Die Nacht der Nächte [2017]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 6. Februar 2018
Genre: Dokumentation

Laufzeit: 97 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2017
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Yasemin & Nesrin Şamdereli
Musik: Dürbeck & Dohmen
Personen: Hildegard & Heinz Rotthäuser, Kamala & Hampana Nagarayya, Shingeko & Isao Sugihara, Norman MacArthur & Bill Novak


Hintergrund:

Es klingt wie ein antiquiertes Gesellschaftsbild: Mit einem Partner bzw. einer Partnerin verheiratet sein – ein Leben lang. Die Filmemacherinnen Yasemin und Nesrin Şamdereli haben vier Paare gefunden, die jeweils seit mehr als einem halben Jahrhundert zusammen sind. Darunter Bill und Norman, die im US-Bundesstaat Pennsylvania lebend einander adoptierten, um in ihrer Beziehung abgesichert zu sein, da eine gleichgeschlechtliche Ehe bis vor Kurzem nicht möglich war. Aber auch Kamala und Hampana, die über das strenge Kastensystem in Indien hinweg zueinander gefunden haben und dafür mit ihren Familien brechen mussten, welche sogar mit Selbstmord angesichts der skandalösen Beziehung gedroht haben. Neben einem japanischen Ehepaar, das zwangsverheiratet wurde und anfangs gar nichts von romantischer Liebe wusste, wird auch ein deutsches vorgestellt. Die Regisseurinnen gehen dabei ihrem Geheimnis für diese außergewöhnlich langlebigen Beziehungen auf den Grund. Denn so unterschiedlich die gezeigten Kulturen sind, so verschieden ihre jeweiligen Geschichten, es gibt doch Gemeinsamkeiten, die sie alle verbinden.


Kritik:
In ihrer Dokumentation Die Nacht der Nächte stellen die Regisseurinnen Yasemin und Nesrin Şamdereli, die sich hier fernab des Genres ihrer mehrfach preisgekrönten Tragikomödie Almanya – Willkommen in Deutschland [2011] bewegen, vier Paare vor, die jeweils seit mehr als 50 Jahren zusammen sind. In einer Zeit, in der es schwierig genug scheint, vier Paare zu finden, die zusammengerechnet so viele gemeinsame Jahre verbracht haben (immerhin werden ca. 40 % der geschlossenen Ehen in Deutschland wieder gelöst*), gehen sie der Frage nach, weshalb diese vier so unterschiedlichen Verbindungen so lange gehalten und wie sie überhaupt zueinander gefunden haben. Das mag im ersten Moment nach einer Vorstellung von für eine moderne Tinder- und Dating-Plattform-übersättigte Gesellschaft antiquierten Moralwerten klingen, ist aber ebenso interessant wie berührend. Und vor allem auch ermutigend.

Die vier Paare verteilen sich insgesamt auf drei Kontinente. Hildegard und Heinz stammen aus Deutschland, Kamala und Hampana leben in Indien. Die Ehe von Shingeko und Isao wurde gegen ihren Willen in Japan arrangiert, während Norman und Bill international Schlagzeilen gemacht haben als es hieß, dass Vater und Sohn einander heiraten wollten.
Eine Erzählerin bzw. einen Erzähler gibt es in Die Nacht der Nächte nicht, niemanden, der offene Fragen stellt oder die Gespräche der Interviewten führt. Stattdessen sprechen diese Personen von sich aus – und gleichermaßen für sich. Erzählen sie von ihrem Werdegang, der sich irgendwann überschnitt und seither untrennbar mit dem der Partnerin bzw. des Partners verbunden ist, gibt dies durchaus intime Einblicke in ihr Privatleben preis, ohne dass man sich jedoch wie ein Voyeur fühlen würde. Dabei sprechen die Paare überraschend ehrlich, auch über Themen, bei denen man vermuten würde, sie wären ihnen unangenehm. Selbst nach Jahrzehnten möchte man Anekdoten über die ersten gemeinsamen sexuellen Erfahrungen wohl kaum mit der Welt teilen, oder doch? Das ist unerwartet und doch gleichermaßen befreiend.

Dabei strukturieren die Filmemacherinnen ihre Dokumentation in verschiedene Bereiche, so dass die vier Paare immer wieder abwechselnd zu ähnlichen oder denselben Themen erzählen. Nach einer kurzen Vorstellung der acht, geben diese einen genaueren Einblick in ihr Leben. Diejenigen von Shingeko und Isao sowie Kamala und Hampana gehören zu den bewegendsten, bedenkt man, was sie jeweils durchgemacht haben. Es berührt, wenn das japanische Paar von dem zehrenden und problematischen Anfang zusammen erzählt, oder sie – beide mehr als 80 Jahre alt – vom eigenen Tod sprechen. Aber auch wenn sie von Dingen berichten, die sie bereuen, ihre Gesichter zu sehen, den Stolz in ihrer täglichen Routine, der Familie und der Verbundenheit, lässt ihre Erzählung nicht bitter oder melancholisch erscheinen.

Zwischen den Interviews streuen die Regisseurinnen liebevoll und detailverliebte Knetanimationen ein, welche die vier Paare portraitieren. Sie verdeutlichen in unnachahmlicher und gelungener Weise, was das jeweilige Paar auszeichnet, ihre Geschichte so besonders macht, oder was bei dem gerade gezeigten Interview im Raum stand, ohne ausgesprochen zu sein. Es ist ein kreatives Stilmittel, das auf den ersten Blick eigenwillig erscheint, aber zur Leichtfüßigkeit der Dokumentation beiträgt.
Auch die Bilder sind toll ausgewählt, geben den Personen Raum, sich zu öffnen, zeigen sie aber trotzdem in ihrem natürlichen Umfeld. Ihre häuslichen Umgebungen rücken die persönliche Geschichte in einen Kontext, der ihren Werdegang lebendig beschreibt und die Momentaufnahme, welche die Dokumentation ansonsten darstellen würde, erweitert.

Dabei gelingt es Yasemin und Nesrin Şamdereli, die kleinen Gesten der Paare untereinander einzufangen, wie eine Klinge abzudecken, als der oder die andere daran vorbeigeht. Es sind Kleinigkeiten, die doch verdeutlichen, wie diese Menschen auch nach einem halben Jahrhundert gemeinsam miteinander umgehen.
Die Nacht der Nächte steckt voller kleiner, berührender Momente. Einigen ergreifend traurigen, ohne dass sie bewusst von den Interviewenden herbeigeführt werden müssen, sondern weil die Interviewten selbst so nachdenklich werden, und ebenso vielen herzlichen Situationen.

Sieht man, wie eine Person des Paares lacht und dieses Lachen den bzw. die andere ansteckt, sie ebenfalls zu lachen beginnt, oder wenn einer traurig ist angesichts der vorgebrachten Erinnerung und auch diese Stimmung auf den Partner / die Partnerin übergeht, dann wird das Band zwischen diesen Menschen offensichtlich und greifbar.
Obwohl es manch einem Publikum zu wenig „besonders“ erscheinen mag, dies auf der großen Leinwand zu sehen, es macht die Geschichten dieser vier Paare nicht weniger sehenswert.


Fazit:
Anstatt nur die Gemeinsamkeiten der jeweiligen Paare in den Mittelpunkt zu rücken, stellen die Regisseurinnen Yasemin und Nesrin Şamdereli auch die Differenzen vor, die diese acht Menschen im Laufe ihrer Zeit hatten und die schon deshalb immer noch im Raum stehen, weil man die Vergangenheit nicht ändern kann. Vor allem stellen die Filmemacherinnen heraus, dass auch diese Unterschiede und die Art, wie die Paare mit ihnen umgegangenen sind, dazu beigetragen haben, dass die Beziehungen so lange halten. Zwar gibt Die Nacht der Nächte seinem Publikum keine magische Formel mit auf den Weg, mit der sich eine lebenslange Beziehung realisieren lässt, der Dokumentation gelingt allerdings ein behutsam dargebrachter, ehrlicher Blick auf diese acht miteinander verbundenen Leben. Es ist eine der wenigen Dokumentationen, die einen zum Lächeln bringt, aber auch zum herzhaft Lachen; die mitfühlen lässt und – was sicherlich am wichtigsten ist – inspiriert. Ohne zu belehren, und ohne diese Menschen mit modernen Moral-, Werte- und Gesellschaftsvorstellungen zu belächeln (oder eben jene als frevelhaft zu verdammen), aber auf eine Weise, dass man hoffen kann, selbst irgendwann zurückblicken zu können auf ein Leben, das nicht allein, sondern mit diesem einen Menschen gemeinsam geführt, erfüllter war. Ein schönes Film-Erlebnis.


* „Scheidungsquote in Deutschland von 1960 bis 2016“ bei statista.com