Bram Stoker: "Dracula" [1897]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 09. November 2007
Autor: Bram StokerGenre: Horror
Originaltitel: Dracula
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 449 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Irland
Erstveröffentlichungsjahr: 1897
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1908
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-14-062063-X
Kurzinhalt:
In seinem Tagebuch beschreibt der frisch graduierte Anwalt Jonathan Harker seine Reise nach Transsylvanien, wo er dem Grafen Dracula die Unterlagen und Informationen zu einem Grundstückserwerb in London überbringen soll. Doch das Schloss scheint außer dem Grafen selbst verlassen, und die unheimlichen Vorkommnisse erhärten langsam Harkers Verdacht, dass der Graf ihn nicht wird gehen lassen.
Unterdessen erfasst Harkers Verlobte Mina in London ihre Erlebnisse, die mit einem Geisterschiff im Hafen beginnen, an dem keine Menschenseele mehr zu finden ist – nur der Leichnam des Kapitäns. Wenig später beginnen bei Minas bester Freundin Lucy seltsame Veränderungen, die nach einem nächtlichen Schlafwandeln einsetzen. Lucys Verlobter, Arthur Holmwood zieht den Arzt John Sewad hinzu, der der jungen Dame auch nicht zu helfen vermag. Selbst der aus den Niederlanden angereist Professor Van Helsing steht vor einem Rätsel.
Als sich Van Helsings Verdachtsmomente über den Blutverlust der jungen Frau erhärten, steht Lucys Leben bereits auf der Kippe – und ihr Schicksal ereilt auch alsbald Mina ...
Kritik:
Die Fantasy-Figur eines Vampirs wurde nicht von Bram Stoker erfunden, auch wenn es heute angesichts der Gleichsetzung von Vampir mit dem Namen Dracula oft so scheinen mag. Jene Mythen und Aberglauben gab es in Osteuropa schon lange vorher – und Stoker selbst verwandte sieben Jahre darauf, sich über Folklore und ihre verschiedenen Auswüchse bezüglich des Themas zu informieren.
Als der Roman 1897 erschien war er ein großer Erfolg, doch sah man im viktorianischen England die Geschichte eines Vampirs, der es sich zum Ziel setzt, London heimzusuchen, eher gelassen. Als Abenteuergeschichte mochte sich Dracula gut verkaufen, jenen Stellenwert, wie ihn das Werk heute in der Literaturgeschichte einnimmt, bekam der Roman allerdings erst später. Nicht zuletzt dank der unvergessenen Verfilmungen und ihrer legendären Dracula-Darstellungen durch Max Schreck, Bela Lugosi oder Christopher Lee.
Dass Stokers Vision eines Vampirs sich über viele andere Interpretationen hinweg gesetzt hat, liegt zweifelsohne an der Zeitlosigkeit seines Antagonisten, der weit mehr ist als ein Blut saugendes Monster. Vielmehr kann sich der gelehrte, charmante und versierte Gentlemen gut in die übrige Bürgerlichkeit einpflegen und das damals wie heute. Auch die meisten anderen Elemente des Vampirismus sind hier schon vertreten, wenn auch nur nebenbei geschildert. Nicht zuletzt ist es die unübliche Umsetzung des Stoffes, die Dracula auch nach 110 Jahren noch lesenswert und empfehlenswert macht.
Die Geschichte entfaltet sich dabei anfangs noch gemächlich, im Mittelteil schneller und legt insbesondere beim sehr knapp erzählten Finale noch an Geschwindigkeit zu. Gerade das erste Drittel des Romans mit den Schilderungen Jonathan Harkers ist allerdings atmosphärisch am dichtesten und grundlegend auch am besten gelungen. Die unheimliche Stimmung, das verlassene Schloss mitten im Nirgendwo, die drei Vampirfrauen und das immer größer werdende Unbehagen in der Nähe des Grafen Dracula übertragen sich nicht zuletzt durch die sehr persönlichen Eindrücke Harkers in seinem Tagebuch sofort auf den Leser und lassen nicht nur Klänge und Bilder, sondern auch die Kälte in den transsylvanischen Gemäuern spürbar werden. Man fiebert mit dem unbescholtenen Advokaten mit, sieht das Unbegreifliche durch seine Augen und fühlt sich eben so allein und verlassen wie er selbst – ehe seine Erzählungen abbrechen.
Während viele Autoren die Geschichte lediglich aus einer unbeteiligten Perspektive erzählen, versieht Stoker seinen Roman mit einer Brief- und Tagebuchform, was zwar von sich aus nichts Neues ist, aber dank der Perspektivenwechsel auch viele verschiedene Meinungen und Charakterzeichnungen ermöglicht. Da sich manche Passagen eines Briefes mit denen eines anderen Tagebuches auch überschneiden sieht man, worauf die jeweiligen Schreiber am meisten Wert gelegt haben. Es dauert auch sehr lange, ehe man endlich einen selbst verfassten Eintrag der sagenumwobenen Figur Van Helsing entdeckt.
Wird das Geschehen nach England verlagert, verschiebt sich auch der Schwerpunkt des Romans ein wenig, sowohl in Bezug auf die Stimmung, wie auch auf die Blickwinkel. Mitansehen zu müssen, wie die feenhafte Lucy Westenra auf ihr Verderben zusteuert – und wie alle möglichen Kräfte den hilflosen Ärzten ihre teuer erkauften Fortschritte zunichte machen, versetzt den Leser erneut in eine ganz andere Lage; nimmt die Geschichte aber schließlich eine Wendung, mit der man selbst zum Jäger des Grafen wird, zieht auch das Erzähltempo wieder an. Leider bleibt das letzte Drittel aber in Sachen Atmosphäre hinter dem Einstieg des Romans zurück, auch wenn er bis zur letzten Seite spannend bleibt.
Es gibt zweierlei Verwandlungen, die die Figuren im Laufe der 450 Seiten durchmachen. Während die beiden weiblichen Hauptcharaktere selbst miterleben müssen, wie sie ihrer Sinne beraubt werden, immer mehr dem Bann des Grafen verfallen, ohne ich dagegen wehren zu können, sind es die männlichen Figuren, die passiven Beobachtern zuerst zur Reaktion durch den Vampir gezwungen werden, ehe sie aktiv werden und dem Grauen ein Ende bereiten wollen.
Durch die unterschiedlichen Blickwinkel in den Tagebüchern und Briefen ergeben sich sehr persönliche Charakterportraits, die den Figuren auch sehr viel Tiefe verleihen. Dies geht weit über den Werdegang hinaus, sondern umschließt ihre Sehnsüchte und Ängste – und wie sich ihre Prioritäten verschieben, als ihre Mitmenschen jener Gefahr ausgesetzt sind. Hierbei bleibt einmal mehr der Gelehrte Van Helsing außen vor, über den nur sehr wenig gesagt wird, der aber nichtsdestoweniger (oder gerade deshalb) sehr charismatisch und zu einem gewissen Grad auch geheimnisvoll erscheint.
Die Figuren sind insbesondere für einen Roman jener Zeit sehr gewissenhaft ausgemalt und dürfen sich auch im Laufe des Romans entwickeln; manche Autoren der heutigen Zeit sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
Auch wenn Dracula nach dem ersten Drittel etwas einbricht, langatmig wird der Genreklassiker glücklicherweise nie, auch wenn die Spannung meist nur punktuell angezogen wird. Im letzten Drittel vermag dann das Finale zwar zu überzeugen – etwas länger hätte es aber sein dürfen. Von einem längere Epilog ganz zu schweigen.
Sprachlich gibt sich Bram Stoker keine Blöße und legt auch jeder Figur einige Formulierungen und Wörter in den Sprachschatz, die er/sie in den Tagebucheinträgen und Briefen dann häufiger verwendet.
Sobald allerdings Arbeiter der einfacheren Schichten zitiert werden und die englische Gossensprache durchbricht, muss man manche Sätze mehrmals lesen, um den Sinn wenigstens erraten zu können. Dadurch mag zwar die Authentizität erhöht werden, doch stellenweise wünscht man sich als Leser in der Tat eine englische Übersetzung. So auch, wenn Professor Van Helsing voller Aufregung erzählt und der Holländer mit seinen etwas umständlichen Satzkonstruktionen, fehlenden Attributen und falschen Konjugationen selbst den schnellsten Lesefluss ins Stocken bringt. Ein spezieller Satz ist gar so verwirrend, dass man ihn so oft Lesen kann, wie man möchte – er ergibt schlichtweg keinen Sinn.
Allerdings lockern diese Passagen Dracula merklich auf und nehmen ihm gleichzeitig die düstere Stimmung – ohne die grundlegende Atmosphäre zu stören.
Was nach den 450 Seiten bleibt ist ein durchweg gelungener, stellenweise sehr beängstigender Vampir-Roman, dem man anmerkt, wie unverbraucht und neu die Thematik an sich damals war. Und das schon aus einem Grund: Statt wie heutige Produktionen egal ob als Buch oder Film, mit unzähligen Vampiren zu protzen, konzentriert sich Stoker auf die akkurate Beschreibung eines Antagonisten. Sowohl in seinem Auftreten, als auch in seinem Charisma ist er seinen Nachkommen in den letzten 110 Jahren um Längen voraus.
Fazit:
Von den jeweiligen Szenarien her scheinen die Tagebucheinträge wie Szenen aus einem Theaterstück. Minimalistisch, ohne viel Drumherum erzeugt Bram Stoker nicht nur eine sehr glaubhafte, beklemmende Stimmung in den Karpaten zu Beginn, sondern transferiert diese Atmosphäre in das damals moderne London. Es scheint fast, als wolle er dieses Aufeinandertreffen von Aberglauben und Wissenschaft als Leitmotiv für seinen Roman nehmen – und stellt diesen Kontrast auch an seinen Figuren wieder her. So ist Mina Harker zwar eine Frau ihres Standes und als solche mit ihrem Platz auch glücklich und doch gleichzeitig die modernste Figur, da sie ihre Einträge immer auf der Schreibmaschine tippt.
Unter der Oberfläche schlummert bei Dracula weit mehr, als man vermuten würde, und ich war zugegebenermaßen überrascht, wie sehr mich die düstere, bedrückende Stimmung im Schloss und später im Nebel verhangenen London gepackt hat. Auch die Figur des Grafen unterscheidet sich durch seine Eleganz völlig von der plumpen Vorstellung eines Monsters mit langen Fangzähnen. Mein Bild des klassischen Vampirs wurde hier erfreulicherweise völlig überholt.
Zu verdanken ist das einerseits den guten Charakterbeschreibungen, andererseits der schlichtweg gelungenen Erzählung, die den Leser entführt und beunruhigt, ohne durch Brutalität zu schockieren. Die Hilflosigkeit, der sich die Figuren (und die Leser) gegenüber sehen, ist viel schlimmer. Und fesselt auch über ein Jahrhundert später.
Gerade deshalb ist Dracula ein Klassiker – und ein Meilenstein der Literaturgeschichte.