All of Us Strangers [2023]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 27. November 2023
Genre: Drama / Liebesfilm / FantasyOriginaltitel: All of Us Strangers
Laufzeit: 105 min.
Produktionsland: Großbritannien / USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt
Regie: Andrew Haigh
Musik: Emilie Levienaise-Farrouch
Besetzung: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy, Carter John Grout, Ami Tredrea
Kurzinhalt:
Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) lebt allein in einer Wohnung im fast verlassenen Hochhaus in London. Zufällig begegnet er bei einem Feueralarm dem ebenfalls alleinlebenden Harry (Paul Mescal). Sie kommen sich näher und stellen fest, dass sie beide ähnliche Erfahrungen in ihrem direkten Umfeld machen mussten, das nicht akzeptieren konnte, oder gar nicht wusste, dass sie schwul sind. Harry fühlt sich seither in der eigenen Familie noch stärker ausgegrenzt, Adam wurde bereits als Kind gehänselt. Er verlor seine Eltern, als er zwölf Jahre alt war, doch nun, da er an einem Drehbuch schreibt, das seine Erfahrungen widerspiegelt, sucht er sein Elternhaus auf und trifft dort auf seine Mutter (Claire Foy) und seinen Vater (Jamie Bell), die keinen Tag gealtert sind seit seiner Kindheit. Es könnte die Möglichkeit für Adam sein, sich mit ihnen auszusprechen, doch reißen die Gespräche alte Wunden wieder auf, die nie verheilt waren …
Kritik:
Inwieweit Andrew Haighs Adaption die Aussage von Taichi Yamadas Roman Sommer mit Fremden [1987] repräsentiert, sei dahingestellt. Für sich genommen erzählt er in dem gleichermaßen stark gespielten wie traumähnlich bebilderten All of Us Strangers eine berührende Story über Trauer und wie sehr sie uns in unserer Entwicklung beeinflusst. Lässt man sich darauf ein, gibt es viele feine Beobachtungen zu entdecken, selbst wenn weder die Geschichte an sich, noch die Art, wie sie erzählt ist, einem breiten Publikum zugänglich wird.
In deren Zentrum steht Drehbuchautor Adam, der in London in einem beinahe leerstehenden Hochhaus wohnt, das gewissermaßen die Einsamkeit repräsentiert, die er verspürt, oder erträgt. Selbst wenn er mit dem Nahverkehr in die Vororte hinausfährt, er hat kaum Kontakt mit anderen Menschen. Da es ihm schwerfällt, einen Einstieg in sein neues Drehbuch zu finden, sucht er sein Elternhaus auf, in dem er vor mehr als zwanzig Jahren gelebt hat, ehe er nach dem Unfalltod seiner Eltern zu seiner Großmutter gezogen war. In jenem Haus besucht er seine Eltern, die keinen Tag gealtert sind und auch wissen, dass Adam ohne sie aufwuchs. In ihren Gesprächen nähern sie sich Adams heutigem Leben an und welche Ereignisse und Entscheidungen seiner Eltern ihn dorthin geführt haben. Stellen sie einen Blick zurück dar, gibt es in Adams Leben auch einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft, denn in dem gleichermaßen einsamen Harry, der im selben Hochhaus wohnt wie er selbst, findet Adam nicht nur eine verwandte Seele, sondern auch einen Partner. Der hat jedoch wie Adam mit eigenen Dämonen zu kämpfen.
Fühlte sich Harry als Homosexueller seit jeher ausgegrenzt, hat diese Isolation seit seinem Coming-out sogar in der eigenen Familie Einzug gehalten. Es ist eine Erfahrung, die Adam nicht teilen kann, verstarben seine Eltern, bevor er seine sexuelle Identität entdeckte. Doch erzählt er nun seiner Mutter beim Besuch des Elternhauses davon, spiegelt ihre Ablehnung seine insgeheime Befürchtung wider. Sein Vater scheint dabei verständiger, doch unter der Oberfläche kommen in den schneidend pointierten Dialogen Narben zum Vorschein, die Adams Seele seit seiner Kindheit zeichnen.
Wie nehmen Kinder, die gerade beim Aufwachsen sich selbst und ihres Körpers nicht sicher sind, Bemerkungen der wichtigsten Bezugsmenschen in ihrem Leben auf? Wie sehr prägt einen die fehlende Akzeptanz, oder schlimmer noch, die Zurückweisung? All of Us Strangers nähert sich diesen Fragen mit einer fantasylastigen Story an, die man schlicht akzeptieren muss, um sich ganz darin fallen lassen zu können.
Dass die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen, ahnt man bereits früh, wie austauschbar beide Ebenen miteinander sind, wird aber erst spät deutlich. Eine Erklärung, wie es sein kann, dass Adam regelmäßig sein Elternhaus aufsucht und sich in Gesprächen mit seiner Mutter und seinem Vater verstrickt, die vor Jahrzehnten gestorben sind, liefert das Drehbuch nicht. Das weshalb ist nicht wichtig, sondern vielmehr, was man in diesen Gesprächen über Adam erfährt. Beinahe reflexartig fragt ihn seine Mutter, nachdem Adam ihr erzählt er sei schwul, ob er denn nicht heiraten und Kinder bekommen wolle. Es ist ein Gedanke, der für ihn bis dahin kein Ansporn ist. Eine positive Bestätigung seiner Eltern erhält Adam nicht, vielmehr gesteht sein Vater ihm, dass er ihn als Kind in der Schule wohl ebenfalls gehänselt hätte, wie es Adam widerfahren ist. Die Aussage ist gleichermaßen eine Erklärung dafür, weshalb sich Adam seinen Eltern nie anvertraut hat. Im Ergebnis ist er als Erwachsener allein und findet erst durch Harry Vertrauen und Zugang zu anderen.
In beiden Männern zeichnet All of Us Strangers Porträts tief verletzter Seelen, die mit ihrem Schmerz und dem Verlust auf unterschiedliche Weisen umgehen. Hat sich Adam zurückgezogen, verbringt die Tage, an denen er nichts zu Papier bringt, vor dem Fernseher, greift Harry zu Alkohol und Drogen. Beide könnten einander helfen, sich gegenseitig den Halt geben, der ihnen bislang gefehlt hat, wenn es ihnen gelingt, jeweils zuerst einen Abschluss der vielen offenen Enden ihrer Vergangenheit zu finden. Filmemacher Andrew Haigh fängt die Suche nach ihrem jeweiligen Selbst in geradezu meditativer Ruhe und mit Bildern ein, die ebenso wohl ausgesucht sind, wie sie die Grenzen zwischen der wirklichen Welt und Adams Vorstellungen verschwimmen lassen. Doch da nie ganz klar wird, was wirklich ist und was nicht, macht dies Adams Reise schwer zugänglich. Umso mehr, wenn die Geschichte keine Erklärungen für viele Fragen liefert. Lässt man sich jedoch darauf ein, packen die durchweg sehenswerten Darbietungen, von denen diejenigen von Andrew Scott als Adam und Paul Mescal als Harry am meisten hervorstehen. Insbesondere Scotts ergreifende Verkörperung ist preiswürdig und nimmt selbst dann mit, wenn die Erzählung das Publikum ein wenig ratlos zurücklässt.
Fazit:
Viele Beobachtungen, die Filmemacher Andrew Haigh seine Figuren äußern lässt, treffen das Publikum unmittelbar. Sei es ein Vater, der seinen Sohn nicht tröstet, den er weinen hört, wenn Adam gesteht, er habe „auch“ schöne Erinnerungen an seine Kindheit, oder dass sich „queer“ höflicher anhöre als „schwul“, weshalb sich schwule Männer lieber als queer outen. Eingebettet sind sie in eine Geschichte, die unter anderem die Frage stellt, wann es nach einem schrecklichen Verlust an der Zeit ist, loszulassen. Nach einem Jahr, nach zehn oder 20? Die Erfahrungen seiner Kindheit, das fehlende Verständnis, selbst, wenn es nicht ausgesprochen, aber suggeriert wurde, haben Adam seit seiner Kindheit geprägt. Umso mehr hofft er nun, in den Gesprächen mit seinen Eltern auf einen Abschluss all dieser Gefühle. All of Us Strangers ist ein stark gespieltes und toll bebildertes Drama über Trauer und Isolation, wie sie die eigene Identität prägen ebenso, wie all diejenigen Dinge, die unausgesprochen bleiben und uns deshalb verfolgen. Es ist eine zutiefst emotionale Geschichte, deren abstrakter Fantasytouch eine breite Zuschauerschaft kaum ansprechen wird. Doch für ein Publikum in der richtigen Stimmung, ist dies ein kathartisches Porträt, das lange nachwirkt.