungen auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen scheint. Aber trotzdem ist sie ein Kind, ein siebenjähriges Mädchen, das am Strand spielt, mit der von Octavia Spencer fabelhaft warmherzig verkörperten Nachbarin Lieder singt, bei manchen Äußerungen gegenüber Erwachsenen einnehmend naiv erscheint oder eine kindgerechte DVD am Samstagmorgen ansehen möchte.
Mit einem Problem konfrontiert, wirkt Mary fokussiert bis zu einem Punkt, dass sie alles um sich herum ausblendet und es liegt an Frank, sie regelmäßig aus diesem Tunnel zu holen und sie daran zu erinnern, dass sie ein Anrecht auf eine Kindheit hat.

Regisseur Marc Webb nimmt sich einer schwierigen Thematik an, dessen schlimmstmöglicher Ausgang an Mary Mutter Diane aufgezeigt wird. Ihre Mutter Evelyn, deren Beteiligung bei Dianes vielversprechender Karriere im naturwissenschaftlichen Fachgebiet anfangs nicht vollkommen deutlich ist, sieht es dabei als ihre Pflicht an, das Potential des Genies zutage zu fördern. Und sei es nur, um ihrer Tochter oder Enkelin den Platz in den Geschichtsbüchern einzuräumen, der ihr verwehrt blieb, da sie sich auf die Familie statt die Berufung konzentrierte. Viel von ihrer Motivation und der Enttäuschung ihrer Lebensentscheidungen bleibt hierbei in Begabt unausgesprochen und dennoch bringt Lindsay Duncan diese Punkte greifbar zur Geltung. Ihr Monolog bei der Sorgerechtsverhandlung ist einer der besten Momente des Films, ebenso wie ihre letzte Aussprache mit Frank, in der sie die Bedeutung seiner Offenbarung in ihren Grundfesten sichtbar erschüttert. Es ist eine bemerkenswerte Darbietung.

Es gelingt dem Filmemacher in eben jenen Momenten, den Figuren eine Tiefe zu verleihen, die die leichtfüßige Erzählung oft vergessen lässt. Dabei konzentriert er sich in zwei Szenen auf so subtile Weise auf seine Charaktere, dass man es beinahe übersehen könnte. In den Einstellungen zeigt er einmal Mary und später Frank, auf die die Perspektive stets gerichtet bleibt, während sie sich – in ihre eigenen Gedanken vertieft – mit den anderen Personen unterhalten, die unscharf und halb außerhalb des Bildes zu sehen sind. Die tolle Inszenierung, zu der einmal mehr ein wohl ausgesuchter, passender Soundtrack gehört, zeigt eindrucksvoll, dass dem Regisseur persönliche Geschichten sichtbar eher liegen als belanglose Unterhaltung mit großen Budget und wenig Inhalt. Es ist auch für das Publikum ein lohnenswerterer Kinobesuch.


Fazit:
Auch wenn die Geschichte nicht die High Society der amerikanischen Bevölkerung widerspiegelt und insbesondere Frank als geerdeter Handwerker, der sich in Florida seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er Boote repariert, und somit als alltäglichen Jedermann darstellt, die Umstände der Familie sind es nicht. Vor allem Franks Entscheidung, seinen Lebensmittelpunkt so radikal nach dem Tod seiner Schwester zu verändern ist in mancherlei Hinsicht nicht ganz nachvollziehbar. Es ist ein kleiner inhaltlicher Kritikpunkt an einer Geschichte, die sich mit der entscheidenden Frage befasst, ob es die richtige Entscheidung ist, ein hochbegabtes Kind von kleinauf zu fordern und zu fördern, oder es in gewisser Hinsicht auszubremsen, um ihm eine normale und erfüllende Kindheit zu ermöglichen. Dass die Aussage von Begabt - Die Gleichung eines Lebens gelingt, liegt an den bemerkenswerten und hervorragenden Darstellerleistungen, allen voran von Mckenna Grace und Chris Evans, die sowohl den Konflikt als auch die Facetten dieser außergewöhnlichen Begabung zum Ausdruck bringen, ohne vergessen zu lassen, dass Mary immer noch ein Kind ist.
Dem beizuwohnen ist berührend, aber nicht rührselig, dabei überraschend humorvoll mit einem fantastischen Highlight mit der grundsympathischen Jenny Slate als Marys Lehrerin Bonnie. Das letzte Drittel wartet mit einigen emotional kräftezehrenden Momenten auf und findet dabei doch einen gelungenen Abschluss. Ein starker Film, der Mut macht. Für beide Seiten.