Sergej Lukianenko: "Wächter des Tages" [2000]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. März 2006
Autoren: Sergej Lukianenko, Wladimir Wassiljew

Genre: Fantasy

Originaltitel: Dnevnoy Dozor
Originalsprache: Russisch
Gelesen in: Deutsch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 526 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Russland
Erstveröffentlichungsjahr: 2000
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2006
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 3-453-53200-7


Kurzinhalt:
Das Zwielicht ist so alt wie das Universum selbst, es ist eine Zwischenwelt, unterteilt in viele, tiefere Schichten, die den normalen Menschen verborgen bleiben. Die Anderen unter den Menschen besitzen viele Gaben, es gibt Magier, Vampire, Hexen und vieles mehr – sie haben die Fähigkeit, in das Zwielicht einzutreten. Gespalten sind die Anderen in die Lichten, die ihr Dasein dem Wohle der Menschen gewidmet haben, und in die Dunklen, die auf das Recht der Selbstbestimmung und der Freiheit beharren und nicht davor zurückschrecken, die Menschen für ihre Zwecke einzusetzen. Vor Jahrhunderten schlossen die Mächte des Lichts und der Finsternis einen Waffenstillstand und gründeten die Wachen; die Nachtwache der Lichten sorgt für die Einhaltung eines großen Vertrages durch die Dunklen, die Tagwache der Dunklen tut selbiges bei den Lichten.
Nach dem Kampf zwischen der Tag- und Nachtwache Moskaus vor einigen Monate, wurde das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Lichten verschoben. Mit Swetlana wurde eine starke Magierin geschaffen, und auch der Lichte Anton Gorodezki ist über seine Fähigkeiten hinausgewachsen. So wundert sich die dunkle Hexe Alissa Donnikowa nicht, als ihr ehemaliger Geliebter und das Oberhaupt der Moskauer Tagwache, Sebulon, sie in ein Ferienlager schickt, um dort zu Kräften zu kommen, nachdem sie sich bei einem Einsatz völlig verausgabte; sie hatte Sebulon bei der letzten Operation der Tagwache, die unter anderem durch Gorodezki vereitelt wurde, schwer enttäuscht. Doch ihr Schicksal hängt ebenso wie das von Swetlana, das von Igor Teplow, den sie im Lager kennen lernt und das von Anton Gorodezki mit den großen Plänen von Sebulon und Geser, dem Leiter der Nachtwache, zusammen. Auch der stetig mächtiger werdende Andere Witali Rohosa, der sich weder an sein Leben als Anderer, noch an seine Bestimmung erinnern kann, aber von einer inneren Kraft angetrieben wird, ist in Ereignisse verwickelt, die letztlich ein viel umfassenderes und gefährlicheres Szenario vorbereiten ...


Kritik:
Ob der russische Vielschreiber und Starautor Sergej Lukianenko durch den internationalen Erfolg der Filmumsetzung seines Kultromans Wächter der Nacht [1998] beflügelt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen – in diesem Jahr erweitert er seine Trilogie um die Anderen, unterteilt in Dunkle und Lichte, die sich seit Jahrtausenden bekriegen, um einen weiteren Band, der übersetzt in etwa "Die letzte Wache" lautet und das Epos zur Tetralogie anwachsen lässt.
Hierzulande ist indes inzwischen der zweite Teil, Wächter des Tages, erschienen, der die Geschichte um Anton Gorodezki, die Nacht- und die Tagwache weiterführt und dabei bislang nicht einmal angedeutete neue Schichten des ewig währenden Konflikts aufdeckt, sein Fantasy-Universum um zahlreiche neue Details erweitert und doch dem Stil seines Millionenbestsellers weitgehend treu bleibt.

Inhaltlich knüpft Autor Sergej Lukianenko dabei einige Zeit nach den Ereignissen des ersten Buches an und verschafft dem Leser dabei einen tiefen Einblick in die Gepflogenheiten der anderen Seite des großen Konflikts, der Tagwache. Was allerdings weit mehr verwundert ist die Tatsache, dass der Autor den beiden Parteien auch Züge verleiht, die bislang höchstens angedeutet waren, bei denen hier allerdings davon ausgegangen wird, dass sie schon immer Bestand hatten. So werden sowohl der Nachtwache, als auch den Wächtern des Tages Charakterzüge wie ihre Güte und ihre Unfähigkeit, zu hassen (bei den Wächter der Nacht), verliehen, die man in dem Maße bislang nicht einzuschätzen vermochte.
Der Blick hinter die Kulissen der Tagwache ist dabei insofern nicht ganz so überraschend geraten, wie bei Wächter der Nacht auf der Gegenseite, als dass der letztliche Ausgang aller Intrigen die vorgefertigte Meinung der Leser mehr oder weniger bestätigt, anstatt sie neu zu definieren. Dennoch gibt sich Lukianenko einmal mehr sehr viel Mühe, die Schwarz-Weiß-Malerei zu beenden und dem Leser aufzuzeigen, dass auch die Welt der Anderen aus vielen nuancierten Grauschichten besteht. Die Konfrontationen zwischen Lichten und Dunklen stellen dabei selbstverständlich die Höhepunkte dar und gerade das gemeinsame Abendessen zwischen Edgar und Anton in der letzten Geschichte fesselt den Leser und lässt die Seiten wie im Flug vergehen.
Ganz so verhält es sich allerdings nicht mit allen Geschichten, denn während die Schilderung des unbekannten Fremden im zweiten Abschnitt überaus faszinierend geraten ist und ungeahnte Facetten am Zwist der beiden Seiten der Anderen offenbart, ist der Auftakt von Wächter des Tages mit der Erzählung um Alissa Donnikowa und Igor Teplow sehr gemächlich geraten. Sie spielt zwar im weiteren Verlauf eine große Rolle, scheint aber angesichts der Umstände zu "gewöhnlich" und "alltäglich", vor allem aber zu lang geraten.
Davon abgesehen erweitert Lukianenko die Mythologie um die Anderen um zahlreiche neue Elemente, bringt dabei aber auf Grund der geänderten Blickwinkel nur wenig die bekannten Figuren voran. Die Story selbst macht indes den Eindruck, als wäre sie Teil der gesamten Reihe und kann weit weniger als noch der erste Teil für sich allein gestellt werden. Das merkt man nicht zuletzt am Schluss des Buches, das in medias res abbricht, den Leser aber dennoch überraschenderweise ohne einen Cliffhanger oder eine packende Prämisse für den dritten Band zurücklässt.

Dementsprechend ist auch der grundsätzliche dramaturgische Aufbau des Romans schwer einzuschätzen, denn während die zweite Geschichte nicht nur spannend erzählt ist, sondern auch mit einem überzeugenden, zugespitzten Finale aufwarten kann, verhält es sich gerade beim letzten Teil des Buches anders: Nach einem stetigen Aufbau auf einen Prozess vor der Inquisition scheint das Ende buchstäblich antiklimaktisch, endet, noch bevor eine in irgendeiner Form bedrohliche Situation entstehen hätte können und löst dabei einen Spannungsbogen, der immerhin seit der ersten Seite vorbereitet wurde, überraschend trivial auf – nämlich mit der Aussicht, dass die wahren Ereignisse des Buches später ihren Höhepunkt finden werden.
Es scheint in gewissem Sinne der Fluch der meisten Trilogien, dass der zweite Teil trotz wichtiger und für den späteren Verlauf unabdingbarer Handlungsteile für sich genommen nur wenig überzeugen kann, wenn es um eine packende Erzählung geht. Ohne einen rechten Beginn oder einen richtigen Abschluss hängt Wächter des Tages zwischen zwei Geschichten, die den Roman letztlich definieren werden. Einen endgültigen Eindruck kann man sich, auch vom dramaturgischen Standpunkt aus, erst bilden, wenn das Epos seinen Abschluss findet.

Um seine Figuren kümmert sich Sergej Lukianenko dabei einmal mehr sehr intensiv, wobei im Gegensatz zu Wächter der Nacht andere Figuren in den Mittelpunkt gerückt werden, die dabei aber weniger als richtige Persönlichkeiten eingeführt werden – das wird letztlich dadurch untermauert, wie viele der behandelten Hauptpersonen am Ende noch zu den beiden Lagern gehören – als vielmehr als Prototypen bestimmter Figurengruppen. Anhand ihrer Entwicklung zeigt der Autor, wie das Machtgeplänkel und das ständig über den Köpfen der Wachen klirrende Damokles-Schwert ihre Handlungen und ihre Entscheidungen, aber auch ihre Entwicklung in der Vergangenheit wie in der Gegenwart beeinflusst, und dass sie gleichwohl Teil des großen Vertrages sind, doch nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Charakterisierungen sind Lukianenko dabei sehr gut gelungen und bringen jeweils die Motivation der Figuren zum Ausdruck – wobei die Leiter der jeweiligen Wache, Sebulon und Geser, nach wie vor in ihrem Handeln mysteriös erscheinen. Auch bereits aus dem ersten Buch bekannte Nebenfiguren dürfen in dem zweiten Band der Reihe in Aktion treten, wenngleich meist weniger gefordert und bei manchen mit einem ansich unwürdigen Abgang. Doch auch wenn der Leser lange Zeit auf das Auftauchen von Anton Gorodezki warten muss, findet Sergej Lukianenko noch die Zeit, auch ihm neue Impulse mit auf den Weg zu geben.
Welchen Ansatz der Autor für sein drittes Buch, Wächter des Zwielichts [2003] wählt, wird überaus interessant und aufschlussreich über seine gesamte Herangehensweise sein.

Sprachlich dürften Neueinsteiger einmal mehr die Perspektivenwechsel und die ungewöhnliche Ich-Erzählung verwirren, wobei Lukianenko zwar auch in seinem epischen Auftakt auf die ungewöhnliche Perspektive zurückgriff, diese aber nicht derart häufig wechselte, wie in Wächter des Tages.
Die deutsche Übersetzung der Fantasy-Mär ist indessen gewöhnungsbedürftig, obgleich die Übersetzerin nicht wie noch bei Wächter der Nacht manche Ausdrücke und Wörter bis zu zehn Mal in zwei Seiten wiederholt. Abgesehen davon scheint die Übersetzerin Christiane Pöhlmann jedoch weit weniger darum bemüht, verständlichere Ausdrücke für viele russische Gegebenheiten zu finden, sondern belässt diese schlicht im Original, ohne dass sich westliche Leser darunter etwas vorstellen könnten. Ärgerlich ist allerdings, dass sich manche Dialoge und Ausdrucksweisen für die epische Grundlage ungeeignet anhören – spricht ein großer Magier mit noch mächtigeren Vertretern der Inquisition und meint "Wie kommen Sie auf einen derartigen Quatsch?", scheint dies deutlich unpassender, als hätte die Übersetzerin zu Worten wie "Unsinn" oder "Humbug" gegriffen. In gewissem Sinne scheint die Wortwahl häufig für den Inhalt zu profan und macht zusammen mit einer merklichen Anzahl an Schreib- und Präpositionsfehlern den Eindruck einer gehetzten Arbeit.

Was nach immerhin bislang über 1000 Seiten in der Welt der Anderen bleibt, ist einerseits ein großes Kompliment an Autor Sergej Lukianenko, der eine vielschichtige und detaillierte Fantasy-Realität erschuf, die an Komplexität wirklich beeindruckt, andererseits ein klein wenig Ernüchterung. Denn während Wächter der Nacht mit einer packenden und faszinierenden Geschichte aufwartete, die sich trotz der drei einzelnen Stories immer mehr auf einen Höhepunkt konzentrierte, der von seinen Ausmaßen diesen Titel auch verdient hatte, verhält es sich bei Wächter des Tages ein wenig anders: Zum einen erschweren die radikalen Perspektivenwechsel den Bezug zu einer durchgängigen Geschichte, andererseits scheint die Gewichtung des Finales auf Grund der bislang nicht absehbaren und auch kaum angedeuteten Bedeutung für den Fortgang des Konflikts zwischen Lichten und Dunklen zu gering für ein so episch erscheinendes Gesamtwerk und nach den vielen Vorbereitungen innerhalb des Romans.
Wie all das einzuordnen ist bleibt bis zum Abschluss von Wächter des Zwielichts abzuwarten, bis dahin macht Lukianenkos zweiter Teil der Reihe aber einen blasseren Eindruck als sein Vorgänger.


Fazit:
Der mittlere Teil einer Trilogie ist immer der schwierigste, immerhin besitzt er weder einen Anfang, noch einen Abschluss – diese Weisheit belegen viele Autoren und andere schaffende Künstler, und auch der russische Starautor Sergej Lukianenko scheint mit den Tücken des Konzepts gekämpft zu haben. Durch die Verlagerung der Erzählung überwiegend weg von bekannten Hauptfiguren aus dem ersten Roman wirkt das Buch herausgelöst aus den Ereignissen von Wächter der Nacht, was nicht zuletzt dadurch untermauert wird, dass der Autor zahlreiche neue Details aus dem Universum und den Verstrickungen der Anderen einführt, die er als gegeben voraussetzt, die bislang allerdings nicht angesprochen wurden.
Schubweise erhöht Lukianenko die Komplexität seines Epos und bringt dabei inhaltlich im letzten Drittel ein religiöses Element hinein, das in die gesamte Geschichte allerdings nicht so recht passen mag, zumal es hier auf eine so plumpe und wortwörtliche Art verwendet wird, dass man selbst als aufgeschlossener Fantasy-Leser Schwierigkeiten damit haben dürfte. Die drei einzelnen Geschichten hängen zwar miteinander zusammen, doch erscheint die Präposition in der lang erzählten Liebesgeschichte unnötig in die Länge gezogen und dafür der Abschluss der zwei weiteren Stories unnötig gestrafft. Sprachlich erschweren die Wechsel zwischen dritter Person und Ich-Perspektive den Lesefluss zusätzlich, zumal es zu Beginn noch den Anschein hat, als wolle Lukianenko die drei Abschnitte jeweils nur aus einer Perspektive erzählen, springt dann aber unvermittelt zwischen den einzelnen Figuren hin und her.
Inwieweit das alles beabsichtigt ist und sich im großen Gesamtbild des Epos einfügt, bleibt abzuwarten, und gespannt bin ich sicherlich, wie der Autor den Kampf zwischen Licht und Dunkel auflösen möchte. Von Wächter des Tages war ich dennoch ein wenig enttäuscht, fühlte ich mich doch trotz der Ich-Perspektive viel häufiger wie ein Beobachter, statt wie ein Teil der Handlung, und eben das zeichnete den ersten Roman aus. Dafür vergehen die 500 Seiten aber sehr flott. Ich hätte mir allerdings von der deutschen Übersetzung einerseits eine stärkere Ausdruckstreue zum ersten Buch gewünscht wie auch eine epischere Sprachwahl, die gerade durch die gestiegene, altertümliche Atmosphäre des Buches (durch den Verzicht von vielen technischen Spielereien des ersten Romans) ein stimmungsvolleres Bild erzeugt hätte.