A Thousand and One [2023]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 3. Mai 2023
Genre: Drama

Originaltitel: A Thousand and One
Laufzeit: 117 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: A.V. Rockwell
Musik: Gary Gunn
Besetzung: Teyana TaylorAaron Kingsley Adetola, Aven Courtney, Josiah Cross, Will Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds, Amelia Workman, Adriane Lenox, Gavin Schlosser, Jolly Swag, Azza El, Alicia Pilgrim


Kurzinhalt:

Ein Jahr, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, trifft die impulsive Inez de la Paz (Teyana Taylor) eine folgenschwere Entscheidung. Nachdem der sechsjährige Junge Terry (Aaron Kingsley Adetola / Aven Courtney / Josiah Cross) sich bei seiner Pflegefamilie verletzte, eröffnet sie ihm, dass er ihr Sohn ist und holt ihn zu sich. Die Pflegefamilie weiß hiervon jedoch nichts. Sie haben keine Bleibe, Inez auch keine geregelte Arbeit. Gegen alle Widerstände gelingt es ihr, sich ein kleines Zuhause aufzubauen. Mit Lucky (Will Catlett) tritt auch ein neuer Mann in ihr Leben, der zu Beginn für Terry jedoch keine Vaterfigur sein will. Jahre vergehen, in denen Terry aufblüht, Inez und Lucky ihre Beziehung festigen wollen. Doch mit der erhöhten Polizeipräsenz, die in anlasslosen Kontrollen mündet, denen auch Terry zum Opfer fällt, droht seine Identität aufzufliegen. Dabei steht Inez vor der schweren Entscheidung, ob Terry weiterhin zurückhaltend sein soll, um nicht aufzufallen, oder er sein Potential entfaltet für eine Förderung und einen Platz an der High School sowie dem College …


Kritik:
Das Spielfilmregiedebüt von A.V. Rockwell, zu dem die Regisseurin auch das Drehbuch liefert, vermittelt eine Authentizität, dass man meinen könnte, es wäre eine Biografie. Doch das Drama ist letztlich mehr am Charakterportrait seiner Protagonistin interessiert, als daran, ihre Geschichte zu erzählen. Auch deshalb wird es A Thousand and One trotz starker Darbietungen schwer haben, ein größeres Publikum zu finden. Das bedeutet nicht, dass was der Film beabsichtigt, ihm nicht gelingen würde.

Im Jahr 1994 sitzt die 21jährige Inez de la Paz in einem Gefängnis im New York City Stadtteil Bronx ein. Ein Jahr später ist sie wieder frei und als Gelegenheitsfrisörin tätig. Sie hat den Traum eines eigenen Salons, doch dafür fehlen ihr die Mittel. Als sie erfährt, dass der Junge Terry, der bei Pflegeeltern aufwächst, sich verletzt hat, besucht sie ihn im Krankenhaus. Terry, das macht Inez’ deutlich, ist ihr Sohn, und sie beide endlich wieder vereint. Um den Jungen zu beschützen, beschließt sie, ihn mitzunehmen, ohne dass die Pflegeeltern oder sonst irgendjemand davon weiß. Einen Plan, wie es weitergehen soll, hat sie nicht. Sie stehen auf der Straße, kommen an verschiedenen Orten unter. Inez’ aufbrausende Art verschreckt selbst Terry, der sich immer weiter zurückzieht. Durch ihre Beharrlichkeit und ihren Willen, findet Inez schließlich eine Unterkunft und einen Job. Es geht aufwärts, mit Höhen und Tiefen. So kann Terry anfangs nicht zur Schule gehen, da sie zuerst Papiere fälschen lassen müssen, damit seine wahre Identität nicht auffällt. Mit Lucky tritt ein neuer Mann in Inez’ Leben – und in Terrys. Doch will Lucky kein Vater für den Jungen sein.

Über diesen Abschnitt allein könnte A Thousand and One eine eigene Story erzählen. Wie Inez und Terry aufblühen, sich ihr Leben zum Besseren wandelt, was sich auch daran widerspiegelt, wie die Wohnung mit der Nummer 1001 erstrahlt. Doch Regisseurin Rockwell springt in der Geschichte weiter, zeigt wohin sich das Leben ihrer Protagonistin im Jahr 2001 entwickelt, wenn die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner zunimmt. Terry, der so klug ist, dass er sogar auf eine Begabtenschule gehen könnte, ist davor nicht gefeit und Inez fürchtet den Tag, an dem Terrys wahre Identität entdeckt wird. Dabei will sie, die sie selbst ebenfalls bei einer Pflegefamilie aufwuchs, wie auch Lucky, Terry lediglich das Leben ermöglichen, das sie nie hatten. Es wäre ein Moment, in dem das Drama ein Happy End finden könnte, denn mit dem nächsten Sprung ins Jahr 2005, wenn Inez’ und Luckys Beziehung zu scheitern droht, wenn gesundheitliche Beschwerden hinzukommen und diese Familie, ihr Zuhause, wo ihr Ankerpunkt ist, Opfer der Gentrifizierung werden, beginnt ihre Welt buchstäblich zu zerfallen.

Der Kampf, den Inez jeden Tag kämpft, gegen alle (auch systemische) Widrigkeiten, für Terry und sich, wird dabei greifbar, selbst wenn A Thousand and One nicht ansatzweise alles ausspricht und das Meiste ungesagt bleibt. Umso mehr verlangt sie von Terry, dem sich Chancen eröffnen, diese auch zu nutzen. A.V. Rockwell gelingt ein Plädoyer für das Muttersein als ein Kampf gegen Windmühlen, selbst wenn es bedeutet, dass Inez selbst in diesem Leben nicht im Mittelpunkt steht. Von Teyana Taylor ist das fantastisch und vielschichtig zugleich gespielt. Als der 17jährige Terry bringt Josiah Cross hingegen toll zur Geltung, vor welchem Scherbenhaufen er steht, wenn sein Leben letztlich vor seinen Augen in sich zusammenfällt. Beides ist beeindruckend verkörpert, doch insbesondere in Bezug auf Inez gelingt es dem Drama besser, ihre Figur zu porträtieren, als ihre Motivation herauszuarbeiten. Voller Beobachtungen der persönlichen Momente dieser Charaktere, auch zwischen Terry und Lucky, vermisst man dennoch eine charakterliche Entwicklung, die offenbar in der Zeit erfolgt, die jeweils übersprungen wird. Man sieht Inez in Anbetracht der Einflüsse reagieren, versteht aber kaum, weshalb sie so agiert, wie sie es tut.

Handwerklich ist dies geradezu dokumentarisch zum Leben erweckt. Dicht an den Figuren und mit einer Authentizität, auch bei den Szenen der Stadt im Wandel von nur 10 Jahren, dass es den biografischen Charakter nur unterstreicht. Erwartet man jedoch eine emotionale Reise dieser Figuren, wird man enttäuscht. Zu wenig sind ihre Entscheidungen greifbar, zu sehr verbleibt man selbst distanziert. So behält der Film zwar eine Überraschung, doch je weniger man in die Figuren investiert ist, umso weniger nimmt diese Entwicklung tatsächlich mit. Als Charakterzeichnung selbst ist A Thousand and One überaus gelungen, selbst wenn die Darbietung stärker packt als die Figur dahinter.


Fazit:
Schon auf Grund der Thematik an sich und des Gesellschaftsbildes, das Filmemacherin A.V. Rockwell zeichnet, wird es ihr in vielerlei Hinsicht eindrucksvolles Drama schwerhaben, hierzulande ein Publikum zu finden. Hinzu kommt, dass bei der Erzählung nicht die persönlichen Entwicklungen der Figuren im Vordergrund stehen. Mit Themen wie dem unbändigen Kampf einer Mutter, die sich im Zweifel der ganzen Welt stellt, die in Bezug auf ihre Wohnung ein Opfer äußerer Einwirkungen wird, wie es Terry beinahe Zeit seines Lebens ist, trifft die Geschichte bei vielen Punkten den Nagel auf den Kopf. Die Darbietungen sind beeindruckend und so vielschichtig wie die Charaktere selbst. Deren Porträts, vor allem Inez’, stehen im Vordergrund. A Thousand and One ist ein stark gespielter und handwerklich tadellos umgesetzter Film für ein kleines, spezielles Publikum. Das findet hier einen größeren Facettenreichtum, als man im ersten Moment erwarten würde. Nur wirklich packend ist das selten.