John Katzenbach: "Der Patient" [2002]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 11. September 2005
Autor: John KatzenbachGenre: Thriller
Originaltitel: The Analyst
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 501 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 2002
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2006
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-345-42627-4
Kurzinhalt:
An seinem dreiundfünfzigsten Geburtstag erhält der in New York ansässige Psychoanalytiker Dr. Frederick Starks einen Brief, der ihn im Eröffnungssatz zum ersten Tag seines Todes einlädt. Von einem unbekannten Autor namens Rumpelstilzchen stammend offenbart der Brief, dass der Autor einmal eine Rolle in Starks Vergangenheit gespielt habe, und dass Starks sein Leben ruiniert hätte – er wolle nun das Leben des Doktors gleichermaßen ruinieren und gewährt ihm fünfzehn Tage Zeit, seine Identität herauszubekommen und diese in einer Zeitungsannonce zu veröffentlichen. Andernfalls werde Rumpelstilzchen ein Mitglied von Starks Verwandtschaft – mit der der Arzt seit dem Tod seiner Frau ohnehin kaum Kontakt pflegt – zerstören. Einen Ausweg gewährt der Drohbrief Frederick Starks allerdings noch: Der Doktor könne sich auch das Leben nehmen und das Spiel so selbst vorzeitig beenden.
Wie paralysiert versucht Starks, die Auswirkungen des Briefes zu verstehen, als sich die Ereignisse überschlagen, so wird er des Vergehens an einer Patientin bezichtigt und diskreditiert, und es scheint auch, als würde er Tag und Nacht verfolgt – nicht zuletzt scheint es, als schrecke Rumpelstilzchen nicht davor zurück, endgültigere und erbarmungslose Mittel einzusetzen, um die Menschen zum Schweigen zu bringen, die Starks in das tödliche Katz-und-Maus-Spiel einzuweihen versucht. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem der Jäger dem unterlegenen Analytiker immer mehrere Schritte voraus scheint ...
Kritik:
Wer sich den Inhalt von The Analyst ansieht, wird sich ein wenig an den Hollywood-Thriller The Game - Das Geschenk seines Lebens [1997] erinnert fühlen, in dem Michael Douglas Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Doch erkennt man bei The Analyst – das immerhin drei Jahre alte Buch wurde bislang leider nicht ins Deutsche übersetzt – recht schnell, dass es sich keineswegs um ein ungewöhnliches Katz-und-Maus-Spiel handelt, sondern um einen perfiden Racheplan des Menschen, an den sich Dr. Frederick Starks nicht erinnern kann und dessen Verbindung herzustellen, seine einzige Überlebensmöglichkeit ist.
Was Autor John Katzenbach hier gelingt sind neben vielerlei psychologischen Erkenntnissen vor allem eine präzise und sehr ungewöhnliche Charakterisierung der Hauptfigur, die in den 500 Seiten eine erstaunliche Wandlung durchmacht. Doch leider ist das nicht allein auf das Ultimatum zurückzuführen, das Rumpelstilzchen seinem Opfer stellt – stattdessen erfährt der Roman nach etwas mehr als der Hälfte des Buches, dann nämlich, wenn der zweite von den drei Akten beginnt, einen fundamentalen Knick, der aber bis zum Beginn des dritten Aktes vieles von der beängstigenden, immer persönlicher und enger werdenden Dynamik des tödlichen Spiels von Rumpelstilzchen herausnimmt.
Dass auch in The Analyst das Internet als universelle Fundgrube für Identitäten, Verwandtschaften und beste Möglichkeit für die Beschaffung neuer Identitäten herhalten muss, ist zwar ein Klischee und auch nicht wirklich schlüssig, aber wenn er Starks am eigenen Leib erfahren lässt, dass eine Behauptung immer stärker wirkt, als der Gegenbeweis, eine große, doch unwahre Überschrift in der Tageszeitung viel mehr wiegt, als die Richtigstellung am Tag darauf, trifft er einen der größten Schwachpunkte der heutigen, vernetzten und global informierten Welt auf den Kopf.
Inhaltlich wirft der Autor den Leser in das ruhige, geordnete Leben des Psychoanalytikers Frederick Starks, der als relativ einsamer, trauriger Mann geschildert wird, der sich mit seiner Passivität arrangiert hat und den Tod seiner Frau dadurch zu verarbeiten versteht, dass er sich einem geregelten Tagesablauf widmet. Wie schnell sein Leben aus der Bahn gerät, erfährt man in den ersten 50 Seiten – und wenn im Folgenden das Spiel um sein Leben oder das seiner Angehörigen immer konkretere Formen annimmt, ja Rumpelstilzchen darauf aus ist, seine Existenz richtiggehend zu zerstören und im Stundentakt die Regeln des Spiels ändert, um Starks am Herausfinden seines Namens zu hindern, nimmt auch der Roman immer mehr Fahrt auf und entwickelt sich schnell zum so genannten "Page-Turner", ein Buch, bei dem man immer weiterblättern muss. Katzenbachs Vorteil ist hier, dass die Erlebnisse von Starks alles andere als unglaubwürdig sind, seine Existenz durch einfache Beschuldigungen sowie durch kleinste Tricks seines Gegners in ihren Grundfesten erschüttert wird und dem Protagonisten die Zeit in den Händen verrinnt. Diese Unvorhersehbarkeit, die Starks immer mehr Freiheiten beraubt und ihn paralysiert, macht den Reiz der ersten Romanhälfte aus.
Doch was folgt, ist eine grundlegende Richtungsänderung, in der sich zwar die Hauptfigur wandeln muss, um Rumpelstilzchen gewachsen zu sein, doch dessen Verwandlung scheint bisweilen nicht nur arg übertrieben, sondern auch nicht wirklich schlüssig. Statt Rumpelstilzchen mit Starks Waffen zu schlagen, muss er sich seinem Gegner angleichen – anders herum wäre es interessanter und auch nachvollziehbarer gewesen.
Dennoch bleibt The Analyst durchgehend überraschend und entpuppt sich dank vieler Ortswechsel und einer komplexen Hintergrundgeschichte sehr interessant für den Leser – einzig, dass es nur eine Hauptfigur gibt und dessen Interaktion mit anderen Figuren sich meist nur auf kurze Gespräche konzentriert, enttäuscht etwas. Dass es letztlich nicht darum geht, dass Starks sich und ein anderes Leben in der zweiten Hälfte schützen muss, mindert auch die Bedrohlichkeit, der der Charakter gegenübersteht, immerhin hat er – wie im Roman mehrfach erwähnt wird – nichts mehr zu verlieren.
Die Charakterzeichnungen sind es jedoch, die The Analyst weit über den Durchschnitt hinweg heben; nicht nur, dass Starks, der ansich ja ein Meister darin ist, andere Menschen einzuschätzen, hier selbst in vielerlei Szenen mikroskopisch genau untersucht wird, auch wie er im Verlauf des Buches die Schwachstellen seiner Gegner entdeckt und sie gegen sie einsetzt, macht wirklich Spaß zu lesen.
Weswegen aber Starks, dessen Status als Witwer grundlegend interessant ist und der auch von Grund auf sympathisch, wenn auch eremitisch, geschildert wird, nie seine Gefühle für seine verstorbene Frau zum Ausdruck bringt, ist ein Rätsel. Dadurch wirkt er unnötig unterkühlt und das selbst in der Erinnerung an die Zeiten mit ihr.
Der Verwandlung beizuwohnen, der Frederick Starks unterläuft, ist nicht nur in dem Sinne sehr lehrreich, dass man etwas über das Potential erfährt, das in einer so unscheinbaren Person schlummert. Die Reise zur Selbsterkenntnis und der eigenen, möglichen Entscheidungen offenbart dem Leser auch viel über sich selbst. Hier liegt die Stärke von John Katzenbachs Roman, die dank der subtil eingewobenen, gerade im letzten Drittel sichtlich ausgebauten Charakteristika von Starks Gegenspielern noch an Bedeutung gewinnt und die Motivation zum Weiterlesen auszeichnet.
In wenigen Sätzen umschreibt Katzenbach auch eine Nebenfigur mit Ecken und Kanten, mit einer Vergangenheit und einer unter Umständen möglichen Zukunft, und die Tatsache, dass selbst wenig geforderte Figuren mit einer Beschreibung ihrer Kleidung, ihrer Haltung und ihrer Ausdrucksweise so detailliert und lebensnah beschrieben werden, ist ein Verdienst des Autors, dem so viele interessante und doch irgendwie geheimnisvolle Figuren gelingen. Dass Frederick Starks am meisten zu tun bekommt und auch den facettenreichsten Hintergrund besitzt, ist offensichtlich, doch wird es über die gesamte Romanlänge hinweg nie langatmig oder wiederholend, wenn man neue Aspekte seines Charakters – und dessen, wozu er trotz seiner Ruhe in der Lage ist – erfährt, auch wenn etwas Potential hier nicht genutzt wurde.
Es gibt Leser, die The Analyst vorwerfen, dass die erste Hälfte mit Starks Inaktivität zu ruhig und lang geraten wäre, allerdings bringt dies genau das zum Ausdruck, was Katzenbach mit seiner Aufteilung in drei Akte erreichen wollte: In seinem Roman beschreibt er, wer Frederick Starks war, wie er sich wandelt und was er zu werden in der Lage ist. Dramaturgisch gibt es dabei kaum etwas zu bemängeln. Der erste Akt zieht seine Spannung aus der Lage, die sich für Starks immer weiter zuspitzt, wohingegen der letzte Akt mit den ersten, großen Erkenntnissen über die Identität von Rumpelstilzchen und die Verbindung in Starks eigene Vergangenheit und dem spannend erzählten Finale zu überzeugen weiß. Einzig beim zweiten Akt fühlt man sich als Leser vom eigentlichen Geschehen ausgeschlossen, man beobachtet vielmehr, wie Starks zu einer Figur wird, die Rumpelstilzchen die Stirn bieten muss. Die Wandlung vorzuführen war sicher notwendig und ist auch nicht uninteressant geschildert, doch nicht so packend, wie die übrigen Elemente des Romans.
Sprachlich gibt sich John Katzenbach in seinem neunten Roman etwas schwerer zugänglich, als man das beispielsweise von aktuellen Pop-Literatur-Autoren wie Michael Crichton oder Dan Brown gewohnt ist. Nicht nur, dass seine Sätze bisweilen sehr lang sind, auch die Satzkonstruktion passt sich der oberen Mittelschicht, der Frederick Starks entstammt, an, so dass man beim Lesen mit etwas ungewohnten Satzstellungen konfrontiert wird.
Der Stil ist dabei sicher passend, aber eben zu Beginn nur holprig lesbar – dafür ist die Wortwahl nur selten über die Maßen hinweg anspruchsvoll, und dank der akkurat beschriebenen Details, seien es nun Landschaftsangaben oder äußere Merkmale von den Menschen, mit denen Starks in Kontakt tritt, machen The Analyst zu einem schnellen Lesevergnügen, das auch im Kopf des Leser plastisch die Szenerie entstehen lässt.
Hat man jedoch den mit 500 Seiten durchschnittlich langen Roman zugeklappt, ergibt sich ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sind die Mittel, zu denen Rumpelstilzchen zu Beginn greift, erschreckend und verdienen auch einen Gegenschlag des Protagonisten, doch wie erstrebenswert ein Sieg auf Kosten der eigenen Identität ist, wird nicht recht ausgelotet. Hat man beim eigentlichen Handlungsverlauf in der ersten Hälfte des Romans noch seine Zweifel, ob der Autor das Tempo und die Spannung bis zum Schluss wird halten können, erkennt man nach dem Knick in der Story, dass sich Katzenbach ebenfalls ein Nein eingestehen musste und lenkt den Roman fortan in eine andere Richtung. Die ist dann auf Grund der Wandlung der Hauptfigur ein wenig schwerer nachvollziehbar, aber immerhin interessant. Allerdings schwindet mit den Mitteln, die Frederick Starks in den letzten 230 Seiten anwendet, auch sein Sympathiefaktor.
Als psychologische Studie verpackt in einem Unterhaltungsroman ist The Analyst sicher gut gelungen, allerdings hätte man sich eine aus der Ausgangslage kohärentere Story gewünscht, die auch möglich gewesen wäre. Nur wäre dann eben die neu geschliffene Hauptfigur weggefallen – ob man dies als Leser akzeptiert oder nicht muss jeder für sich entscheiden.
Fazit:
Wonach entscheidet man bei einem bislang selbst unbekannten Autor, ob man eines seiner Bücher liest? Manchmal sind es interessante Cover, manchmal die Empfehlung eines anderen Lesers oder Lobpreisungen von anderen Autoren oder der Presse – manchmal aber auch die Story selbst, die mich persönlich bei The Analyst interessierte.
Ich wusste nicht wirklich, was mich erwarten sollte, und auch der Schreibstil von John Katzenbach war für mich im ersten Moment ungewohnt. Doch auch wenn es bis zum Schluss Passagen gab, die ich mehrmals lesen musste, um sie zu verstehen – nicht auf Grund des fehlenden Vokabulars, sondern weil mir bei seiner Syntax der Sinn des Satzes beim schnellen Lesen verborgen blieb – alles in allem ist sein Unterhaltungsroman nicht nur schnell erzählt, sondern auch sehr schnell gelesen für seinen Umfang.
Zu sehen, wie Frederick Starks zu Beginn des Romans seine Fähigkeiten als Psychoanalytiker anwendet, um den Menschen ihre Sorgen und Ängste zu nehmen und zu beobachten, wie er im Verlauf des Romans seine Kenntnisse anwendet, um sie zu ängstigen und unter Druck zu setzen, ist interessant und ja, in gewissem Sinne lehrreich. Allerdings fragt man sich doch, ob eine solche Figur, auch wenn sie aus der Not so reagiert, wirklich sympathisch bleibt. Diese Frage stellt man sich bei Starks gerade im letzten Kapitel ein wenig, was noch dazu erschwert wird, dass er im Laufe des Romans als Witwer mit immer eingestreuten Erinnerungen an seine verstorbene Frau dennoch unterkühlt geschildert wird.
Der Roman scheint hier schlechter wegzukommen, als es eigentlich der Fall sein sollte, denn auch wenn The Analyst ein empfehlenswerter Thrillerroman ist und die Ideen, die Katzenbach benützt, um die Figuren (erst Starks, dann seine Gegenspieler) in die Enge zu treiben, sehr einfallsreich sind – von der Unvorhersehbarkeit des Romans ganz abgesehen – scheint dem Buch doch ein gewisser Aspekt zu fehlen, vielleicht auch deshalb, weil nur eine Hauptfigur im Mittelpunkt steht.
Interessenten von intelligenter und zum Nachdenken animierender Thrillerlektüre sei The Analyst empfohlen, aber wer sich ein wenig unwohl dabei fühlt, dass man in der ersten Romanhälfte die Effektivität von Rumpelstilzchens bisweilen einfachen Methoden mehr bewundert und anerkennt, als mit dem Protagonisten Dr. Starks mitzuleiden, der sollte sich einen Kauf erst überlegen – denn es scheint auch, als habe der Autor daran mehr Freude gefunden.