Sun Children [2020]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 16. April 2022
Genre: Drama

Originaltitel: Khōrshīd
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: Iran
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Majid Majidi
Musik: Ramin Kousha
Besetzung: Rouhollah Zamani, Javad Ezzati, Abolfazl Shirzad, Shamila Shirzad, Seyed Mohammad Mehdi Mousavi Fard, Mani Ghafouri, Ali Ghabeshi, Safar Mohammadi, Ali Nassirian, Tannaz Tabatabaei


Kurzinhalt:

Anstatt zur Schule zu gehen, übernimmt der im Iran lebende, 12jährige Ali (Rouhollah Zamani) alle möglichen Arbeiten, während er in einer Reifenwerkstatt sein Geld verdient. Sein Ziel ist, sich und seine Mutter (Tannaz Tabatabaei) versorgen zu können, die derzeit im Krankenhaus liegt. Als Ali den Auftrag erhält, unter dem städtischen Friedhof in den Abwasserkanälen nach etwas Wertvollem zu suchen, steht für ihn und seine drei Freunde, darunter der aus Afghanistan stammende Abolfazl (Abolfazl Shirzad), fest, dass es sich dabei um einen Schatz handeln muss. Zugang zu dem Schatz erhalten sie aber nur über den Keller der Schule und so schreiben sie sich notgedrungen dort ein. Aber nicht nur, dass sie auch am Unterricht teilnehmen müssen, Ali würde nach einer Prügelei beinahe von der Schule fliegen, wäre es nicht um den stellvertretenden Direktor Rafie (Javad Ezzati), der sich für ihn einsetzt. Stück für Stück arbeiten sich Ali und seine Freunde zu dem Schatz vor, doch dann werden ihnen immer mehr Hürden in den Weg gestellt und ihre Hoffnung auf eine sorgenfreie Zukunft rückt in weite Ferne …


Kritik:
Das iranische Drama Sun Children erzählt nicht nur vom Leben einer Gruppe von Straßenkindern, sondern in gleichem Umfang von ihren Träumen, ihren Hoffnungen und ihren Talenten. Filmemacher Majid Majidi widmet es den 152 Millionen Kindern weltweit, die zur Kinderarbeit gezwungen sind (oder werden) sowie denjenigen, die sich für sie einsetzen. Das ist als Porträt nicht nur ergreifend, sondern auch bedrückend und mit einer dokumentarischen Intensität erzählt.

Im Zentrum der Geschichte steht der 12jährige Ali, der ebenso wie seine drei Freunde in einer Reifenwerkstatt arbeitet, um auf der Straße zu überleben und seine Familie zu unterstützen. Wie tragisch sein persönlicher Hintergrund ist, erläutert die Erzählung erst im Verlauf und es rückt sein dominantes Verhalten ebenso in Perspektive wie sein Bemühen darum, dass seine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wird. Aber selbst wenn ihm das gelingen sollte, wo sollte er mit ihr hin? Ein Mann, für den er mit seinen Freunden alle möglichen Gaunereien verübt – zuletzt haben Sie Autoreifen aus einer Tiefgarage eines luxuriösen Einkaufszentrums gestohlen –, bietet ihm einen Ausweg an. Ali soll etwas Wertvolles suchen, das sich in den Abwasserkanälen des Friedhofs befindet, dann würde er seine Mutter sicher unterbringen. Zu den Kanälen gelangt er aber nur von der daneben gelegenen Schule aus. So melden sich Ali und seine Freunde bei der Schule für den Unterricht an und zwischen den Stunden graben sie sich im Keller einen Zugang. Für sie steht außer Frage, dass sie einen Schatz suchen müssen, immerhin besitzt ihr geschichtsträchtiges Land viele verborgene Schätze und mit dem Fund könnten sie sich alle ein gutes Leben machen.

Dabei wünschen Ali, Abolfazl, Mamad und Reza für sich eine Zukunft, die aus hiesiger Sicht für viele kaum erstrebenswert scheint. Sie wollen einen Imbiss eröffnen oder eine Waschanlage. Der Zugang zu ihrem Schatz scheint nur durch die Schule möglich und es wäre eine schöne Metapher, wenn Sun Children davon erzählen würde, dass Kinder ihre Zukunft durch Bildung verwirklichen könnten. Doch von einer solchen Welt können die vier Jungen nur träumen. Überhaupt fällt erst dann auf, dass die vier gar nicht zur Schule gehen, während Abolfazls Schwester Zahra, die Ali in der U-Bahn trifft, sehr wohl eine Schule besucht. Die „Sun School“, bei der sie sich einschreiben sollen, ist auch kostenlos, doch lohnt es für die Kinder offenbar mehr, wenn sie Geld verdienen, statt etwas zu lernen. Die Schule selbst ist gemeinnützig und bemüht sich, Straßenkindern und Kinderarbeitern Bildung zukommen zu lassen. Öffentlich unterstützt werden sie nicht, sondern sind auf Spenden angewiesen und während der Direktor der Schule seine Position als Möglichkeit sieht, in das städtische Rathaus einzuziehen, scheint der stellvertretende Schulleiter und Lehrer Rafie sichtlich um Ali bemüht. Vielleicht, weil er sich selbst in dem Jungen erkennt.

Filmemacher Majid Majidi stellt die Kinder ebenso wie die Schule als Quell so vieler Möglichkeiten dar, dass es umso mehr trifft, welche inhaltliche Entwicklung die Geschichte nimmt. So wird das sportliche Talent von Alis Freund entdeckt und der Lehrer Rafie möchte Abolfazls Können bei einem Mathematikwettbewerb fördern. Doch nach wiederholter Ausgrenzung von Abolfazls Schwester Zahra und seiner Familie, die als Afghanen im Iran lediglich geduldet werden und weniger Rechte besitzen, entscheidet sich die Familie, das Land wieder zu verlassen. Sun Children stellt diese kulturellen Spannungen vor und zeigt zugleich auf, wie schwer es ist, einen solchen Hafen für die Straßenkinder überhaupt zu erhalten. Bei einer Schulveranstaltung, die Spendengelder generieren soll, bleiben die Sponsoren aus und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Schule geschlossen wird. So brechen Ali nicht nur Stück für Stück seine Freunde weg, mit denen er den Schatz finden möchte, mit jedem Schritt, den er dem Schatz näher kommt, wird seine Welt kleiner (auch buchstäblich in den Tunneln) und die Gefahr, entdeckt zu werden, steigt.

Auf ihrem Weg zu einer scheinbar unausweichlichen Auflösung findet die Geschichte viele starke Momente, wie wenn der Lehrer Rafie für Zahra bei der Polizei bürgt und er erkennt, was dem Mädchen in der Haft angetan wurde. Oder wenn die Schüler über den Zaun der Schule klettern und ihr Recht auf Bildung einfordern, nachdem der Anwalt des Grundstückbesitzers die Tore hat schließen lassen, da die Miete ausgeblieben ist. Vieles davon könnte Hoffnung machen, darauf, dass Empathie sich durchsetzt, dass die Zukunft der Gesellschaft sich ihren Weg bahnt. Doch die Antworten, die Majid Majidi darauf findet, sind nüchterner und wohl leider auch realistisch. Aber damit sind sie gleichzeitig auch Erinnerung daran, in welch privilegierter Situation man sich in manchen Teilen unserer Welt wiederfindet und Mahnung, die Chancen für Kinder überall zu verbessern. Sie leben schließlich alle unter derselben Sonne.


Fazit:
Viele Handlungsstränge bleiben unvollendet und ebenso viel unausgesprochen. Regisseur Majid Majidi erzählt die Geschichte dieser Straßenkinder mit vielen Zwischentönen und teils beeindruckenden, starken Darbietungen. Dabei ordnet er das Leben dieser Jungen, deren Väter entweder abwesend, tot oder im Gefängnis sind, auch in den kulturellen Zusammenhang ein und stellt eine Schule und in Rafie einen Lehrer, der sich für sie einsetzt, vor, die für sie ein Leuchtturm sein könnten – wenn man ihnen denn die Möglichkeit einräumen würde. In den Jungen verbirgt sich Talent, Ehrgeiz und Fleiß ebenso wie Potential, Träume und Hoffnungen. Die Suche nach dem Schatz ist für Ali etwas, woran er all seine Erwartungen knüpft und je kleiner seine Welt scheinbar wird, umso größer seine Verzweiflung. Erwachsene werden ahnen, worauf die Schatzsuche hinausläuft, doch das macht sie nicht weniger tragisch. Sun Children ist ein in beeindruckenden Bildern zum Leben erweckter Film, der mehr als nur berührt. Er macht betroffen, gerade, weil er so viele Kinder betrifft, und er setzt sich für ihre Chancengleichheit ein. Ihnen eine Stimme zu verleihen ist wichtig und unschätzbar wertvoll.