Poor Things [2023]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 17. Oktober 2023
Genre: Science Fiction / Komödie / Liebesfilm

Originaltitel: Poor Things
Laufzeit: 141 min.
Produktionsland: Irland / Großbritannien / USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Yorgos Lanthimos
Musik: Jerskin Fendrix
Besetzung: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Jerrod Carmichael, Margaret Qualley, Kathryn Hunter, Suzy Bemba, Hanna Schygulla, Vicki Pepperdine, Wayne Brett, Tom Stourton, Carminho


Kurzinhalt:

Bella (Emma Stone) verdankt dem brillanten Arzt Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) ihr Leben. Auf Grund einer unfallbedingten Hirnschädigung entspricht das geistige Alter der jungen Frau eher einem Kleinkind, als der aufstrebende Mediziner Max McCandles (Ramy Youssef) Bella zum ersten Mal begegnet. Godwin engagiert Max, dass er Bellas Entwicklung begleiten soll. Ihre Fortschritte sind bemerkenswert und führen zu einer Selbstentdeckung, auf die der Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) aufmerksam wird. Er bietet Bella an, ihn auf einer Abenteuerreise rund um den Globus zu begleiten. Für Bella, die Zeit ihrer Erinnerung in Godwins Labor verbracht hat, klingt es wie ein Geschenk. Doch die unzähligen neuen Eindrücke überfordern die junge Frau und führen immer wieder zu der Frage, woher sie genau kommt und was mit ihr geschehen ist. Es stellt sich heraus, dass die Welt, die Wahrheit, grausamer ist, als jede Vorstellung, was ihre gesamte Existenz in Frage stellt …


Kritik:
Basierend auf dem 1992 erschienenen Roman von Alasdair Gray erzählt Poor Things von einer jungen Frau in einer Steampunk-Fantasy-Version des viktorianischen Englands, die auf eine Reise der Selbstentdeckung aufbricht. Schwarzhumorig und in vielerlei Hinsicht bewusst überspitzt, ist dies ein in fantastischen wie eigenwilligen Bildern eingefangenes Kunstwerk mit zeitlos aktuellen Aussagen. Erstklassig gespielt, bleibt Yorgos Lanthimos’ Film doch einem kleinen Publikum vorbehalten, das die Art der Umsetzung zu schätzen weiß.

Die Geschichte erzählt von Bella Baxter, deren geistiges Alter mit ihrem körperlichen auseinanderfällt, wie ihr „Vater“, Dr. Godwin Baxter erklärt. Godwin, der von Bella lediglich „God“ („Gott“) genannt wird, ist nicht wirklich ihr Vater. Ihre Eltern, die bei einer Forschungsexpedition in Südamerika ums Leben gekommen seien, wollten, dass Bella bei ihm aufwächst. Zumindest erzählt er ihr das. Tatsächlich ist Godwin eine Personifizierung von Frankensteins Monster, das seinem Erschaffer nacheiferte und als brillanter Chirurg und Arzt in Bella ein Experiment erschuf, das er nun begleitet und ihre Entwicklung verfolgt. Um ihre Fortschritte zu protokollieren, engagiert der an der Universität lehrende Godwin den aufstrebenden Mediziner Max, der Bella beobachten soll. Die entwickelt sich rasch, geistig schneller als motorisch, und entdeckt unter anderem ihren Körper. Als Max Bella heiraten will, macht Godwin dies von der Bedingung abhängig, dass sie das Labor, die perfekte, sichere Welt, wie er es nennt, um Bella zu studieren, nie verlässt. Dies wird in einem Vertrag festgehalten, den der arrogante Anwalt und selbsternannte Frauenheld Duncan aufsetzt. Der ist aber selbst von Bella so fasziniert, dass er sie überredet, mit ihm auf ein Abenteuer rund um die Welt zu kommen.

Was sich unbeschwert anhört, ist das genaue Gegenteil. Bellas Selbstentdeckungsreise ist insbesondere sexueller Natur. Sie gibt sich Duncan hin und nicht nur ihm. Mit ihren neuen Erfahrungen außerhalb des Versuchskäfigs, in dem Baxter sie zusammen mit allerlei bizarren, zusammengesetzten Geschöpfen gehalten hat, nimmt Bella die Welt Stück für Stück vollständig wahr. Zuerst kehrt die Farbe in die Schwarzweißpräsentation zurück, die neben gewöhnlichen Einstellungen im engeren 1.66:1-Format viele, durch ein Fischaugenobjektiv verzerrte Aufnahmen enthält. Dann der Ton, dessen Abwesenheit man bis dahin kaum wahrgenommen hat, und schließlich der Geschmack. Zu Bellas körperlicher und geistiger Entwicklung gesellt sich auch eine intellektuelle Reife. Sie entwickelt Selbstbewusstsein, beginnt, Dinge einzufordern und verweist so insbesondere die männlichen Personen in ihrem Leben in ihre Schranken, entgegen der gesellschaftlichen Konventionen. Es führt dazu, dass Duncan, der sich ihr lange Zeit überlegen fühlt, ihr aber zunehmend verfällt, sie erneut einsperrt – wie Godwin zuvor und ein weiterer Mann später. Je mehr Bella ihre kindlichen Züge hinter sich lässt, umso eifersüchtiger und kindlicher wird Duncan selbst. Die gesellschaftlichen Aussagen über die Rolle der Frau sind in Poor Things unübersehbar.

Doch geht der Blick des teils satirischen, teils zynischen Fantasydramas weiter. Als Bella das Leid der armen Welt sieht, ist sie mit ihrem Gefühl der Empathie, die ihr Zeit ihres Lebens verwehrt wurde, überfordert. Die wahren Monster sind dabei diejenigen Menschen, die die „Monster“ erschaffen. Was Godwin Baxter ihr angetan hat, ist von einer neugierigen Grausamkeit getrieben, die ohne Mitgefühl die empirische Forschung über Alles stellt. Es ist nur folgerichtig, dass er als Wissenschaftler zu sehr in sein Experiment investiert ist, dass er es nicht verwinden kann, als er sie verliert. Dies klingt schwerer, als Poor Things präsentiert ist. Tatsächlich wirken zahlreiche Szenen bizarr und unwirklich, auch dank der Kulissen, die an künstlerisch überzeichnete Theaterhintergründe erinnern. Aber auch die Bella eingangs anhaftende Naivität, die sich dadurch äußert, dass sie alles wörtlich versteht, anstatt die Bedeutung hinter den Worten zu erfassen, sorgt für erheiternde Momente.

Es ändert jedoch nichts daran, dass Poor Things in seinen Aussagen, beispielsweise wenn Bellas Reise sie in ein Freudenhaus in Paris führt, ausufernd umgesetzt ist. Nicht nur für die Beteiligten ist das sichtbar fordernd, doch werden bestimmte Botschaften zu Bellas Entwicklung in körperlicher, geistiger wie gesellschaftlicher Beziehung derart oft wiederholt, dass andere Aspekte wie die Auswirkung ihres Engagements in einer sozialistischen Bewegung und wie diese ihr Weltbild prägt, vollständig untergehen. Dafür tragen preiswürdige Darbietungen, allen voran die unerschrockene Verkörperung von Emma Stone, aber auch von Willem Dafoe unter einer geradezu beängstigend greifbaren Maskenarbeit, bzw. Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn, den Film sicher, selbst wenn die Geschichte merklich stockt. Dies zu entdecken, ist einem Publikum vorbehalten, das sich auf den eigenwilligen Stil einlassen will und kann. Das ist keine Kritik an der Kunst an sich und jeglicher künstlerischer Anspruch sei Filmemacher Lanthimos unbenommen. Nur ob der Film durch die eher aus- als einschließende Erzählung gewinnt, oder man die Geschichte einzig auf diese Art und Weise hätte erzählen können, kann man zumindest diskutieren. Aber dafür muss man sich dem Werk selbst erst einmal stellen.


Fazit:
Den besten Dialog hält das Drehbuch bis ins letzte Drittel zurück, wenn Bella in den Gesprächen mit Alfie den Hintergrund und die Ursache dafür findet, wer sie ist und weshalb. Es ist ein Stakkato, das Weltanschauungen kondensiert, die unsere Gesellschaft auf unbequeme Weise immer noch prägen. Ebenso, wie Godwins Forschungsdrang ungeachtet jeglicher moralischer Implikationen. So ist Bellas Reise eine der Selbstentdeckung und dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein. Es ist eine Geschichte darüber, dass das Experiment über die Experimentierenden triumphiert und jeder Mensch die Summe der eigenen Erfahrungen und des eigenen Werdegangs ist. Insbesondere von Emma Stone furchtlos vor den Kopf stoßend gespielt und als unvergleichliche Vision kompromisslos in Szene gesetzt, ist das ein Kunstwerk für sich. Das Produktionsdesign ist spürbar aufwändig und jede Einstellung mit merklich Bedacht, aber teilweise auch anstrengend umgesetzt. So bleibt Poor Things einem breiten Publikum kaum zugänglich und gerät in manchen Aspekten derart selbstsicher, dass sich der Film spürbar mehr Zeit (und sich selbst dabei wichtiger) nimmt, als notwendig wäre. Sehenswert und stark gespielt – für die davon angesprochenen Zuschauerinnen und Zuschauer.