Leonie Swann: "Gray" [2017]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 3. Juni 2017
Gray-Cover
Urheberrecht des Covers liegt beim Goldmann Verlag,
Verlagsgruppe Random House GmbH
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Verwendet mit freundlicher Genehmigung.
Autorin: Leonie Swann

Genre: Krimi / Unterhaltung

Originalsprache: Deutsch
Gelesen in: Deutsch
Ausgabe: E-Book
Länge: 415 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Deutschland
Erstveröffentlichungsjahr: 2017
ISBN (gelesene Ausgaben): 978-3-641-19430-7


Kurzinhalt:
Im Leben von Dr. Augustus Huff könnte alles seinen gewohnten Gang gehen. Der Tutor an der Universität von Cambridge kämpft derzeit mit seiner Abhandlung, doch davon abgesehen ist sein Alltag so strukturiert, wie er ihn benötigt. Doch dann wird die Leiche des Studenten Elliot gefunden, der offensichtlich in den Tod gestürzt ist. Augustus war Elliots Tutor und je länger er darüber nachdenkt, was er über den Studenten zu wissen glaubte, auch in Rücksprache mit seiner Kollegin Sybil Vogel und Elliots Freunden James, Lukas und Fawn, umso mehr stört ihn etwas an der Theorie, dass es sich um einen Unfall handeln soll. So bietet sich Augustus an, Elliots Graupapagei Gray vorübergehend an sich zu nehmen und muss feststellen, dass das Federvieh seinen ganz eigenen Kopf hat – und vielleicht so etwas wie ein Zeuge bei Elliots Mord gewesen sein könnte. Es dauert nicht lange, bis Huff erkennt, dass er nur mit Grays Hilfe den Fall wird lösen können, um seine Ordnung wiederherzustellen ...


Kritik:
Im Grunde ist die Ankündigung des Verlages, Gray wäre Leonie Swanns neuer "Tierkrimi" irreführend. Im Gegensatz zu Glennkill – Ein Schafskrimi [2005] oder dem ebenso lesenswerten Garou – Ein Schaf-Thriller [2010] ist Gray nicht aus der Sicht des gleichnamigen Papageien erzählt, obwohl er im Zentrum der Geschichte steht. Er verbindet Figuren, die man im Laufe des Romans kennenlernt oder kennenzulernen glaubt. Was der Autorin erneut gelingt ist eine wundervolle sprachliche Reise und ein Fall, der viele falsche Fährten präsentiert.

Im Zentrum steht Dr. Augustus Huff, Dozent und Tutor an der berühmten Universität von Cambridge, der den Tod eines Studenten zu beklagen hat. Elliot Fairbanks war von adeliger Herkunft und doch alles andere als ein Musterschüler. Nach einem unrühmlichen Streich war sogar überlegt worden, ihn der Universität zu verweisen und viele seiner Dozenten scheinen auch nach seinem Ableben nichts Positives über ihn sagen zu können. Unfreiwillig wird Augustus temporärer Halter von Elliots Graupapagei Gray und schnell kommen ihm Zweifel, ob Elliot, der als erfahrener Fassadenkletterer bekannt war, wirklich bei einem Unfall in den Tod gestürzt ist. So beginnt Dr. Huff zu ermitteln, mit dem Papagei auf der Schulter.

Was der Geschichte dabei eine ganz eigene Perspektive verleiht ist die Tatsache, dass wir sowohl Elliot, als auch die übrigen Figuren und ihre Beziehungen untereinander einzig aus der Sicht von Dr. Huff geschildert bekommen. Trifft er augenscheinlich eine Feststellung zu einer Charaktereigenschaft, so ist dies tatsächlich seine Interpretation dessen, was er beobachtet hat. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Wahrnehmung spürbar von seiner ganz offensichtlichen, aber nie wirklich als solche angesprochenen Zwangsneurose beeinflusst wird. Huff benötigt klare Strukturen, Ordnung, eine gewisse Reihenfolge und Häufigkeit, in der bestimmte Abläufe abzulaufen haben, damit er sich selbst wohlfühlt. Die Worte Autismus oder Asperger-Syndrom werden nie erwähnt, schweben jedoch bereits früh im Raum. Das allein sorgt bereits für allerlei interessante Momente. Vor allem steht sich Augustus damit oft selbst im Weg, wenn er beispielsweise Elliots Freunde befragen möchte, im Kontakt mit anderen dann jedoch seinen "Gedankenpfaden", in denen er Möglichkeiten und Zusammenhänge erörtert, so lange folgt, bis das Momentum des Gesprächs bereits verflogen ist. Es ist nicht selten Gray, der in diesen Situationen den Rhythmus vorgibt. Der Graupapagei ergänzt Augustus auf eine amüsante und natürlich eingängige Art und Weise, dass einem beide wie Charakterzüge einer Figur erscheinen.

Auf diese Weise gelingt es der Autorin, die Ermittlungen immer wieder in ungeahnte Richtungen zu lenken, aus jeder neuen Figur eine/n Verdächtige/n zu machen und regelmäßig den Punkt zu erreichen, dass Augustus der Überzeugung ist, Elliots Tod war doch ein Unfall. Selbst wenn Fans des Genres den wahren Täter früh entlarven werden, die Zusammenhänge und Hintergründe bleiben bei Gray lange Zeit im Dunkeln und nehmen auch am Ende noch eine Wendung. Das Krimielement ist somit überaus gelungen, obwohl Augustus Huff nicht unbedingt der beste Ermittler zu sein scheint. Dafür verliert er sich zu oft in seinen Gedankenpfaden und wird erst zu spät tatsächlich aktiv.

Eine berechtigte Frage ist jedoch, für welche Altersklasse der Krimi tatsächlich gedacht ist. Erwachsene Leser mögen, sofern ihnen die Atmosphäre des Romans nicht Anreiz genug ist, die Ermittlungen und die aufgedeckten Hintergründe als zu zahm empfinden, während sehr junge Leser zum Teil mit Kraftausdrücken konfrontiert werden, die innerhalb der Story zwar Sinn machen und in dieser Altersklasse vermutlich auch schon bekannt sind, ihnen aber nicht auf die Nase gebunden werden müssen. Auch die Anspielungen hinsichtlich der Einblicke in die Privatsphäre und privater "Vorlieben" mancher Figuren sind für diese Altersklasse schlicht nicht angemessen. Insofern wird das Zielpublikum von Gray eher bei Jugendlichen und Erwachsenen zu finden sein, die bereit sind, sich auf Leonie Swanns Erzählung einzulassen.

Die ist – wie in ihren Büchern zuvor bereits – ein Highlight des Romans. Die Sprache der Autorin gerät in einer eindrucksvollen Art und Weise malerisch, dass die Buchstaben um viele Beschreibungen geradezu herum zu fließen scheinen. Die Stadt Cambridge entsteht so trotz recht weniger Details in den Farben des Frühsommers und mit einem Flair, das einlädt, die Stadt zu besuchen. Manche Wortbilder klingen auf eine schwelgerische Art und Weise verschwenderisch, dass man beinahe übersehen könnte, wie selbstverständlich die Vergleiche sind, die gezogen werden.
Doch trotz aller Finesse in den Formulierungen gibt es einen Kritikpunkt, der an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll: Der Gebrauch des Ausrufezeichens! Nach Definition im Duden verleiht das Ausrufezeichen "dem Vorangehenden einen besonderen Nachdruck". Doch nutzt Swann dieses Interpunktionszeichen insbesondere in der ersten Buchhälfte derart inflationär, dass es richtiggehend den Lesefluss stört. Dass dahinter die Verdeutlichung von Augustus Huffs Zwanghaftigkeit bei der Deutung dessen, was er erfahren hat steht, ist unbestritten und wird dadurch umso deutlicher, dass diese Art der Beschreibung in der zweiten Romanhälfte merklich nachlässt, wenn Gray Huffs Persönlichkeit in eine neu gefundene Balance bringt. Nichtsdestoweniger! Es hätte hier auch andere Möglichkeiten gegeben, an sich normale Feststellungen weniger "aggressiv" zum Ausdruck zu bringen!


Fazit:
Es wird nicht wenigen Lesern so ergehen, dass man sich durchaus vorstellen könnte, in Zukunft mit einem Papagei auf der Schulter durch die Innenstadt zu gehen. Wie sehr Gray nicht nur Augustus' Leben, sondern insbesondere seinen Charakter beeinflusst, kommt auf eine greifbare Art und Weise zur Geltung. Im Krimi lenkt Autorin Leonie Swann ihre Leser immer wieder absichtlich in falsche Richtungen und zeigt dadurch umso mehr auf, wie sehr das, was wir als Tatsachen empfinden von unserer eigenen Wahrnehmung abhängig ist. Erst, wenn alle Puzzleteile aufgedeckt sind, ergibt sich ein stimmiges Bild, das es uns überhaupt ermöglicht, eine Wertung dessen vorzunehmen, was sich bei Elliots Tod zugetragen hat. Sprachlich ist das mit einem Gespür für den Klang und das Gefühl der Wörter eingefangen, dass es einen mühelos auf Augustus' andere Schulter versetzt und Cambridge durch seine Augen sehen lässt. Auch hier ist es bemerkenswert, dass die Beschreibungen dann umso bildhafter werden, wenn Huff die Welt mit anderen Augen zu sehen beginnt.
Manche Storystränge wie der um Huffs Kollegin Sybil oder die junge Philomene kommen ohne Überraschungen aus und Kenner des Genres werden den wahren Täter früh erkennen. Doch das schmälert nicht die warme Atmosphäre, die Gray von der ersten Seite an erzeugt und bis zur letzten aufrechterhält. Für ein Publikum, das bereit ist, in die toll beschriebene Welt von Augustus und Gray einzutauchen und mit ihnen ein Abenteuer zu erleben, das über die Dächer von Cambridge und tief in die Abgründe mancher Figuren führt, ist Gray mehr als nur eine Empfehlung. Es ist ein Buch, das zu lesen mir viel Spaß gemacht hat und nach dem ich hoffe, diesem ungewöhnlichen Duo bald wieder zu begegnen.