Last Night in Soho [2021]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 2. November 2021
Genre: Drama / Horror / Krimi

Originaltitel: Last Night in Soho
Laufzeit: 116 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Edgar Wright
Musik: Steven Price
Besetzung: Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith, Diana Rigg, Terence Stamp, Michael Ajao, Rita Tushingham, Synnøve Karlsen, Margaret Nolan, Jessie Mei Li, Lisa McGrillis, James Phelps, Oliver Phelps, Sam Claflin


Kurzinhalt:

Ellie (Thomasin McKenzie) kann ihr Glück kaum fassen, dass sie in London Modedesign studieren darf. Die Bedenken ihrer Großmutter (Rita Tushingham), dass ihr die große Stadt zu viel sein könnte, schlägt sie in den Wind. Ellie hat eine Gabe, sie kann vergangene Dinge spüren und sehen, wie ihre verstorbene Mutter. In der Stadt angekommen, scheint ihr Mitstudent John (Michael Ajao) sich aufrichtig für sie zu interessieren, doch das WG-Leben selbst liegt Ellie nicht. Sie findet bei der älteren Ms. Collins (Diana Rigg) im Stadtteil Soho ein Zimmer, das im Stil der 1960er-Jahre gehalten ist. Bereits in der ersten Nacht findet sie sich in ihren Träumen im London in den 60ern wieder. Im Spiegel sieht sie nicht sich, sondern die junge Frau Sandie (Anya Taylor-Joy), die sich als Sängerin einen Namen machen will. Nacht für Nacht besucht Ellie diese Welt und muss mitansehen, wie Sandies Manager Jack (Matt Smith) sie ausnutzt und Schlimmeres. Als Ellie Sandies Mord beobachtet, steht für sie fest, dass sie Visionen der Vergangenheit hat. Und sie hat die Vermutung, dass der Mörder immer noch in Soho lebt …


Kritik:
Es scheint beinahe, als würde kein derzeit aktiver Filmemacher oder Filmemacherin ein solches Augenmerk auf die Verbindung zwischen Bilder und Musik legen, wie Edgar Wright. Wie zuletzt in Baby Driver [2017] ist die Musik in seinem neuen Werk Last Night in Soho Teil der Erzählung. Sie bestimmt hier aber weniger den Rhythmus, als die Stimmung. Die in Worte zu fassen, fällt schwer, immerhin handelt es sich im weitesten Sinn um eine Geistergeschichte, verborgen in einem Drama, verpackt in einen Krimi, der mehr als ein halbes Jahrhundert überspannt. Das klingt so verwirrend wie eine Seite mit Musiknoten für viele Menschen, bis Wright das Wirrwarr seiner Noten als eingängiges Lied spielt.

Das erzählt von der jungen Eloise, kurz Ellie, die im ländlichen England aufgewachsen ist und nun nach London geht, um dort ihren Traum zu verfolgen und Modedesign zu studieren. Ellie hat eine Gabe, sie kann Dinge spüren, oder sehen. Wie ihre Mutter, die sich das Leben nahm, als Ellie erst sieben Jahre alt war. Und während ihre Großmutter Bedenken hat, was sie in der großen Stadt erwarten wird, ist Eloise voller Tatendrang. Doch durch ihre Art, die Tatsache, dass sie sich in Musik und Mode der 1960er-Jahre verliebt hat, ist Ellie von Beginn an eine Außenseiterin. Nach Ernüchterungen durch das partyreiche WG-Leben zieht sie in ein Zimmer in der Stadt, das die ältere Ms. Collins vermietet. Das sieht ebenfalls so aus, als wäre es in den 60er-Jahren eingerichtet und nie renoviert worden. Direkt daneben liegt ein Bistro, dessen Reklame nachts das Zimmer rhythmisch in Neonfarben taucht.

All diese Details bieten die perfekte Bühne dafür, was nachts geschieht, wenn Ellie schläft. Denn dann taucht sie in ihre Umgebung förmlich ein und erwacht in diesem Viertel, im London in der Mitte der 1960er. Es ist eine glamouröse, schillernde Stadt, die vor Leben förmlich vibriert. Doch im Spiegelbild sieht Ellie nicht sich selbst, sondern eine junge, blonde Frau: Sandie. Wie sie selbst kam Sandie offenbar voller Tatendrang nach London, darauf aus, die Stadt und ihre Menschen im Sturm zu erobern und ihre Träume zu verwirklichen. Sandie möchte Sängerin werden, in einem der angesagtesten Nachtclubs der Stadt. Sie lässt sich auf einen der Angestellten ein, Jack, der ihr Ruhm und Reichtum verspricht.
Eben so, wie sich Last Night in Soho in diesem London der 1960er verliert, jede Faser der Stadt aufsaugt und die unvergleichlichen Farben wiedergibt, verliert sich Ellie in Sandie. Sie färbt ihr Haare blond, sucht sich Kleidung, die Sandie getragen hätte und durchmacht im Nu eine spürbare Verwandlung, auch was ihre Wesenszüge angeht.

Der Beginn von Wrights Film ist so unbeschwert, so viel versprechend was die Leben seiner Figuren anbelangt, dass der Wandel, der Absturz, umso plötzlicher kommt. Last Night in Soho entblättert diesen Glamour, hält dem glitzernden Nachtleben und den scheinbar unendlichen Parties einen hässlichen Spiegel vor. Denn Sandies Traum entpuppt sich als grausamer Alptraum. Ellie beobachtet Sandies Geschichte, die ausgenutzt wird, als Zeugin und erlebt sie durch ihre Augen gleichermaßen. Bis hin zu ihrem Mord.
Auf diese Weise wandelt sich die Erzählung von einem Drama hin zu einem Krimi, denn davon überzeugt, dass ihr Mörder heute noch in Soho lebt, macht sich Ellie auf, ihn zu finden und gerät dabei immer tiefer in die Welt der Geister, zu der sie eine besondere Verbindung hat.

Die ist es, die am meisten Kopfzerbrechen bereitet, wenn man beginnt, zu sehr über die Ausgangslage von Edgar Wrights Geschichte nachzudenken. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die Story in sich zusammenfällt, wenn man sie zu sehr hinterfragt. Nimmt man den übernatürlichen Aspekt jedoch einfach an und lässt sich von der Story mitnehmen, kann man sich sowohl mit den Figuren auf eine Reise begeben als auch von einer bestechenden Präsentation mitreißen lassen.
Ganz abgesehen von einem Soundtrack, der mehrere CDs mit eingängigen Klassikern füllen würde, ist die Optik allein schlicht überragend. Die Farben sind gerade im London der 60er-Jahre bestechend, sämtliche Perspektiven hervorragend gewählt, ist es doch nicht zufällig, wann Ellie in ihren Träumen Sandies Welt durch einen Spiegel betrachtet, oder wann sie in ihre Rolle schlüpft. Auch der Wechsel zwischen diesen Welten ist gleichermaßen fließend und doch wie in einem Traum. Dass Bilder und Musik hier einmal mehr eine Einheit bilden, der Geschichte gewissermaßen eine zweite Ebene eröffnen, ist schlicht umwerfend dargebracht.

Es lässt erahnen, mit wie viel Planung, wie viel Aufwand Wright ein Projekt wie Last Night in Soho umsetzt, in dem jede Szene, jeder Blickwinkel exzellent choreografiert ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen hält der Filmemacher diesen Anspruch auch bis zum Ende aufrecht, selbst wenn beim Finale die Schockeffekte mehr für Unwohlsein sorgen sollen, als die Finsternis, die die Figuren erfahren haben. Es kaschiert nur zum gewissen Teil, dass die Auflösung für ein aufmerksames Publikum nicht so überraschend kommt, wie erhofft. Doch sind das kleine Makel bei einem Werk, das vor Charme und Einfallsreichtum geradezu sprüht.


Fazit:
So unvereinbar der Genremix klingen mag, es gelingt Regisseur Edgar Wright mit einer unvorstellbaren Leichtigkeit, die Stimmung der Erzählung zu drehen. Von den idealistischen Hoffnungen und Träumen zu Beginn, zu der verrottenden Gesellschaft hinter dem Glamour des fabelhaft zum Leben erweckten London in den 60er-Jahren, über das Drama einer gebrochenen Figur und der Verzweiflung Ellies, alldem nur beiwohnen zu können, ohne es zu ändern, bis hin zu dem Noir-Krimi, wenn es ihr darum geht, einen Mord aufzuklären, während die Welt der Geister sie immer stärker im Griff hat. Visuell eine absolute Wucht, lebendig, detailliert und stimmungsvoll umgesetzt, besitzt Last Night in Soho gleichermaßen eine fantastische Stimmung und eine ebenso eindrucksvolle Bildersprache mit einem makellosen Design beider Welten. Hierzu trägt auch die Besetzung bei, von der Thomasin McKenzie und Anya Taylor-Joy gleichermaßen preiswürdig hervorstehen. Beide beweisen hier, weshalb sie zu den vielversprechendsten Talenten ihrer Generation gehören, nicht zu vergessen die hervorragenden Gesangseinlagen von Anya Taylor-Joy. In Anbetracht dieser Eindrücke fallen Kritikpunkte wie das Finale, das sich trotz der unheimlichen Stimmung zu sehr auf bekannte Schreckmuster verlässt, oder die inhaltlich weit weniger überraschende Auflösung, als der Film selbst glauben mag, kaum ins Gewicht.
Toll!