The Quiet Girl [2022]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 19. März 2024
Genre: DramaOriginaltitel: The Quiet Girl / An Cailín Ciúin
Laufzeit: 95 min.
Produktionsland: Irland
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Colm Bairéad
Musik: Stephen Rennicks
Besetzung: Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh
Kurzinhalt:
Zu Beginn des irischen Sommers im Jahr 1981 wird die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) nicht gefragt, ob sie die Ferien bei der Cousine ihrer Mutter und deren Ehemann verbringen will. Doch insbesondere für Cáits Vater (Michael Patric) ist das vierte von derzeit fünf Kindern nur ein Maul, das gestopft werden muss. Wird sie ihm abgenommen, soll es ihm nur recht sein. Bei dem älteren Paar angekommen, schließt Eibhlín (Carrie Crowley) Ihre Nichte zweiten Grades sofort ins Herz. Ihr Mann Seán (Andrew Bennett) wirkt reserviert und zurückhaltend. Die stille, gleichermaßen in sich gekehrte Cáit lässt den Ortswechsel über sich ergehen und wird mit einer Fürsorglichkeit konfrontiert, die sie aus ihrem vernachlässigenden Elternhaus nicht kennt. Während sie sich auf dem Hof von Eibhlín und Seán einbringt und die Tage vergehen, spürt das Mädchen eine Geborgenheit, das sie zunehmend aufblühen lässt. Doch obwohl sich auch die Beziehung zu Seán verbessert und so wohlbehütet sie alle in dem großen Haus leben, es herrscht dort eine Stille, die sich von der Traurigkeit aller Menschen darin ernährt …
Kritik:
In seinem Spielfilmdebüt The Quiet Girl erzählt Regisseur Colm Bairéad basierend auf der Novelle Foster [2010] von Claire Keegan die Geschichte eines Sommers im ländlichen Irland, die mit ihren ruhigen Beobachtungen eine emotionale Wucht entfaltet, die man kaum kommen sieht. Zurückhaltend und facettenreich gespielt, nähert sich das Drama behutsam Figuren, die allesamt so viel gelitten haben und einander Gutes tun. Sie auf ihrem Weg zu begleiten, ist herzerwärmend und ermutigend zugleich.
Zu Beginn des Sommers im Jahr 1981 entscheiden die Eltern der neunjährigen Cáit, dass sie die Ferien bei der etwa drei Autostunden entfernt lebenden Cousine von Cáits Mutter, Eibhlín, und ihrem Mann Seán verbringen soll. Cáit hat bereits drei ältere Schwestern und ein weiteres Geschwister im Babyalter. Ihre Mutter ist erneut schwanger und ihr Vater meint, Eibhlín und Seán könnten Cáit so lange behalten, wie sie wollen. Sie sei nur ein weiteres hungriges Maul, das es zu stopfen gilt. Er verbirgt vor Cáit nicht einmal, dass er ihre Mutter betrügt. Anstatt die Felder zu bestellen und das Heu einzuholen, verbringt er seine Zeit mit Pferdewetten, während Cáit und ihre Geschwister nicht einmal ein Pausenbrot für die Schule bekommen. Cáit erträgt all dies auf die einzige Art und Weise, die sie kennt: indem sie sich unsichtbar macht. Wenn sie im Feld liegt, oder sich unter ihrem Bett versteckt. Wie sehr sie von ihren Eltern vernachlässigt wird, ist vom ersten Moment an zu sehen, wenn sie mit schmutziger Kleidung in die Schule gehen muss, oder ungefragt von ihren Mitschülern Milch zu trinken stibitzt, als niemand hinsieht. Was Cáit bei ihrer Tante zweiten Grades erwartet, könnte für sie kaum ungewohnter sein. Nicht nur, dass sie tatsächlich gesehen wird, sie darf ein Bad mit heißem Wasser nehmen, erhält Essen und Trinken sowie saubere Kleidung. Eibhlín kümmert sich vom ersten Moment an mit einer fürsorglichen Wärme um sie, als wäre sie ihre eigene Tochter. Nur Seán wahrt eine Distanz, die Cáit nicht einzuschätzen weiß.
Unaufgeregt und beinahe, als wäre des Publikum stiller Begleiter der Geschehnisse, beobachtet The Quiet Girl, wie diese Figuren ihren Alltag verbringen, wie Cáit und Eibhlín frisches Wasser aus der Quelle holen, während Seán sich um die Kühe auf dem Hof kümmert. Kaum etwas wird ausgesprochen und was man über sie erfährt, muss man sich aus ihrem Verhalten oder den Einstellungen erschließen, mit denen Regisseur Colm Bairéad seinen mitunter geradezu verträumt malerisch bebilderten Film veredelt. Sei es der dunkle Fleck in Cáits Bett in ihrem Zuhause oder dass das Zimmer im Haus von Eibhlín und Seán mit einer Tapete versehen ist, auf der kleine Züge abgebildet sind. Aber auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen sprechen Kleinigkeiten Bände, ohne dass dies durch Worte unterstrichen werden muss. Bietet Eibhlín Cáits Vater frischen Rhabarber an, den er mit zurück nach Hause nehmen kann, und fällt ihm etwas herunter, bückt weder er, noch sie sich, um die Stangen aufzuheben. Die Fronten sind trotz einiger Höflichkeiten, die ausgetauscht werden, verhärtet, dass man die Luft schneiden könnte. Betritt ihr Vater auch sonst den Raum, verstummen Cáits Schwestern allesamt und senken den Blick.
Zwischen alledem sitzt Cáit, die vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben Güte und Freundlichkeit erfährt, Fürsorge und, ja, Liebe. Wie sehr sie danach sehnt, kann man in ihren Blicken sehen, wenn Seán anfangs kaum mit ihr spricht und es den Anschein hat, er würde sie nicht einmal wahrnehmen, oder bewusst umgehen. Sie sieht ihm nach, versucht wortlos, ihm auf dem Hof zu helfen und blüht auf, wenn sich eine Annäherung zwischen beiden abzeichnet, das Eis gebrochen wird. Cáit sucht und findet ein dem ebenso wie sie ruhigen Seán eine Vaterfigur, der sie rechtzeitig aus einem Moment befreit, in dem sie sich zunehmend unwohl und bedroht fühlt, während ihr eigener Vater sie in eine Bar mitnimmt, weil er dort trinken will, oder er sie offen als „Streunerin“ bezeichnet. Die Darstellung der Vernachlässigung, der Geringachtung dieses Mädchens durch ihre Eltern, vor allem ihren Vater, in The Quiet Girl mitzuerleben, bricht einem ebenso das Herz, wie beizuwohnen, wie sich ein zartes Band zwischen ihr und dem älteren Ehepaar entwickelt, dessen Umgang mit ihr und untereinander vom ersten Augenblick an eine Aura der Traurigkeit umgibt.
Was es damit auf sich hat, erkundet The Quiet Girl nach und nach, zeichnet ein Porträt all dieser Charaktere und gibt ihnen Raum, zu wachsen und sich zu entfalten. Insbesondere von Catherine Clinch in der Rolle der in sich gekehrten Cáit, die in jenem Sommer Zuversicht schöpft und besser Lesen lernt, als je zuvor, ist das mit so vielen Zwischentönen fantastisch gespielt. Gleichzeitig lassen Carrie Crowley und Andrew Bennett in ihren Blicken eine Hintergrundgeschichte erkennen, deren Narben man den Figuren in jedem Moment ansieht. Filmemacher Colm Bairéad beweist hierbei ein Fingerspitzengefühl und ein Talent für Bilder, die die Atmosphäre in jedem Augenblick greifbar werden lassen. Sei es, wenn sich Cáit in einem fremden Haus isoliert und allein gelassen fühlt, oder wenn die Erwachsenen zu Beginn aus ihrer Perspektive und kaum frontal eingefangen sind.
Es ist bedauerlich, dass Neue Visionen Filmverleih in Deutschland keine Blu-ray von The Quiet Girl anbietet, sondern einzig auf eine DVD-Veröffentlichung, oder eine digitale in HD setzt. Die DVD wartet zwar neben der deutschen Sprachfassung mit der irisch/englischen Originaltonspur mit Zwangsuntertiteln auf und auch ein 11minütiges Interview mit Regisseur Bairéad ist erfreulicherweise enthalten. Doch lässt die Bildqualität der DVD leider derart zu wünschen übrig, dass die tollen Bilder kaum zur Geltung kommen. Man fühlt sich mitunter gar daran erinnert, man würde eine Videokassette abspielen. Gerade in weiten Einstellungen verschwimmen Details in einem pixeligen Brei, den man selbst vor 15 Jahren nicht von einer DVD-Veröffentlichung erwartet hätte.
Ungeachtet dessen ist The Quiet Girl ein Drama, dessen Wärme lange bei einem bleibt. Wie ein Sommer, der einen auf dem Weg ins Erwachsensein prägt wie kein anderer. Man kann es kaum genug empfehlen.
Fazit:
Alle drei Figuren, die in jenem Sommer zueinander finden, sind zutiefst verletzt und es würde nicht überraschen, würden sie ihre Erwartungen an die jeweils anderen nicht erfüllen, sondern ihr Schmerz nur noch größer werden. Doch Filmemacher Colm Bairéad findet in dem ersten irischen Drama, das für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert war, eine Stärke in diesen Figuren, die trotz aller Tragik, die ihnen widerfahren ist, am Ende die Hoffnung auf Heilung in den Mittelpunkt rückt. Sanft und berührend gleichermaßen erzählt, blühen Cáit, Eibhlín und Seán auf, schöpfen Zuversicht und Vertrauen. Still, aber bei weitem nicht nichtsagend, gibt die Inszenierung den Charakteren den nötigen Raum, sich zu entfalten, lässt zarte Bande entstehen und gibt Blicken oder einem Zögern ein Gewicht, dessen Bedeutung sich einem aufmerksamen Publikum erschließt. Erstklassig bebildert, ist es eine fantastische Besetzung, die The Quiet Girl zum Leben erweckt, mit Herz und Charme, vor allem jedoch einer emotionalen Kraft, die einen unvermittelt trifft. Die unterschiedlichen Arten der Stille zu erleben, Cáits anfängliche auf Grund ihrer Furcht und Scham, später, weil die Gesellschaft dieser seelenverwandten Menschen die Stille zwischen ihnen sie wie eine wärmende Decke einhüllt, ist berührend herausgearbeitet. Die Geschichte unerwarteter Menschlichkeit lässt einen nicht los und ist ungemein bewegend, wenn man sich darauf einlässt.
The Quiet Girl ist seit 21. März 2024 auf DVD und als VoD von Neue Visionen Filmverleih erhältlich! |
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Urheberrecht des Bildes liegt bei Neue Visionen Filmverleih. Verwendet mit freundlicher Genehmigung. |