Gregory Benford: "Zeitschaft" [1980]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 19. August 2013
Autor: Gregory Benford

Genre: Science Fiction

Originaltitel: Timescape
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 499 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1980
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1982
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-553-29709-6


Kurzinhalt:
Im Jahr 1998 rächt sich, was die Menschen dem Planeten schon seit Jahrzehnten angetan haben. Das Waldsterben ist nur ein Aspekt der sich häufenden Naturkatastrophen. Seit einiger Zeit "blühen" in den Weltmeeren Algen wie ein Krebsgeschwür, das den Haushalt dieses Lebensraums zerstört – und damit letztlich auch die Lebensader der Menschheit. Krankheiten und Armut werden durch die Lebensmittelrationierung und Stromkonservierung nur verschlimmert. Die Welt steht kurz davor, unterzugehen. Da es keinen Ausweg zu geben scheint, greifen die Wissenschaftler John Renfrew und Gregory Markham in Cambridge zu einem Experiment, das für das Mitglied des Weltrates, Ian Peterson, zu fantastisch erscheint, um wahr zu sein: Sie wollen mit Hilfe von Tachyonen eine Nachricht in die Vergangenheit schicken, um die Katastrophe abzuwenden. Aber wie sollen sie wissen, ob es funktioniert?
Auf der anderen Seite der Welt in Kalifornien im Jahr 1962 entdeckt der Wissenschaftler Gordon Bernstein zusammen mit seinem Studenten Albert Cooper ungewöhnliche Störsignale bei einem Experiment. Sie entdecken schließlich, dass sich darin ein Muster verbirgt, das sich mit Morsecode entschlüsseln lässt. Aber so aufregend und revolutionär eine solche Nachricht sein mag – wo kann sie herkommen? Nicht nur, dass die enthaltenen Bezeichnungen keinen Sinn zu ergeben scheinen, als bekannt wird, wie sie an die Daten gekommen sind, macht sich Bernstein zum Gespött, nicht nur seiner Universität, sondern beinahe seines gesamten Berufsstandes ...


Kritik:
Gregory Benfords Zeitschaft gilt schon lange als Klassiker des Genres. Der Autor, der außerdem ein anerkannter Astrophysiker ist und für sich beansprucht, über Computerviren bereits Ende der 1960er Jahre geschrieben zu haben, also lange, bevor es sie tatsächlich gab, ist bekannt dafür, "harte Science Fiction" zu schreiben. Im Vergleich zu normaler Science Fiction-Unterhaltung, konzentriert er sich auf den wissenschaftlichen Aspekt und präsentiert auch in seinem ersten, großen Roman Themen, die in der Wissenschaft wirklich diskutiert werden. Und sei es nur theoretisch. Darum richtet sich das Buch, das seinerzeit unter anderem den renommierten Nebula Award gewann, vornehmlich an eine wissenschaftliche Leserschaft mit einem Faible für Science Fiction. Allerdings ist nicht jeder Science Fiction-Fan gleichermaßen wissenschaftlich versiert – und anstatt die vielen Figuren dazu zu nutzen, die komplexe Materie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, beschränkt sich Benford leider auf seinesgleichen.

Über 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung, scheint Zeitschaft umso greifbarer und beinahe prophetisch. Die Geschichte ist in zwei Storyebenen aufgeteilt, die zeitlich gleich weit vom Entstehungsjahr des Romans auseinander liegen. Im Jahr 1998 steht die Erde kurz vor dem Kollaps; zu Umweltkatastrophen wie ein unkontrolliertes Algenwachstum, welches das Ökosystem der Meere zerstört, reihen sich sozialen Unruhen auf Grund der Nahrungsknappheit und des unausgewogen verteilten Reichtums. An der Universität von Cambridge in Großbritannien versuchen zwei Wissenschaftler, eine Botschaft in die Vergangenheit zu senden, um die Menschen dort zu warnen. Dies soll mit Hilfe von Tachyonen gelingen, die schneller als das Licht sind und so auch in der Zeit zurückreisen können. Was sich anhört wie ein Story-Element aus einer Star Trek-Serie, ist bereits seit 45 Jahren in der Welt der Wissenschaft bekannt (zumindest laut Eintrag in der Wikipedia) und auch wenn es sich um ein hypothetisches Teilchen handelt, es scheint zumindest akzeptiert.
Der zweite Storyfaden beginnt im Jahr 1962, in dem ein junger Wissenschaftler in Kalifornien Abweichungen bei einem Experiment feststellt. Als Morsecode dekodiert, scheinen sie keinen Sinn zu ergeben – Bruchstücke sind verständlich, Vieles aber nicht oder nicht richtig.

Die Herausforderung für einen Wissenschaftler ist es wohl, sich in einer Materie zurechtzufinden, die bis dahin noch niemand erforscht hat. Wie soll Gordon Bernstein im Jahr 1962 Dinge verstehen, die seiner Zeit mindestens 10 oder 20 Jahre voraus sind? Für die Wissenschaftler in der Zukunft ist die viel wichtigere Frage, was geschieht mit ihnen, wenn die Vergangenheit wirklich geändert wird? Hören sie auf zu existieren? Oder ist ihre zerstörte Welt schon das Ergebnis ihres Versuchs, ihr Schicksal abzuwenden?
Es sind diese Momente, die Zeitschaft ausmachen und so interessant der Auftakt des Romans, so gelungen und vielschichtig ist auch das letzte Drittel. Es ist der Mittelteil, der Gregory Benford nicht wirklich gelingt.

Er zeichnet zwar ein Bild einer (damaligen) Zukunft, die ebenso verheerend wie hoffnungslos ist. Doch statt ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie die Situation auf der ganzen Welt ist, konzentriert er sich auf einen kleinen Ausschnitt von nicht einmal einer Handvoll Figuren. Von den leitenden Wissenschaftlern ist John Renfrew nicht wirklich sympathisch. Seine Ehe mit Marjorie leidet ebenso unter ihr, wie unter seiner Arbeit, die er zu Recht als so wichtig erachtet, dass er dafür die Welt um sich herum vollkommen vergisst. Der Frauenheld Ian Peterson, der als Liaison des Weltrats zum Experiment stößt, ist trotz des nahenden Endes des Planeten an seinen weiblichen Eroberungen interessiert und stets auf seinen Vorteil bedacht. Es gibt ein paar Versuche des Autors, Peterson stellvertretend für die unwissende Leserschaft die komplexe Thematik nahe zu bringen, aber bevor er zum Ende kommt, scheint Benford aufzugeben.
Ebenso bei der zweiten Handlungsebene mit Bernstein und seiner Freundin Penny. Sie hätte ihrerseits als Sprachrohr des Science Fiction-interessierten Publikums dienen können, dem die zugrunde liegende Physik erklärt werden könnte, aber stattdessen stürzt sich der Roman auf die sozialen Hintergründe der Charaktere. Vermutlich muss man ein Teil jener Kulturen sein, um einerseits den Zusammenprall der Mentalitäten der Ostküste (New York) und Westküste (Kalifornien) zu verstehen, den Gordon und Penny symbolisieren sollen. Beziehungsweise die unterschwellige Aversion der Briten gegenüber den Amerikanern bei Renfrew und Peterson. Angesichts der Bedeutung ihrer Arbeit und im Jahr 1998 auch des immensen Zeitdrucks, scheinen diese Querelen aber unbedeutend und in gewissem Sinn fehlplatziert. Zeitschaft entwickelt aus der drängenden Zeitnot nie eine wirkliche Spannung oder ein mitreißendes Element. Vielmehr fragt man sich, wie sich in den Jahren 1962/63 die Ereignisse so hinziehen können.


Fazit:
Das Nachwort von Susan Stone-Blackburn erklärt viele Aspekte von Zeitschaft und unterstreicht die vielen Zusammenhänge, die der Autor in unterschiedlichen Passagen zu seinem Thema herstellt. Vermutlich werden sich tatsächliche Wissenschaftler in den Figuren eher wiederentdecken können. Autor Gregory Benford meinte angeblich, dass dies sein persönlichstes Werk sei – das ist unbestritten. Ebenso, dass es ihm gelungen ist, die Grenzen von wissenschaftlicher Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen zu lassen. Wer aber vermutet, dass er wie beispielsweise Michael Crichton um seinen Storykern einen packenden Technothriller entwerfen würde, der irrt. Zeitschaft zeigt gleichermaßen die Höhen und Tiefen der wissenschaftlichen Forschung, wie die Auswirkungen und Spiegelbilder, die sie in den persönlichen Leben der ausführenden Physiker erzeugen. Er widmet sich den unterschiedlichen Gesellschaftspolen und findet immer wieder Schaubilder, die ihre Zusammenhänge mit mathematischer Genauigkeit beschreiben. Es ändert nichts daran, dass kaum eine Figur wirklich sympathisch erscheint, oder ihre Verhaltensweisen gerade im privaten Bereich selten nachvollziehbar sind.
Aber auch wenn die "harte" Science Fiction bewanderten Lesern vertrauten Boden bieten mag, einem weniger informierten aber interessierten Publikum bleibt Vieles davon vorenthalten. Dass Benford für seine Auflösung auf einen der einschneidendsten Momente der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückgreift, ist treffend. Seine subtilen Änderungen könnte man eingangs beinahe überlesen. Auch seine Auflösung dessen, wie sich ein solches Paradoxon einer Mitteilung in die Vergangenheit, die diese aber so verändert, dass die Nachricht gar nicht mehr erst gesendet würde, ist anschaulich und verständlich, bietet aber dennoch Raum für Interpretation. Insofern finde ich es schwer, das Buch nicht als Klassiker zu bezeichnen, auch wenn ich mich oft fühlte, als würde ich einer Vorlesung über Quantenphysik zuhören. Es ist nicht, dass man alles, was besprochen würde, als unverständlich empfindet, aber es bleibt der Eindruck, dass man nicht das eigentliche Zielpublikum darstellt. Das mag fachvertrauten Lesern aber anders ergehen.