Mit 20 wirst du sterben [2019]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 21. August 2022
Genre: DramaOriginaltitel: You Will Die at 20 (Satamūt fīl-ʿišrīn)
Laufzeit: 103 min.
Produktionsland: Sudan / Ägypten / Deutschland / Katar / Frankreich / Norwegen
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Amjad Abu Alala
Musik: Amin Bouhafa
Besetzung: Islam Mubarak, Mustafa Shehata, Moatasem Rashed, Bonna Khalid, Talal Afifi, Mahmoud Elsarraj, Mazin Ahmed, Hassan Ali, Mohamed Khalil
Kurzinhalt:
Über die Geburt ihres Sohnes Muzamil könnte Sakina (Islam Mubarak) kaum glücklicher sein. Doch als sie ihn durch den Scheich segnen lassen will, wird ihr prophezeit, dass Muzamil mit 20 Jahren sterben wird. Für ihren Mann und Muzamils Vater Alnour (Talal Afifi) ist dies zu viel. Er geht ins Ausland, um dort zu arbeiten, so dass Sakina Muzamil allein großziehen muss. Als junger Mann ist Muzamil (Mustafa Shehata) einer der vielversprechendsten Talente im Dorf, man würde ihm eine große Zukunft als Geistlicher voraussagen, wäre die Prophezeiung nicht eindeutig. Von der Gottesfürchtigkeit seiner Mutter beeinflusst, hat sich Muzamil einem Leben fernab jeder Sünde verschrieben, weshalb er auch die Zuneigung von Naiema (Bonna Khalid) zurückweist, die er seit Kindertagen kennt. Doch dann lernt Muzamil den kürzlich in das Dorf zurückgekehrten Sulaiman (Mahmoud Elsarraj) kennen, der nicht nur viel herumgekommen ist, sondern der auch Filmrollen seiner Reisen mit zurückgebracht hat. Durch das private Kino erschließt sich Muzamil eine fremde Welt und er beginnt zu zweifeln, ob er anstatt ehrfürchtig sein Schicksal zu akzeptieren, nicht sein Leben in vollen Zügen genießen sollte. Und ob er seiner Bestimmung nicht entkommen kann …
Kritik:
Amjad Abu Alalas Mit 20 wirst du sterben erzählt von Hoffnungen und Träumen, von einem Glauben in Religion und Autorität, der das eigene Glück sowie das Leben gefährdet. Aber auch davon, was das Leben tatsächlich ausmacht. Als einer der wenigen Filme aus dem Sudan überhaupt, ermöglicht er einem breiten Publikum ein Blick in ein Land und eine Kultur, deren Figuren im Zentrum so alltägliche Wünsche haben wie überall sonst auch. Dem zu folgen, ist faszinierend, auch wenn sich vermutlich nur ein kleines Publikum darauf einlassen wird.
Die Geschichte beginnt mit Bildern, die einen Zug von Menschen durch die Wüste zeigen. Voran schreitet die Mutter Sakina mit ihrem Neugeborenen Muzamil. Der Scheich soll Muzamil segnen, doch ihr wird prophezeit, dass ihr Sohn mit 20 Jahren sterben wird. Muzamils Vater verlässt daraufhin die Familie. Er sagt, er könne nicht mit der Aussicht des Todes seines Sohnes leben, es ängstige ihn zu sehr. Muzamil selbst wächst mit einem ständigen Damoklesschwert über seinem Kopf auf, wird im Dorf gehänselt als „Muzamil – Sohn des Tods“. Einzig das Mädchen Naiema hält zu ihm. Wie belastend ein solch gesellschaftlicher Stempel sein muss, ist schon an den Fragen ersichtlich, die Muzamil seiner Mutter stellt. Unter anderem, wie er sterben wird, was die Prophezeiung nicht beantwortet. Oder, dass seine Mutter es nicht für nötig hält, ihm das Lesen beizubringen. Weshalb sollte er Dinge lernen, die er nicht benötigen wird?
Mit 20 wirst du sterben konfrontiert das Publikum mit der Frage, wie man selbst sein Leben verbringen würde, würde man wissen, wann man stirbt. Würde man furchtlos durch das Leben gehen, in der Überzeugung, nichts könne einem bis dahin etwas anhaben? Würde man leben, als gäbe es kein Morgen? Oder würde man es gar nicht erst versuchen, denn was immer man erleben würde, es wäre nicht von Dauer? Diese beiden Pole werden in der Geschichte durch Muzamils Mutter Sakina repräsentiert, und den Fremden im Dorf, Onkel Sulaiman, auf den Muzamil trifft, als er als junger Erwachsener Waren aus dem Laden zu Sulaiman bringen soll. Von seiner Mutter geprägt, die nicht nur bei den Geistlichen vorspricht, um das Schicksal ihres Sohnes abzuwenden, sondern die seit seiner Geburt Woche um Woche in einer Höhle durch Markierungen an der Wand sein Alter mitzählt, sieht sich Muzamil ebenfalls als gottesfürchtig, darauf bedacht, in dieser Welt alles richtig zu machen, damit in der nächsten das Paradies auf ihn wartet.
Sulaiman hingegen konfrontiert ihn mit einer Welt jenseits des Dorfes, die Muzamil nie gesehen hat. Der als Trunkenbold verschrieene Sulaiman war in Khartum, der Hauptstadt Sudans, aber auch in Europa, hat Filme gedreht und fremde Kulturen erlebt. Diese Filme saugt Muzamil in sich auf und während er ursprünglich dachte, eine Beziehung zu Naiema, in die er ebenso verliebt ist, wie sie in ihn und die sich eine Zukunft und Kinder mit ihm vorstellt, wäre eine Sünde, fragt er sich zunehmend, ob er nicht das Leben genießen sollte, solange er noch am Leben ist. Es mag seltsam anmuten, wie ein junger Mensch eine Prophezeiung über ihn als sein Schicksal annehmen mag, doch die Gottesfürchtigkeit und der tiefe Glaube sind derart stark in der Kultur verwurzelt, dass die Menschen das, was sie haben, als von Gott gegeben annehmen, so wie es dessen Wille ist, dass sie damit auskommen. So leben sie auch nicht in Armut oder voller Entbehrungen, sondern das Leben, von dem sie glauben, es sei ihnen bestimmt.
Es erklärt auch, weshalb Sakina Zeit seines Lebens den Tod ihres Sohnes beweint, ständig in schwarz gekleidet, wie ihr von einer der Dorfältesten gesagt wird. Oder dass Muzamil selbst den Tod wie ein ständiges Gewand trägt, er nie fröhlich wirkt, oder leidenschaftlich. Diese Aspekte fängt Filmemacher Amjad Abu Alala in Bildern ein, die teilweise aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Anstatt über die Figuren oder ihre Überzeugungen zu urteilen, stellt er sie lediglich vor, begleitet sie und zeigt die Auswirkungen ihrer Anschauungen. Die Gefahren, wenn blindlings akzeptiert wird, anstatt zu hinterfragen, und wenn das eigene Leben anderen Erwartungen unterworfen wird, werden dabei nicht nur an Muzamil und Sakina, sondern auch an ihren Liebsten deutlich. Es sind Aspekte, die Mit 20 wirst du sterben sehenswert machen, und seine Bedeutung über die Grenzen der gezeigten Kultur hinaus wichtig.
Fazit:
Wird vor Muzamils Augen sein Leichentuch vorbereitet, oder er selbst entsandt, den Weihrauch für seine eigene Beerdigung abzuholen, wirken diese Aspekte in Anbetracht des kerngesunden jungen Mannes geradezu unwirklich. Ebenso, dass er auf ein Leben mit der Frau, die ihn so sehr liebt, wie er sie, verzichtet, da er der Überzeugung ist, er würde sterben, allein, weil seinen Eltern dies prophezeit wurde. Doch anstatt auf diese Ansichten herabzuschauen, erweitert Amjad Abu Alala in seinem bemerkenswerten Spielfilmregiedebüt Muzamils Blick auf die Welt und zeigt seinem Publikum eine Kultur, die voller Wünsche, Träume, Ideale und Hoffnungen ist, erdrückt von Erwartungen der Gesellschaft und beschränkt durch die Umstände, in die man geboren wird. Stark gespielt, insbesondere von Islam Mubarak als Sakina, Mustafa Shehata als Muzamil und Bonna Khalid als die von ihm geliebte Naiema, erzählt Mit 20 wirst du sterben eine wichtige und erleuchtende Geschichte. Teilweise gekleidet in eine tolle Bildersprache, die sich selbst erklärt und doch für Interpretationen offen bleibt, ist dies zwar kein Film für ein großes Publikum, schon allein, weil er sich nicht an hierzulande gewohnte Erzählrhythmen hält. Doch das macht ihn nicht weniger eindrucksvoll, insbesondere vor dem Hintergrund seiner Entstehung.