The Holdovers [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 15. Dezember 2023
Genre: Drama / Komödie

Originaltitel: The Holdovers
Laufzeit: 133 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Alexander Payne
Musik: Mark Orton
Besetzung: Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da’Vine Joy Randolph, Carrie Preston, Naheem Garcia, Stephen Thorne, Gillian Vigman, Tate Donovan, Brady Hepner, Michael Provost, Ian Dolley, Jim Kaplan, Andrew Garman, Darby Lily Lee-Stack


Kurzinhalt:

Im Dezember 1970 bereiten sich auch im Jungeninternat der Barton Academy Lehrer wie Schüler auf die Weihnachtsfeiertage vor. Doch da nicht alle Schüler zu ihren Eltern fahren können, fällt es Lehrkraft Paul Hunham (Paul Giamatti) zu, die verbliebenen zu betreuen. Es ist für ihn gewissermaßen eine Strafe, da seine Weigerung, einen Schüler aus wohlhabendem Hause besser zu benoten, zu finanziellen Nachteilen für die Academy geführt hat. Hunham ist weder bei den Schülern, noch den Lehrern beliebt. Streng und unnachgiebig, ist er oft herablassend und ein Paragrafenreiter. Die zwei Wochen, die er mit dem Schüler Angus Tully (Dominic Sessa) und Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph) auf dem Campus festsitzt, werden für alle drei zu einer Zerreißprobe. Für Mary, weil sie unter dem Verlust ihres im Krieg gefallenen Sohnes leidet und für Angus, weil seine Mutter lieber mit dem Stiefvater in die Flitterwochen fährt, als Zeit mit ihm zu verbringen. Dabei sind sich Angus und Paul ähnlicher, als sie denken und je mehr Zeit sie miteinander verbringen, umso mehr erhalten sie Einblick hinter die Fassade des jeweils anderen …


Kritik:
In The Holdovers sperrt Filmemacher Alexander Payne das Publikum mit seinen zwei Hauptfiguren in einem Jungeninternat zu Beginn der 1970er-Jahre über die Weihnachtsfeiertage zusammen. Die Verachtung und Ablehnung, mit der sie einander anfangs gegenüberstehen, lassen, je länger die Isolation dauert, tiefsitzende, seelische Wunden erkennen. Beizuwohnen, wie diese Figuren entblättert werden, ist mitunter bissig amüsant, manchmal authentisch berührend und von zwei preiswürdigen Darbietungen getragen, die es mehr als lohnt, zu entdecken.

Die (fiktive) Barton Academy hat viele einflussreiche Führungskräfte hervorgebracht. Diejenigen, die sich die Gebühren nicht leisten können, sind, wie Paul Hunham einst, auf ein Stipendium angewiesen. Nach der Schule und dem Besuch auf dem College, ist er als Lehrkraft zu Barton zurückgekehrt und einer seiner ersten Schüler ist nun selbst Direktor der Academy. Der bittet Paul, die Feiertage über vor Ort zu bleiben und auf die fünf weiteren Schüler aufzupassen, die Weihnachten und Silvester nicht nach Hause fahren können. Die Tätigkeit fällt jedes Jahr jemand anders zu und kein Lehrer ist erpicht darauf. Ebenso wenig die Schüler, die in der Regel nicht freiwillig vor Ort bleiben und darüber hinaus Paul als Lehrer nicht leiden können. Nicht einmal seinen Kollegen ist er sympathisch. Für den Schüler Angus Tully ist die Situation umso bitterer, da er nur deshalb die Feiertage im Internat verbringt, da seine Mutter mit ihrem neuen Mann in die Flitterwochen fährt. Dass er und Paul nach kurzer Zeit zusammen mit Köchin Mary vollkommen allein in der Barton Academy sind, lässt die Spannungen nicht kleiner werden, denn Paul hat einen straffen Zeitplan mit Lernen und Sport ausgearbeitet.

Dass Paul als Geschichtslehrer, der seine Schüler schnell beleidigt, ihnen Dummheit und Faulheit gleichermaßen unterstellt, nicht beliebt ist, ist keine Überraschung. Schulleiter Woodrip bezeichnet ihn als engstirnig, Paul selbst sieht sich als traditionell. Sein Auftreten ist stets belehrend, nie anerkennend und während er den Schülern vorhält, wie wichtig es ist, dass sie sich körperlich fit halten, ist er nach wenigen schnellen Schritten außer Puste. Mit seiner Pfeife im Mund und Whiskey, selbst zum Frühstück, predigt er den Jungen ein Vorbild, das er selbst nicht erfüllt. Es wäre leicht, ihn als Heuchler darzustellen, so wie Angus ein Schüler ist, der bereits von mehreren Schulen verwiesen wurde und nun droht, auf der Militärschule zu landen, wenn die Barton Academy ihn verweisen würde. Im Jahr 1970 bzw. 1971 hieße das mit Sicherheit, dass er für den Vietnamkrieg eingezogen würde. In dem ist kürzlich der Sohn von Köchin Mary gefallen, der im Jahr zuvor ebenfalls den Abschluss in Barton machte und zum Militär ging, um sich einen Collegeabschluss leisten zu können.

Zermürbt Mary der Verlust, den sie erlitten hat, innerlich immer weiter, verbirgt sich unter Pauls abweisender Schale ein zutiefst gekränktes und zerbrechliches Wesen. Er weiß, wie Schüler und Kollegen hinter seinem Rücken über ihn sprechen, doch erst, wenn Angus ihn darauf anspricht, wirkt er betroffen. Viele seiner ursprünglichen Pläne haben sich zerschlagen, ein kurzgefasstes Sachbuch, eine Monografie, die er seit 30 Jahren schreiben will, hat er nicht einmal begonnen. „Sie können nicht einmal einen ganzen Traum träumen?“, fragt ihn Mary. Nie verheiratet, behauptet Paul, er sei gern allein, selbst wenn er sich offenbar zu Frauen hingezogen fühlt und ihre Nähe sucht. The Holdovers ist seinen Figuren geradezu klaustrophobisch nahe, was es umso spannender macht, wie lange sie mit ihren wahren Beweggründen zurückhalten. Sowohl bei Paul als auch bei Angus, der auf den ersten Blick lediglich wie eine abgeschwächte Variante der verwöhnten, herablassenden Schnösel aus reichem Hause auftritt, wie es viele seiner Mitschüler sind, die von ihren Väter mit dem Helikopter zum Ski-Urlaub abgeholt werden. Doch auch seine Geschichte ist vielschichtiger und tragischer, als es scheint.

Die Figur, die merklich zu kurz kommt, ist die von Da’Vine Joy Randolph toll zum Leben erweckte Mary, der man eine greifbarere Entwicklung wünschen würde. Dafür überzeugt Dominic Sessa in seinem Spielfilmdebüt mit einer so natürlichen wie facettenreichen Darbietung. Paul Giamatti verkörpert den von tiefgehenden Unsicherheiten geprägten Paul Hunham, der stets Ausreden findet, nichts aus sich machen zu müssen, sondern weiter seine Schüler zu triezen, auf dass sie es einmal besser haben sollen, als er selbst, mit unfassbar vielen Nuancen. Unvermittelt trifft schon ein einziger seiner Blicke, mit denen er ein Bedauern über das ausdrückt, was ihm im Leben vorenthalten blieb. The Holdovers ist durchweg preiswürdig gespielt, was den Figuren und ihren Geschichten eine noch größere Authentizität verleiht. Die bringt Filmemacher Alexander Payne auch handwerklich zum Ausdruck. Das Aussehen und die Bilder erwecken mit ihren Farben, den Unreinheiten auf dem Filmmaterial und der leichten Unschärfe eine Atmosphäre, als wäre der Film zu jener Zeit entstanden. Die erstklassige Musikauswahl und die tolle Ausstattung runden den hervorragenden Gesamteindruck nur ab.

All das bleibt jedoch einem Publikum vorbehalten, das bereit ist, sich auf diese Figuren einzulassen. Abseits übersprudelnden Dramas oder überzogenen Humors, ist The Holdovers zurückhaltend erzählt. Nichtsdestoweniger mitunter bissig und überaus berührend an anderen Stellen, aber in den Emotionen beobachtend und gedämpft. Wer hierfür bereit ist, findet eine Art Geschichte und eine Form des Geschichtenerzählens, die überaus selten auf der großen Leinwand geworden ist. Umso lohnenswerter ist es.


Fazit:
Zwei Wochen über Weihnachten mit einer Lehrkraft in einem Internat festzusitzen, scheint wie eine Art Bestrafung. Umso mehr, wenn diese ihre Aufgaben überaus ernst nimmt und einen nie aus den Augen oder zur Ruhe kommen lässt. Anstatt daraus eine zotige Komödie zu erzählen, findet Regisseur Alexander Payne in der Ausgangslage die Geschichte zweier Außenseiter, die mehr verbindet, als sie auf den ersten Blick ahnen. Inhaltlich ist das nicht vollends neu und im ersten Drittel länger, als es sein müsste, zumal sich die Erzählung ohnehin auf zwei Figuren konzentriert. Doch ist die Dramödie von herausragenden Darbietungen zum Leben erweckt, die die unterschiedlichen Figuren nicht nur greifbar machen, sondern dafür sorgen, dass man mit ihnen mitleidet – ob ihrer Situation zusammen oder jeweils für sich. Unaufgeregt, langsam und mit viel Gespür für das verborgene Wesen im Innern dieser Figuren, die auf den ersten Blick seltsam und skurril erscheinen, ehe man erkennt, dass ebenso das Skurrile im Normalen wie das Normale im Skurrilen liegt, ist The Holdovers ein witziger wie berührender Film über geradezu alltägliche menschliche Tragödien. Das ist wertvoll und für ein ruhiges Publikum so sehenswert wie selten. Schön!