Ich Capitano [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 3. April 2024
Genre: Drama

Originaltitel: Io Capitano
Laufzeit: 121 min.
Produktionsland: Italien / Belgien / Frankreich
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Matteo Garrone
Musik: Andrea Farri
Besetzung: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawagodo, Hichem Yacoubi, Doodou Sagna, Khady Sy, Bamar Kane, Cheick Oumar Diaw


Kurzinhalt:

Als der 16jährige Seydou (Seydou Sarr) seiner Mutter (Khady Sy) erzählt, dass er aus Dakar im Senegal nach Europa gehen will, um dort zu arbeiten und sie und seine Schwestern zu unterstützen, ahnt sie, dass ihr Sohn nicht nur einen Scherz macht, wie er behauptet, nachdem er ihre Reaktion sieht. Sie will nicht nur, dass er bleibt und weiter zur Schule geht. Sie weiß auch, was eine Flucht nach Europa bedeutet. Doch der Gedanke daran, wegzugehen, ist, angeregt von seinem Cousin Moussa (Moustapha Fall), schon lange in ihm gereift. Sie haben jede Arbeit angenommen, um genug Geld zu sparen, das sie im Boden vergraben haben, um sich auf den Weg zu machen. Ohne sich zu verabschieden, beginnen sie ihre Reise und zu Beginn scheint es noch wie ein Abenteuer, auf dem sie sich mit anderen Männern, Frauen und Kindern befinden. Aber nicht nur, dass sie bei jeder Kontrolle noch mehr Geld von ihrem Ersparten abgeben müssen, nach dem Grenzübertritt beginnt ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt …


Kritik:
Inspiriert von wahren Erfahrungsberichten erzählt Filmemacher Matteo Garrone mit einer bedrückenden Authentizität von einer beinahe 5.000 Kilometer langen Reise, die zwei Jugendliche aus dem Senegal auf sich nehmen, um in Europa ihre Träume zu verwirklichen. Ich Capitano zeichnet eine Geschichte nach, die sich so oder ähnlich in unvorstellbarer Häufigkeit abspielt und die ausgeblendet wird, wenn gemeinhin von einer „Migrationskrise“ oder „Flüchtlingen“ gesprochen wird. Mitzuerleben, was diese Menschen auf sich nehmen, führt einem Unmenschlichkeit der Situation umso drängender vor Augen.

Streng genommen ‚fliehen‘ der 16jährige Seydou und sein Cousin Moussa nicht aus ihrer Heimat in Dakar. Sie gehen dort zur Schule und arbeiten anschließend auf dem Bau, ehe sie nach Hause gehen. Seydou schläft auf engstem Raum mit seinen Schwestern und seiner Mutter. Was ihm und Moussa jedoch fehlt, ist eine Perspektive. In Videos, die sich sich auf ihrem Mobiltelefon ansehen, sehen sie Bilder aus Europa und nehmen sich vor, mit Geld, das sie sich mühsam angespart haben, dorthin zu gehen. Mit ihrer musikalischen Begabung, die ihnen auf den Straßen ihrer Heimat durchaus Anerkennung einbringt, hoffen sie, dort Erfolg zu haben, Stars zu werden, wie das Internet allerorts verheißt. Der Wunsch nach Anerkennung ist in ihnen so groß, wie in Jugendlichen überall auf der Welt. Ohne sich zu verabschieden, machen sich auf einen Weg, von dem ihnen nicht nur Kontaktpersonen in der Stadt abraten. Anfangs erscheint es ihnen noch wie ein Abenteuer, doch dann erkennen sie schnell, dass die Reise lebensgefährlich ist und alle daran Beteiligten nur von ihrer Ausweglosigkeit profitieren.

Was Seydou und Moussa auf ihrem Weg erwartet, wird ihnen bereits im Vorfeld prophezeit. Unter anderem von Seydous Mutter, der er zuerst sagt, er wolle gehen und in Europa arbeiten, um die Familie zu unterstützen, ehe ihre Reaktion ihn dazu veranlasst, zu behaupten, dies sei nur ein Scherz gewesen. Sie ahnt, was ihr Sohn vorhat und sie sagt ihm bereits, dass viele auf der Flucht gestorben sind. Doch als ihm und Moussa, die die Reise seit einem halben Jahr vorbereiten, in Niger von Schleppern Bildern großer Boote und Fahrzeuge gezeigt werden, mit denen man sie direkt an ihr Ziel bringen will, ist die Verlockung der Möglichkeiten in Europa zu groß und sie gehen darauf ein. Zuvor haben bereits Grenzbeamte die Hand aufgehalten, um sie trotz gefälschter Pässe passieren zu lassen und auch danach sollen sie sich für viel Geld Ausrüstung kaufen.

Auf eine Fahrt folgt ein Marsch durch die Saharawüste, ohne entsprechende Kleidung, teilweise ohne Schuhe oder Wasser. Männer, Frauen und kleine Kinder gehören zur Gruppe an Bord vollkommen überfüllter Jeeps. Wer herunterfällt, bleibt zurück und endet so, wie diejenigen, die als Leichen den Rest des Weges säumen. Waren Seydou und Moussa anfangs noch überzeugt, die Reise bewältigen zu können, ist ihre Zuversicht bereits verflogen, ehe sie von der Polizei ausfindig gemacht werden. Wie mit ihnen umgegangen wird, ist so erschreckend wie entmenschlichend. Umso mehr, wenn einem die Aussichtslosigkeit der Geflohenen bewusst wird, die ihren Peinigern schutz- und hilflos ausgeliefert sind. Ich Capitano schildert unvermittelt grafisch, welch körperlicher Gewalt diese Menschen ausgesetzt sind. Die einzige Form der Empathie, die ihnen widerfährt, ist diejenige von Gleichgesinnten auf ihrem Weg.

Selbst, als Seydou mit einem Mann, der sein Vater sein könnte, in einer beinahe sicheren Umgebung angekommen ist, werden sie doch wie Sklaven gehalten. Auch auf dem letzten Abschnitt seiner Reise wird der einst von der Wunschvorstellung angetriebene Jugendliche ausgenutzt, ihm eine Verantwortung auferlegt, die ihn gleichermaßen überfordert, wie er sich verzweifelt dagegen wehrt. Sieht man die Angst in seinen Augen, die schiere Hoffnungslosigkeit oder das Bedauern, wenn er weiß, wie sehr er seine Mutter mit seiner Entscheidung verletzt, dann gerät Seydou Sarrs eindringliche Darbietung zu einer der ergreifendsten und ehrlichsten, die man seit langem miterleben durfte. Zusammen mit der erschreckend authentischen Darstellung der Wegstationen seiner Flucht, ist sein Porträt der Grund, weshalb Ich Capitano eine emotionale Zugkraft entwickelt, der man sich nicht entziehen kann.

Diese Figuren auf ihren unvorstellbaren und doch für Menschen in ihrer Situation alltäglichen Strapazen zu begleiten, ist, noch bevor man es wichtig oder bewegend nennen möchte, vor allem eines für diejenigen, die sich wie dieser Kritik in einer privilegierten Situation der westlichen Welt befinden: es ist unbequem. Unbequem, dem abstrakten Begriff der „Flüchtlinge“ eine persönliche Geschichte mit Namen, Gesichtern und Hintergrund gegeben zu sehen, so dass man schlicht nicht anders kann, als die Betroffenen als das zu sehen, was sie sind. Als Menschen, die Unbeschreibliches auf sich nehmen und denen von allen Beteiligten auf ihrer Reise Unsägliches angetan wird. Diese Erkenntnis ist keine Lösung, aber vielleicht der erste Schritt auf dem Weg, sich einzugestehen, dass es eine Lösung braucht, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt, anstatt ihnen als anonymem Begriff ihre Menschlichkeit bewusst abzusprechen. Ich Capitano auszuhalten, ist nicht einfach. Aber gerade deshalb unverzichtbar.


Fazit:
Man mag sich fragen, was zermürbender ist, die unerreichbaren Hoffnungen der beiden Jugendlichen von einem Leben in Europa zu sehen, oder wie diese von Schlepperbanden mit bewusst falschen Versprechungen noch befeuert werden, ehe man ihnen das Wenige nimmt, das sie besitzen. Seydou und Moussa sind keine schlechten Menschen. Sie versuchen, mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, ein besseres Leben zu erreichen, um sich dort eine Existenz aufzubauen. Aber nicht nur, dass sie von allen ausgenutzt werden, die sie auf ihrer Flucht vorgeblich unterstützen, es handelt sich um ein Massengeschäft, bei dem das einzelne Schicksal, das einzelne Menschenleben, nichts zählt. Zu sehen, wie ihnen zudem Gewalt angetan wird, macht einen so fassungslos wie traurig. Es erschüttert geradezu den Glauben in die Menschheit im Allgemeinen. So ergreifend wie bewegend gespielt, gelingt Matteo Garrone ein wichtiger Film, der betroffen und wütend zugleich macht. Mag sein, dass manche Abschnitte länger sind, als sie sein müssten, und dass bestimmte Zufälle idealistischer sind, als sie in Wirklichkeit eintreffen. Beinahe so, als wollten die Verantwortlichen das Publikum nicht zu sehr deprimieren. Aber auch, dass es keinen tatsächlichen Abschluss gibt, dass sich an die unvergessliche Geschichte dieser zwei Jugendlichen die Nachrichtenbeiträge über politische Diskussionen um Abschiebungen und Rückführungen anschließen, die aus der alltäglichen Berichterstattung nicht wegzudenken und doch in einer unangemessenen Art und Weise unpersönlich sind, ist ein Zeichen dafür, dass Ich Capitano nur den Anstoß geben kann, sich eingehend mit dem Gesehenen zu beschäftigen. Weit ab der Verklärung, ist dies erschreckend und obwohl geradezu schonungslos, vermutlich doch nicht das Schlimmste, was sich täglich abspielt. Davor kann und darf man die Augen nicht verschließen. Trotz der teilweise merklich auf die emotionale Reaktion des Publikums ausgerichteten Erzählung, die auch deshalb den Eindruck erweckt, das Drama wollte viele Aspekte abdecken, die es für Auszeichnungen der Filmbranche empfehlen, ist es unvorstellbar wichtig und aufrüttelnd sehenswert.