Samsara [2011]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. September 2012
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Samsara
Laufzeit: 102 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2011
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Ron Fricke
Musik: Marcello De Francisci, Lisa Gerrard, Michael Stearns


Hintergrund:
Gedreht an beinahe 100 Orten über einen Zeitraum von fast fünf Jahren in 25 Ländern (darunter Brasilien, Frankreich, Japan, China, Indien, Indonesien, Myanmar, Ghana, Äthiopien, Jordanien und den USA), markiert Samsara eine neue Gemeinschaftsarbeit von Regisseur Ron Fricke und Produzent Mark Magidson. Ohne Dialog oder Texterläuterungen entzieht sich der Film einer herkömmlichen Einordnung als Dokumentation. Die Filmemacher selbst sehen ihn als nonverbale, geführte Meditation. Die beispiellosen Bilder treten eine Reise von Katastrophenschauplätzen über die Metropolen der Welt an, bis hin zu Naturwundern und heiligen Orten zahlreicher Religionen. Die Verbindung des Altertums mit der Moderne ist allzeit zu sehen.
Aufgenommen auf detailreichem und eindrucksvollem 70mm-Film, teils mit einer speziell hierfür entwickelten Zeitraffertechnik, zeigt Samsara Bilder, welche die Brücke zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur schlagen. Und wie der Kreislauf des menschlichen Lebens den des Planeten widerspiegelt ...


Kritik:
Mit welcher Präzision buddhistische Mönche an einem Mandala arbeiten ist verblüffend. Die Konzentrationsfähigkeit, stunden-, tage- oder sogar wochenlang an jenen Sandbildern zu feilen, feinste Strukturen und Formen in perfekter Symmetrie zu erschaffen, scheint für viele, deren Leben von Uhren und Zeitplänen diktiert wird, unvorstellbar. Es ist eines der ersten Bilder, die Regisseur Ron Fricke in Samsara vorstellt. Am Ende seiner Reise zeigt er, was am Ende eines solchen Mandalas steht und unterstreicht damit, welche Aussagen er mit seinem Werk treffen möchte.

Welche Eindrücke auch immer das Publikum bei Samsara für sich aus dem Kino mitnimmt, jeder wird das Gesehene anders deuten. Es ist Frickes größte Errungenschaft, einen Bilderreigen zusammenzustellen, der wie sein meisterhaftes Werk Baraka [1992], mit einer wahren Flut an Reizen aufwartet und letztlich dennoch auf emotionaler Ebene berührt. Gedreht über beinahe fünf Jahre auf fünf Kontinenten und in insgesamt 25 Ländern, lässt sich Samsara erneut nicht in eine Filmkategorie einordnen. Ohne Erzählung, ohne Einblendungen und Erklärungen präsentiert Regisseur Fricke eine Auswahl an Bildern, die erlesener kaum sein könnten, und die ihre beinahe meditative Wirkung nicht zuletzt durch die musikalische Untermalung gewinnen. Doch sollte man sich keine Illusionen machen: So malerisch manche Naturaufnahmen sein mögen, so neugierig der Filmemacher wirkt, wenn er sich Naturvölkern nähert, die bislang unberührt scheinen, so schockierend sind andere Elemente und so unangenehm die Bezüge, die er dazwischen herstellt.

Lässt Baraka auch heute noch viel Raum für Spekulationen offen und entzieht sich einer klaren Deutung, ist die Aussage bei Samsara greifbarer, beinahe, als wolle der Filmemacher sie mit der Komposition der verschiedenen Eindrücke näher an die Oberfläche holen. So mögen die Szenenwechsel zwischen den menschenähnlichen Robotern und den Fabrikarbeitern zuerst zusammenhanglos erscheinen. Aber sieht man, wie hunderte Arbeiter am Fließband im Akkord arbeiten, stellt sich doch die Frage, was sie letztlich von Robotern noch unterscheidet.

Der schockierendste Abschnitt ist ohne Frage wie bei Baraka ebenfalls derjenige, der sich um die Massentierverarbeitung dreht. Was man oftmals in Zeitungsberichten zu lesen bekommt, oder in kurzen Abrissen in den Nachrichten, wird hier von einer anderen Seite aus erzählt. Man sieht nicht den Akt des Tötens selbst, vielmehr was davor und was danach geschieht. Und verweilt die Kamera am Ende ein paar Sekunden auf den Augen eines ansonsten im sterilen Anzug verhüllten Arbeiters dieser Tierfabrik, dann kann man darin sowohl eine gewisse Traurigkeit erkennen – wie auch eine Dankbarkeit, dass man durch die Anonymität der Arbeitskleidung in dieser großen Halle nicht für seine Taten identifiziert werden kann.

Fricke arbeitet mehr noch als zuvor mit Kontrasten, stellt Bezüge zwischen seinen unterschiedlichen Ansatzpunkten her. Zeigt er zuerst die Plastikliebespuppen, deren Gesichter mit großer Sorgfalt gefertigt werden, um ein ganz bestimmtes Klientel anzusprechen, fasst er daraufhin die nächste Stufe dieser Entwicklung ins Auge: Wie die Menschen ebenfalls zu einer solchen Konsumware werden.
Er zeigt Ruinen einer Jahrtausende alten Zivilisation, die im Wechsel zwischen Tag und Nacht von Gezeiten zu erzählen scheint, die kein jetzt Lebender je gesehen hat, und knüpft daran Bilder aus dem Katastrophengebiet von New Orleans nach Hurrikan Katrina an, die sich nur zu gut in die Erinnerung eingebrannt haben. Vormals überflutete Häuser, Schulen und Bibliotheken, in denen Schlamm und Schutt all das begraben haben, was man gemeinhin als Errungenschaft unserer Zeit benennen würde. Was wird davon in einem Jahrtausend übrig bleiben? Was macht uns so sicher, dass unsere Bauten die Jahrhunderte überdauern werden? In Kathedralen oder dem unbeschreiblich prunkvollen Saal im Schloss Versailles findet Samsara sofort den Gegenbeweis, doch können die Bedenken nicht ohne weiteres aufgehoben werden.

Ron Fricke beginnt die Reise in der Natur und bei naturverbundenen Völkern, um sich dann der Industrialisierung und dem modernen Mensch, seiner Technik und der Zivilisation selbst zu widmen. Wie diese die Naturvölker beeinflussen, sieht man nicht zuletzt an den Waffenlieferungen in jene Regionen. Und auch an den Müllfeldern und tonnenweise Elektroschrott, der in die Dritte Welt ausgelagert wird. Ist es Traurigkeit, die sich in den Augen jener afrikanischen Frau wiederfindet angesichts er Armut, die sich in der einstigen Wiege des Lebens ausgebreitet hat? Eine Anklage kann man darin nicht finden, gleichwohl sie berechtigt wäre. Wie dicht Reichtum und Armut beieinander liegen, sieht man an einem Flug über die Armenviertel, an welche Hochhäuser anschließen, bei denen jede Etage ihren eigenen Swimmingpool besitzt. Und sieht man die hochgewachsenen Häuser mit ihren unzähligen Satellitenschüsseln vor dem Panorama der alten Pyramiden, dann fragt man sich, was unser Vermächtnis sein wird – und ob wir in unserer Zeit den Blick für das, was um uns herum geschieht, welches Erbe wir angetreten haben, nicht schon verloren haben.

Findet Samsara nach etwas mehr als eineinhalb Stunden den Weg zum Anfang zurück, wird die Bedeutung des Titels spürbar. Als "immerwährender Fluss" der Geburt, des Lebens, des Todes und der Wiedergeburt, lässt sich das aus dem Sanskrit stammende "Sa?sara" übersetzten. Wie Baraka zuvor ist es ein filmisches Erlebnis, das sich kaum in Worte fassen lässt und mit Sicherheit kein großes Publikum anspricht. Diejenigen, die sich darauf einlassen, werden das Gesehene unterschiedlich deuten. Dabei wird es mehr Übereinstimmungen geben, als bei dem 20 Jahre zuvor veröffentlichten Werk. Aber auch Samsara versetzt immer wieder in Staunen und ist meisterhaft komponiert.


Fazit:
Es ist erstaunlich, wie Ron Fricke angesichts der vollkommenen Hoffnungslosigkeit in den Augen eines jungen Mädchens, das in einem Armenviertel zu leben scheint, den Blick für die Schönheit der Natur und der unterschiedlichen Kulturen bewahren kann. Samsara ist seit seinem ähnlich gelagerten Baraka Frickes erste Regiearbeit in beinahe 20 Jahren. Die Bilder, die er zusammenstellt, entfalten ihre volle Wirkung erst durch die musikalische Begleitung. Aber auch für sich genommen sind sie so grandios aufgenommen, dass beinahe aus jedem Moment ein Gemälde werden könnte. Die Bedeutungen, die sich für das Publikum erschließen, sind nach wie vor für jeden anders und ein jeder wird auch einen unterschiedlichen Schwerpunkt bei seiner Beobachtung setzen. Doch zeigt sich Samsara bisweilen leichter zugänglich und weniger abstrakt. Manch einer würde insbesondere bei den Folgen des Krieges behaupten, es wäre plakativ.
Nichtsdestoweniger gelingt Ron Fricke erneut ein filmisches Meisterwerk, ein Kunstwerk in bewegten Bildern, das aber nicht nur angenehme Eindrücke bereithält. Er zeigt die Vielseitigkeit unseres Planeten und das, was die Menschen damit anrichten. Nicht anklagend, aber vielleicht mahnender als bei seinem letzten Film. Ein grandioses Erlebnis in umwerfenden Bildern.