Mark Billingham: "Blutzeichen" [2004]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 04. November 2008
Autor: Mark Billingham

Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: The Burning Girl
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 386 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2004
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2005
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-06-074527-1


Kurzinhalt:
Vor Jahren ermittelte Carol Chamberlain in einem Fall, in dem ein Mädchen auf einem Schulgelände am helllichten Tag in Flammen gesetzt wurde. Für die Tat sitzt Gordon Rooker seit Jahren im Gefängnis. Doch nun bekommt Carol Nachrichten von jemandem, der behauptet, er sei der wahre Täter. So bittet Carol Tom Thorne um Hilfe, der seinerseits alle Hände voll zu tun hat, stehen rivalisierende Verbrecherbanden doch kurz vor einem Krieg.
Einer der beiden Anführer ist Billy Ryan, mit dem Rooker einst Geschäfte machte. Dass beide Namen so kurz hintereinander über Thornes Schreibtisch wandern, macht den Ermittler stutzig. An einen Zufall kann er dabei kaum glauben, bis sich Alison Kelly bei ihm meldet. Sie war nicht nur die beste Freundin des Mädchens, das damals verbrannt wurde, sondern das beabsichtigte Opfer gewesen.
Je mehr Thorne ermittelt, auch in Hinblick auf eine türkische Familie, die sich verdeckt ein Netzwerk aus zwielichtigen Geschäften aufgebaut zu haben scheint, umso mehr gerät er selbst ins Visier und unter Druck von seinen Vorgesetzten ...


Kritik:
Auch im vierten Roman um den britischen Ermittler Tom Thorne haben die bisherigen Ereignisse Spuren hinterlassen. Was in Die Blumen des Todes [2003] oder auch in Der Kuss des Sandmanns [2001] geschehen ist, wird zumindest wieder aufgegriffen, die Konsequenzen spürbar. Weiterentwickelt hat sich der Protagonist nur insofern, als dass er nach seinen traumatischen Erlebnissen ein Stück weit menschlicher geworden ist. Die Höhen und Tiefen, die er dabei mitgemacht hat, haben ihn in gewissem Sinne sympathischer gemacht.
Umso erfreulicher ist es, dass es Autor Mark Bilingham wieder gelingt, viele Alltagssituationen einfließen zu lassen und seinen Charakteren Verhaltensweisen zuzuschreiben, die sie wie wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut wirken lassen. Von schemenhaften Darstellungen ist Blutzeichen, so der unpassende deutsche Titel, zum Glück weit entfernt. Und doch bleibt der Thriller stellenweise schwer zugänglich. Dies meistens, weil die Entscheidungen der Figuren so menschlich sie sein mögen, dass man ihnen an sich lieber ein höhere Tugendhaftigkeit gewünscht hätte. Wenn man sich fragt, ob man selbst in der Situation gleich oder ähnlich gehandelt hätte, macht einen das genauso wenig heldenhaft, wie die agierende Figur im Roman.

Wie wörtlich der englische Titel The Burning Girl zu verstehen ist, schockiert nicht nur zu Beginn. Je genauer die Beschreibungen werden, mit denen der Autor in Worte fasst, welch schreckliches Szenario sich wohl zugetragen haben soll, umso fassungsloser bleibt man als Leser schließlich zurück.
Es ist keine leichte Kost, die Billingham seinen Lesern hier zumutet und leichter wird sie durch die zweite Handlungsebene mit rivalisierenden Banden des organisierten Verbrechens nicht wirklich. Bedauerlich ist allerdings, dass der Autor dem Klischee nicht widerstehen kann, beide Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen, anstatt den Ermittler seinen inneren Konflikt ausfechten zu lassen, welche der beiden Fälle ihm nun wichtiger ist. Dies endet schließlich, wie es enden muss, nämlich dass das Storyelement um Bandenrivalität im Endeffekt deutlich zu kurz kommt, beziehungsweise die Antworten auf die Ermittlungen hastig und mitunter auch nur in Nebensätzen geliefert werden. Dass Mark Billingham den Schwerpunkt außerdem auf Thornes Privatleben setzt und auch Nebenfiguren wie Dave Holland oder Carol Chamberlain stärker einbindet macht den Raum für die beiden Ermittlungen zusätzlich eng.
Dass es dennoch funktioniert liegt unter anderem an den authentischen Charakterisierungen und den sehr akkuraten Ortsbeschreibungen, durch die man sich selbst in London schnell zurecht findet, und die einen hohen Grad an Authentizität offenbaren. Vom Jargon bis hin zu den Zusammenhängen hinter dem organisierten Verbrechen hat der Autor seine Hausaufgaben nicht nur sehr gut gemacht, sondern entwirft auch ein leider nicht abwegiges Szenario, das gerade darum so erschüttert. Blutzeichen düster zu nennen wäre an sich schon eine Untertreibung, wären nicht die Figuren so lebensnah gezeichnet, dass man schon beim Lesen ihre Stimmen hören und ihren Atem spüren könnte. Die Story an sich hätte ohne Frage weiter ausgebaut und vielleicht auch einen Tick spannender erzählt werden können. Doch die Originalität, mit der Billingham sich an den Stoff heranwagt, und ihm seine eigene Handschrift aufzwingt ist beeindruckend und bis zuletzt nur selten vorhersehbar.

Die Charaktere sind es allerdings, die den Roman lebendig werden lassen.
Dass den Antagonisten dabei sehr viel Platz eingeräumt wird überrascht nicht, auch wenn Billingham vieles zu Billy Ryan oder Alison Kelly offen lässt. Auch die Vergangenheit Gordon Rookers wird nur gestreift, aber nicht in die letzten Winkel ausgeleuchtet. Doch scheinen sie alle genügend genau gezeichnet, um sie greifbar werden zu lassen. Dass er ihre Taten nicht verharmlost, sich nicht dem Klischee hingibt, was einen Menschen zu einem bösen Menschen macht, sei dem Autor hier hoch angerechnet.
Gleichzeitig exerziert er an Tom Thorne und Carol Chamberlain allerdings, was notwendig ist, um normale Menschen böse Dinge tun zu lassen. Und sei es nur, um damit letztlich Gutes zu bewirken. Wie sehr hier die Grenzen zwischen Weiß und Schwarz verschwimmen, wie bekannte Charaktere in Abgründe rutschen, aus denen sie zumindest nicht ohne Blessuren wieder hervor kommen können, ist in der Tat verstörend. Zumal auch hier die Motivation hinter ihren Taten durchaus verständlich ist. Inwiefern es diese Figuren nachhaltig verändern wird, wie es sich auf ihre Zukunft auswirken wird, bleibt abzuwarten. Doch man darf sich sicher sein, dass Billingham niemanden ungeschoren wird davon kommen lassen. Wie man bereits an den letzten Seiten im Roman gesehen hat.
Ob einem dabei die Richtung gefällt, in die Thorne entwickelt wird, das sei dahingestellt. Zwar macht das Buch klar, dass es bei den etablierten Figuren an sich keine richtigen Helden gibt, doch hätte man sich vielleicht etwas mehr Protest von der Seite des Ermittlers gewünscht, wenn sich das Drama im Finale ereignet. Überraschend ist dabei vor allem, zu welchen radikalen Schnitten der Autor bei seinen Charakteren bereit ist. Ob man dem Weg aber gern weiter wird folgen wollen, wird sich herausstellen.

Im Gegensatz zu manch anderen Autoren verwickelt Mark Billingham die Ermittler weniger in Faustkämpfe oder testet sie in Actionmomenten. Vielmehr geben sich seine Romane, und diesbezüglich macht Blutzeichen keine Ausnahme, sehr dialoglastig. So auch das letzte Drittel des Romans, wenn sich endlich Zusammenhänge offenbaren, die man schon längere Zeit vermutete, aber doch nicht formulieren konnte. Manche Erkenntnis mag zu schnell kommen, oder nur halbherzig vorbereitet sein, doch letztlich jagen einem auch die letzten Seiten des Buches einen Schauer über den Rücken, wenn sich Konfrontationen abzeichnen, die man schon länger hätte kommen sehen sollen.
Dass sie allesamt nicht so verlaufen, wie man sich das wünschen würde, spricht zwar für den Autor, doch macht dies The Burning Girl zu einer nicht zu unterschätzend deprimierenden Lektüre.

Sprachlich gibt sich der Roman weniger ausgefallen als beispielsweise Die Blumen des Todes und auch in Bezug auf den vulgären Wortschatz fährt der Autor weniger starke Geschütze auf. So eignet sich das Buch grundsätzlich auch für Einsteiger in den englischen Sprachwortschatz, auch wenn manche Fachwörter sicherlich vorausgesetzt werden.
Schnell liest sich Billinghams Stil wie gewohnt, was mitunter in Kontrast zu dem anspruchsvollen Inhalt steht.

Für Kenner der bisherigen Romane um Tom Thorne bietet Blutzeichen mehr als nur eine Erweiterung oder eine Ergänzung. Es entwickelt den Charakter weiter, wenn auch in eine unerwartete Richtung. Inwiefern dies Auswirkungen haben wird auf Thornes Zukunft, muss man wohl abwarten, doch packt die düstere Erzählung insbesondere auf Grund des charismatischen Hauptcharakters.
Die Story an sich fesselt durch die Rückblenden und Carol Chamberlain – der aktuelle Handlungsstrang um die rivalisierenden Verbrecherbanden hingegen interessiert bedeutend weniger. Dass Autor Billingham der Versuchung nicht widerstehen konnte, beides miteinander zu kombinieren, ist insofern schade, als dass für sich genommen beide hätten Auswirkungen auf die Figuren in kommenden Romanen haben können. Dies nimmt dem Buch etwas an Originalität und zwängt es in Genrekonventionen, in die Thorne für sich genommen gar nicht hineinpasst.


Fazit:
Wenn sich Tom Thorne am Friedhof mit dem Vater des verbrannten Mädchens unterhält, mit seiner Tante, seinem Vater und dessen Freund beim Essen sitzt, oder aber allein die letzten zwei Seiten des Romans verdeutlichen, dass Autor Mark Billingham in seinem Genre einer der verblüffendsten und einnehmendsten Autoren ist. Allein durch solche Momente gelingt es ihm, seine Leser zu fesseln, sie mit den Figuren mitfühlen zu lassen, ohne sich in Klischees zu ergießen. Gleichzeitig entwickelt er die Charaktere in unerwartete Richtungen, verändert die Persönlichkeit einer Figur, die man seit Jahren zu kennen glaubt – oder definiert er die Persönlichkeit nur genauer?
Was Blutzeichen auf eine sehr plastische Weise deutlich macht, ist die Tatsache, dass für den Autor nichts unmöglich ist, er durchaus bereit ist, seinen Protagonisten sprichwörtlich durch die Hölle zu schicken und den Leser dabei gleich mit. Darum verzeiht man dem Roman auch seine Schwächen, allzu lang gezogene Kapitel, die man hätte straffen können, mäandrierende Ermittlungen, die auch packender hätten erzählt werden können oder verschiedene Handlungsstränge, die man auch getrennt hätte behandeln sollen. Und ich bleibe auch gespannt, was sich Billingham für Thorne als nächstes wird einfallen lassen. Viel persönlicher kann es an sich nicht werden. Und auf eine emotionale Weise ergreifender an sich auch nicht.