Call Me by Your Name [2017]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 29. Januar 2018
Genre: Liebesfilm / Drama

Originaltitel: Call Me by Your Name
Laufzeit: 132 min.
Produktionsland: Italien / Frankreich / Brasilien / USA
Produktionsjahr: 2017
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Luca Guadagnino
Musik: Sufjan Stevens, u.a.
Darsteller: Timothée Chalamet, Armie Hammer, Michael Stuhlbarg, Amira Casar, Esther Garrel, Victoire Du Bois, Vanda Capriolo, Antonio Rimoldi


Kurzinhalt:

Mit seinen 17 Jahren ist Elio (Timothée Chalamet) nicht nur wortgewandt und belesen, sondern darauf aus, sich selbst zu entdecken. Im Jahr 1983 verbringt er den Sommer auf dem Familienanwesen im Norden Italiens. Seine Eltern, zu denen er ein sehr gutes Verhältnis hat, sind für sein Interesse an intellektuellen Themen und Kultur verantwortlich. Sein Vater (Michael Stuhlbarg), Professor für griechisch-römische Kultur, empfängt wie im vergangenen Jahr, einen ausländischen Doktoranden, den 24jährigen Amerikaner Oliver (Armie Hammer). Auch wenn Elio seiner Freundin Marzia (Esther Garrel) im Laufe des Sommers näherkommt, entdeckt er vor dem Panorama der sonnigen Landschaft Italiens ein Verlangen, das ihn zu Oliver zieht. Obwohl dieser anfangs abweisend Elio gegenüber scheint, existiert zwischen beiden eine Anziehungskraft, die nur stärker und das Leben beider Männer für immer verändern wird …


Kritik:
Die Leinwand-Adaption von André Acimans preisgekröntem Roman Ruf mich bei deinem Namen [2007] als behutsame Liebesgeschichte zwischen zwei Männern zu beschreiben, würde den Film in eine Kategorie einordnen, die insbesondere in unserer Zeit keine Rolle spielen sollte. Call Me by Your Name von Regisseur Luca Guadagnino ist eine behutsam erzählte und sinnlich bebilderte Liebesgeschichte. Dass sie zwischen zwei Männern stattfindet, ist nur ein Aspekt und erfasst die facettenreich dargebrachte Entwicklung der 17jährigen Hauptfigur Elio nur zum Teil.

Die Geschichte ist in Norditalien im Sommer 1983 angesiedelt. Elio genießt den Sommer auf dem Familienanwesen in einer Villa, in der es ihm an nichts mangelt. Der mehrsprachig aufgewachsene Junge beschäftigt sich mit Lesen, spielt klassische Musik auf unterschiedlichen Instrumenten und kommt seiner Freundin Marzia näher. Sein Vater ist ein angesehener Professor, seine Mutter Annella Übersetzerin. Von ihnen hat er das Interesse an Geschichte und eine Weltklugheit, die ihn älter erscheinen lässt, als er ist. Der Sommer, den Guadagnino beschreibt, könnte unbeschwerter nicht sein und gewinnt nur an Reiz, als der 24 Jahre alte Doktorand Oliver als Sommer-Praktikant bei Elios Vater eintrifft. Der sportliche und gut aussehende Amerikaner verfehlt seine Wirkung auf die jungen Frauen in der nahegelegenen Ortschaft nicht.

Call Me by Your Name erzeugt eine einnehmende, transzendentale Stimmung. Statt eines schwülen, drückenden Sommers, ist dieser von einem Müßiggang geprägt, den man sich heute mit einer ständigen Erreichbarkeit durch soziale Medien, Stress und Termindruck kaum vorstellen kann. Unerwartet eloquent, scheint Elio Oliver anfangs nicht vollkommen sympathisch, auch wenn der ältere Mann die Gesellschaft des jüngeren nicht scheut. Bis sich herauskristallisiert, dass zwischen beiden eine elektrisierende Spannung herrscht, ist die Hälfte des Films vergangen. Umso überraschender ist dann, dass die beiden noch vor dem Publikum erkennen, wie stark die Anziehung zwischen ihnen bereits ist, unabhängig davon, wie langsam sie gewachsen war.
Was Elio tatsächlich sucht oder erwartet, weiß er dabei selbst nicht. Dass er sich zu Oliver hingezogen fühlt, hält ihn nicht davon ab, seine Beziehung mit Marzia aufrechtzuerhalten. Er ist ein Junge an der Schwelle zum Erwachsenwerden, auf der Suche nach sich selbst und ebenso in der Lage wie ohne Angst davor, sich auszuprobieren.

Dass Elio nicht nur Oliver näherkommt, sondern Marzia gleichermaßen, ermöglicht Filmemacher Luca Guadagnino, beide Erfahrungen, die Elio gleich stark prägen, ebenso taktvoll umzusetzen. Er macht in der Inszenierung keinen Unterschied zwischen Mann und Frau und Mann und Mann – wieso sollte er auch. Umso natürlicher ist die Art der Liebesbeziehung, die er hier porträtiert. Behutsam und langsam erzählt er Elios Entwicklung, der unabhängig von seiner erwachsenen Ausstrahlung eine beinahe kindliche Begeisterungsfähigkeit besitzt. Das ergibt in den unerwartetsten Momenten, auch im Umgang der Eltern und Gäste mit dem amerikanischen Doktoranden einen Humor, der nie aufgesetzt wirkt.
Zu dieser Entwicklung gehört auch, wie sich die Dynamik zwischen den beiden verschiebt, nachdem sie sich ihren Gefühlen gestellt haben. Verzehrte sich Elio anfangs nach dem älteren Oliver, scheint Elio es zu genießen, als er bemerkt, dass er es fortan ist, der begehrt wird. Wie dieses Kräfteverhältnis kippt, ist toll und doch nicht aufdringlich eingefangen.

Doch entwickelt sich daraus nie eine zerstörerische „amour fou“, wie man erwarten würde und auch die für Elios Reifeprozess wichtige Enttäuschung kommt so spät, dass seine Entwicklung am Ende unvollständig bleibt.
Es wäre ein solches Klischee, dieser Selbstfindung ein Elternteil gegenüberzustellen, der oder die diese Beziehung verurteilt oder ablehnt. Doch Call Me by Your Name geht auf eine so erfrischend und zurückhaltend unprätentiöse Art mit diesem Aspekt um, dass das Verhalten der Figur so inspirierend ist wie Elios Entdeckung seiner wahren Gefühle. Diese Botschaft wirkt am Ende stärker nach als die eigentliche Liebesgeschichte.


Fazit:
Timothée Chalamet spielt den unerfahrenen, neugierigen Elio so pur und emotional, dass der Schauspieler in einem regelrechten Befreiungsschlag hinter der Figur vollkommen verschwindet. Eine preiswürdige Darbietung und wie das Porträt von Elios Entwicklung in jenem Sommer so unverfälscht, dass Call Me by Your Name nie lang erscheint, auch wenn im Grund nur wenig geschieht. Armie Hammer und Michael Stuhlbarg sind gleichermaßen bemerkenswert, so wie die fantastische Bilderauswahl. Die vorsichtige Erzählung ist gleichermaßen natürlich wie stimmungsvoll. Doch was Luca Guadagninos Film vermissen lässt, ist ein Abschluss oder überhaupt ein Ausblick der Entwicklung der Hauptfigur. Während sich der Filmemacher die Zeit nimmt, manche Momente mit einer verschwenderischen Besinnlichkeit einzufangen, ist es, als endet das Drama früher, als es sollte.
Das macht es – schon auf Grund der inspirierenden und wichtigen Botschaft – nicht weniger bemerkenswert, nur am Ende nicht erfüllend. Zwar eignet es sich auf diese Weise nur für ein kleines Publikum, aber dies bleibt ein starker und sehenswerter Film.