Thomas Harding: "Hanns und Rudolf: Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz" [2013]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 3. September 2016
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Genre: Biografie
Originaltitel: Hanns and Rudolf: The German Jew and the Hunt for the Kommandant of Auschwitz
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 358 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2013
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2014
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-09-955905-4
Kurzinhalt:
Als die Lebenswege von Rudolf Höß und Hanns Alexander sich kreuzen, ist es bereits das Jahr 1946. Höß, geboren 1901, ist einer der meist gesuchten Männer in Nachkriegsdeutschland. Er war Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz und unmittelbar damit betraut, Himmlers und Hitlers "Endlösung" umzusetzen, die zur systematischen Vernichtung von Millionen Juden führte. Alexander ist ein 1917 in Berlin geborener Jude, der im Alter von 19 Jahren nach Großbritannien flieht, dort dem Kampf gegen das totalitäre Naziregime beitritt und nach Ende des Krieges auf die Jagd nach untergetauchten Naziverbrechern geht. Dies ist ihre Geschichte.
Kritik:
Wie beginnt man die Rezension eines der – in den Augen des Autors der Besprechung – wichtigsten Werke der vergangenen Jahre? Und auch wenn diese Aussage allein bereits eine Wertung vorwegnimmt, haben Sie etwas Geduld, ehe wir dazu kommen, weshalb Hanns und Rudolf: Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz von Autor Thomas Harding ein so bemerkenswertes Buch ist.
Entgegen dem Titel nimmt die "Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz" nur einen relativ kleinen Teil der Erzählung ein. Über weite Strecken erzählt Harding zwei Biografien. Zum einen diejenige seines Großonkels Hanns Alexander, später bekannt unter dem Namen Howard Hervey Alexander, zum anderen den Werdegang von Rudolf Höß. Letzterer war über Jahre Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz und damit nicht nur für die Ermordung von, nach eigenen Aussagen, zweieinhalb Millionen Menschen verantwortlich, sondern für den Tod von mindestens einer halben Million weiteren. Darüber hinaus zeichnet Höß unmittelbar dafür verantwortlich, die kaum vorstellbare Maschinerie zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Anzahl an Menschen systematisch vernichtet wurde.
Es wäre ein Leichtes, hieraus eine Geschichte von Stereotypen zu stricken mit einem schillernden Helden, dessen Familie Anfang der 1930er Jahre aus Berlin geflohen war, als das Naziregime immer skrupelloser gegen das erklärte Feindbild der Juden vorging, auf der einen und einem Monster auf der anderen Seite. Doch statt von Helden und Monstern erzählt Hanns und Rudolf von zwei Männern, die jeweils taten, was sie für richtig hielten, auch wenn man mit zeitlichem Abstand selbst im Falle von Hanns Alexander die Frage stellen muss, ob dies (obwohl nachvollziehbar), moralisch richtig war.
Harding beginnt seinen Tatsachenbericht mit einem Blick auf die frühen Jahre der beiden Männer, von denen Höß nach seiner Zeit im Ersten Weltkrieg ein Leben auf dem Land anstrebte, ehe er in das politische Leben eintrat. Anstatt auf fiktive Ausschnitte aus seinem Leben zu setzen, erläutert der Autor den Werdegang neutral und nüchtern. Selbst in den späteren Kapiteln, wenn er aus Höß' Memoiren zitiert und die analytische Vorgehensweise bei der Planung der grausamsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts beschreibt, tut Harding dies, ohne eine Wertung vorzunehmen.
Dass auch aus den Worten des Kommandanten keinerlei Gefühlsregung ersichtlich wird, macht das Geschriebene umso entsetzlicher.
Die akribische Aufarbeitung nicht nur der Lebensläufe der beiden Männer, sondern auch der geplanten und unvorstellbaren Vernichtung von Menschenleben ist auch für diejenigen, die sich mit der Thematik bereits beschäftigt haben, nur schwer zu ertragen. Von den schieren Zahlen abgesehen sind es die vielen Beispiele, die in Hanns und Rudolf angeführt werden, die dem Leid der Opfer ein Gesicht verleihen. Ergänzt durch unschätzbare und nie gesehene Bilder, die das Buch durchziehen, ergibt das einen so detaillierten und greifbaren Eindruck, dass es schwer in Worte zu fassen ist.
Anhand der Familie Alexander macht Harding nachvollziehbar, wie es den Juden in jener Zeit ergangen sein muss und wie schwer ihnen der Neuanfang fiel, sofern sie überhaupt entkommen konnten. Die Arbeit von Hanns Alexander als Teil der "War Crimes Group", ehe er zu einem der ersten "Nazi-Jäger" wurde, ist ebenso beeindruckend genau aufgearbeitet wie seine Jagd nach Höß, die packender ist als viele Thriller, ohne dass sich Harding anstrengen müsste.
Das ist es auch, was Hanns und Rudolf am Ende auszeichnet: Statt mit modernen Methoden eine Geschichte erzählen zu wollen, arbeitet der Autor die Werdegänge der beiden Männer auf, die sich irgendwann unweigerlich kreuzen, aber ohne es zu provozieren. Kommen die Personen zu Wort, sind es Auszüge aus Bibliografien, Mitschnitte von Prozessen oder Verhören.
Zu verstehen, wie es so gekommen ist, wie ein an sich kriegsmüder Veteran zum größten Massenmörder der Geschichte wurde, oder wie aus einem lebenslustigen Jungen ein Mann wurde, der sein Geburtsland nie wieder betreten wollte und den der Hass auf dessen Einwohner ihn bis ans Lebensende prägte, ist nicht nur herausragend erzählt, es ist wichtig. Heute, da wir zunehmend die Zeugen jener unvergesslichen Verbrechen verlieren, mehr denn je.
Fazit:
Kann es in einer Zeit, in der mit der Angst vor 'Überfremdung' Stimmung gemacht und Wahlen gewonnen werden, etwas Wichtigeres geben, als den Blick darauf zu lenken, dass auch diejenigen, die zu unaussprechlichen Verbrechen fähig sind, gleichzeitig liebevolle Familienmenschen sein können? Oder zu beschreiben, wie sich Fremdenhass äußern und wohin er führen kann?
Thomas Hardings detaillierte und unvorstellbar gründlich recherchierte Aufarbeitung der wahren Geschehnisse in Hanns und Rudolf: Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz besitzt nicht nur auf Grund der schonungslosen und nüchternen Beschreibung der Gräueltaten im Konzentrationslager eine solche Wucht, sondern auch deshalb, da er erzählt, ohne Partei zu ergreifen. Die Biografien von Rudolf Höß und Hanns Alexander werden mit Facetten geschildert, die beide Personen in jeweils ungeahntem Licht erscheinen lassen. Auch deshalb ist ihre Geschichte so wichtig. Ein Krimi, den das Leben schrieb. Es ist eines der besten, bedeutendsten und bemerkenswertesten Werke, die ich seit langem gelesen habe, packend und erschütternd zugleich.
Wer eine Liste mit Büchern besitzt, die unbedingt noch gelesen werden müssen, darf es nicht versäumen und wer in seinem Leben nur noch ein Buch lesen möchte, sollte dieses nehmen. Ja, so wichtig ist es zu wissen und zu verstehen. Heute mehr denn je.