Philip Pullman: "Das Bernstein-Teleskop" [2000]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. Juli 2008
Autor: Philip Pullman

Genre: Fantasy / Science Fiction

Originaltitel: His Dark Materials: The Amber Spyglass
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 548 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2000
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2001
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-439-99414-9


Kurzinhalt:
Gegen die Warnung der Engel Balthamos und Baruch, die Will Parry zu Lord Asriels Streitmacht bringen wollen, macht sich Will auf die Suche nach der entführten Lyra, die von ihrer Mutter Mrs. Coulter vor dem Magisterium versteckt und in einem dauernden Schlaf gehalten wird.
Unterdessen bereitet Metatron, Regent des Reiches der Autorität, seine Truppen im letzten Kampf gegen Lord Asriel vor. Der weiß allerdings, dass Will, träger des magische Messers, unabdingbar für einen Sieg ist. Und sein Schicksal ist an das von Lyra geknüpft. Doch ihre Reise führt sie zuerst in das Reich der Toten, wo Lyra ein Versprechen einhalten muss – und ihre Bestimmung erfüllt, wodurch sie eine Kettenreaktion in Gang bringt, die das Schicksal aller lebenden Wesen beeinflussen wird.
Auch Mary Malone, die in der Welt der Mulefa angekommen ist, sieht die Auswirkungen von Lyras Handeln. Doch spielt sie selbst eine ebenso große Rolle bei dem, was sich abzeichnen wird. Wenn der Attentäter, der von der Kirche in Lyras Welt ausgesandt wurde, sie nicht zuerst findet ...


Kritik:
Fünf Jahre mussten die Leser von Der goldene Kompass [1995] warten, ehe sie die Auflösung der epischen Fantasy-Geschichte erfahren durften. Und bis die Geschichte tatsächlich abgeschlossen ist, ist es auch schwer, sie insgesamt einzuschätzen.
Das Gesamtbild, das Autor Philip Pullman im Sinn hatte, als er sich anschickte, die Trilogie zu verfassen, ist erst dann zu erkennen, wenn die letzte Seite gelesen ist, die letzte Erkenntnis gewonnen und die Figuren ihrem Schicksal überlassen wurden. Bis es soweit ist, hat er mit den Charakteren in Das Bernstein-Teleskop aber noch einiges vor, und auch der Leser wird auf eine Reise durch mehrere Universen geschickt, hinab ins Reich der Toten, zu Schlachten biblischen Ausmaßes und letztlich zu Momenten, die die Zukunft der bekannten Figuren für immer verändern werden.

Die Geschichte selbst knüpft dabei nahtlos an den zweiten Teil, Das magische Messer [1997] an, entwickelt aus der Ausgangssituation aber viel mehr, als man zunächst vermuten würde. Auch wenn sich seit langem der Kampf zwischen Lord Asriels Truppen und den Heerscharen der Autorität angekündigt hat, und diese Auseinandersetzung immer näher rückt, ehe es soweit ist, haben Will und Lyra noch eine andere Reise vor sich. Das Prinzip der Geschichte, ein Ziel in Aussicht zu stellen, um es zu erreichen aber Aufgaben zu stellen, die die Protagonisten erfüllen müssen, bleibt dasselbe, auch wenn dies hier nicht ganz so formelhaft zu geschehen scheint, wie in den ersten beiden Büchern.
Mit den Hauptfiguren die neuen Welten zu erkunden, sei es das unwirkliche Zuhause der Mulefa, auf die Mary Malone trifft, oder aber das Reich der Toten, zu dem Lyra und Will vordringen müssen, zählt dabei zu den größten Stärken des Romans. Es gelingt Autor Pullman immer wieder aufs neue, scheinbar bekanntes so neu zu erzählen und auszuschmücken, dass man aus dem Staunen kaum herauskommt. Was zuerst vertraut erscheint wird so natürlich abgewandelt, mit ungewohnten Facetten versehen, dass es zwar fantastisch erscheint, aber doch nicht unmöglich. Auch das Konzept des Autors vom Leben nach dem Tode (das sich vom christlichen Gedanken daran grundlegend unterscheidet), mag im ersten Moment seltsam erscheinen, stellt aber doch genauso eine erstrebenswerte, weil friedvolle Auflösung in Aussicht.
Immer mehr Zusammenhänge stellt der Autor zu Figuren und Geschehnissen aus den ersten Büchern her, sodass nie Zweifel aufkommen, His Dark Materials war von Grund auf als Trilogie konzipiert. Die Story ist dabei so einfallsreich wie überraschend und steht den Vorgängerbüchern in nichts nach. Im Gegenteil.

Auch die Charaktere werden einmal mehr vorangebracht, insbesondere Lyra Belacqua, die zuletzt erkennen musste, dass nicht immer sie im Mittelpunkt stand, und nun am eigenen Leibe erfährt, dass Versprechen zu halten, oder sich für mehr einzusetzen, als man selbst ist, mitunter mit großen Opfern verbunden ist. Es ist erstaunlich, wie sich ihre Figur von einem verzogenen, an sich nicht wirklich sympathischen Mädchen bis hin zu einem charismatischen Teenager entwickelt hat.
Ebenso Will Parry, der Lyra nicht nur näher kommt, sondern vor die schwerste Entscheidung seines jungen Lebens gestellt wird. Auch er offenbart viel mehr Facetten, als man ihm zu Anfang zugetraut hätte und scheint vielschichtiger, als manch erwachsene Figur.
Selbst Lord Asriel und Marisa Coulter bekommen einige Überraschende Momente zugeschrieben, an die man nach den ersten beiden Büchern kaum geglaubt hätte, die aber in ihren Entscheidungen begründet sind. Die sympathische Mary Malone wird erfreulich mehr eingebunden, als noch im letzten Buch und trotz der relativ geringen Zeit, die ihr gewidmet wird, so gekonnt als vielschichtige Figur etabliert, dass man sich am Ende ebenso ungern von ihr trennt.
Dass auch bekannte Charaktere wie Iorek Byrnison, Lee Scoresby oder John Parry noch einmal auftauchen dürfen (wenn mitunter auch nur kurz), rundet das gelungene Gesamtbild der Trilogie ab. Einzig von Serafina Pekkala hätte man gern mehr gelesen, auch wenn sie nach wie vor vertreten ist.
Im Bernstein-Teleskop endlich bekommen auch die Antagonisten ein Gesicht verliehen, sei es mit der Autorität selbst, oder aber mit Metatron, die zwar beide nicht so stark eingebunden sind, aber ihre Aufgabe spielend erfüllen.
Das Angebot an Figuren ist so reichhaltig und abwechslungsreich, dass Autor Philip Pullman mühelos mehr über sie hätte schreiben können. Vielleicht hält er sich dies ja für die Zukunft offen, zwei Novellen (Once Upon a Time in the North [2008] und Lyras Oxford [2003]) sind bereits erschienen, ein drittes Buch (The Book of Dust) könnte 2009 in den Handel kommen.

An der Dramaturgie an sich gibt es nichts zu bemängeln, im Gegensatz zu Der goldene Kompass scheinen die Actionmomente nicht nur um ihrer selbst willen eingebracht, sondern aus der Geschichte zu erwachsen. Die Spannung, insbesondere um das Schwinden des "Staub", wird bis zum Schluss gehalten, lediglich der Epilog hätte etwas kürzer ausfallen können.
Was an Das Bernstein-Teleskop unschön in Erinnerung bleibt, ist das letztliche Ende. Während das Finale durchaus überzeugen kann, und auch das Ende selbst innerhalb von Pullmans Universum logisch erscheint, hätte man sich doch sehr ein richtiges Happy End gewünscht. Mag sein, dass der Autor das jugendliche Publikum auf die Komplikationen im Erwachsenenalter vorbereiten möchte, es nimmt der Geschichte nach den Strapazen aber etwas von der befriedigenden Auflösung, die man sich gewünscht hätte.

Sprachlich indes überzeugt Philip Pullman auf ganzer Linie, schmückt seinen Roman mit faszinierenden Bildern aus, die im Nu im Kopf der Leser zum Leben erweckt werden. Spannende Momente werden ebenso lebendig erzählt wie die ruhigeren Passagen einfühlsam, und wenn sich Lyra und Will von ihren Dæmonen an der Pforte zum Reich der Toten trennen, zerreißt es einem das Herz durch die Beschreibungen, mit denen der Autor jene traurige Passage versieht. Literarisch mag dies der beste Moment sein, sieht man His Dark Materials als Gesamtwerk, steht der dritte Roman nicht zuletzt dank der packenden Geschichte und den weiterentwickelten Figuren an erster Stelle.
Eine würdigere Auflösung der in der Tat epischen Fantasy-Geschichte hätte man sich nicht wünschen können. Schade nur, dass man sich schon so schnell von Lyra und Will verabschieden muss. Man hätte sie gern viel länger begleitet.


Fazit:
Wenn Prophezeiungen erfüllt werden, die bereits im ersten Roman getroffen wurden, oder Figuren an Bedeutung gewinnen, die man als Leser längst schon vergessen glaubte, dann wird deutlich, wie genau Autor Philip Pullman sein Werk vor Augen hatte, ehe er mit schreiben begann.
Was ihm dabei gelungen ist, mag vielen religiösen Menschen übel aufstoßen, immerhin stellt er Elemente der Religion als hinderlich und oppressiv heraus. Sie würden die Menschen einschränken und unterwerfen, anstelle sie zu fördern. Interessanterweise äußert er sich so nicht über den Glauben an sich, sondern lediglich über dessen kontrollierte Ausübung. Nichtsdestoweniger sind seine Kritikpunkte stellenweise angebracht und richtig, auch wenn dieser Aspekt des Romans jungen Lesern meist verborgen bleiben dürfte.
Und das mag vielleicht Pullmans größte Errungenschaft sein, denn Das Bernstein-Teleskop, beziehungsweise die Trilogie His Dark Materials selbst, funktioniert auf vielen Ebenen, offenbart viele Schichten, die von verschiedenen Lesern unterschiedlich wahrgenommen werden. Für sich allein genommen ist der Abschluss der Trilogie ein Fantasy-Epos, wie man es sich nur wünschen kann, mit fantastischen Welten, mystischen Orten und ebenso fantasievollen Wesen. Lebendige Charaktere, spannende Schlachten und eine ebenso unvorhersehbare wie überraschende Geschichte zeichnen den Roman aus, der eine der einfallsreichsten und gelungensten modernen Fantasy-Werke zu Ende bringt. Dass es schon vorbei ist, möchte man dabei kaum glauben. Erfreulich ist allerdings, dass der letzte Teil auch der beste war – in allen Belangen.