Wie wilde Tiere [2022]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 17. Oktober 2023
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: As Bestas
Laufzeit: 137 min.
Produktionsland: Spanien / Frankreich
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Rodrigo Sorogoyen
Musik: Olivier Arson
Besetzung: Marina Foïs, Denis Ménochet, Luis Zahera, Diego Anido, Marie Colomb, Luisa Merelas, José Manuel Fernández Blanco, Federico Pérez Rey, Javier Varela, David Menéndez, Xavier Estévez


Kurzinhalt:

Seinen Beruf als Lehrer hat Franzose Antoine (Denis Ménochet) aufgegeben, um in den Bergen Galiciens im Nordwesten Spaniens mit seiner Frau Olga (Marina Foïs) einen kleinen Hof aufzubauen. Viele Häuser im Dorf sind verlassen, Grundstücke und Höfe aufgegeben. Das Leben ist hart und bringt kaum Gewinn. Mit dem Verkauf des Gemüses, das sie anbauen, kommen Antoine und Olga gerade so über die Runden. Doch Antoines Ziel ist ein anderes, er renoviert nach und nach die verlassenen Hütten, um sie kostenlos für Touristen anzubieten. Er will die langsam aussterbende Region wiederbeleben. Anfangs wurde er, der kaum die Sprache beherrschte, von den Ortsansässigen dafür belächelt. Doch seit einem halben Jahr wird er insbesondere von seinem Nachbarn Xan (Luis Zahera) und dessen Bruder Loren (Diego Anido) offen angefeindet. Antoine hatte sich gegen den Bau von Windrädern entschieden und den Investor abgeschreckt. Von dem Erlös hatten sich Xan und die übrigen Bauern vor Ort jedoch einen Geldsegen versprochen. Antoine, der bemüht ist, den Kontakt zu den Dörflern nicht zu verlieren, wird immer wieder zurückgewiesen, bis die Einschüchterungen der Brüder in offenen Hass und körperliche Angriffe umschlagen …


Kritik:
Angesiedelt im ländlichen Galicien erzählt Rodrigo Sorogoyens Wie wilde Tiere von einem erbitterten Nachbarschaftsstreit ausgehend von einer inhärenten Bitterkeit, die das ungastliche Leben in den fordernden Bergen mit sich bringt. Brodelnd und stellenweise vor hasserfüllter Ablehnung überkochend, kommt das Thrillerdrama an einem Punkt an, von dem es kein Zurück mehr gibt. Dem zu folgen, ist so beunruhigend wie einnehmend. Vor allem ist es herausragend greifbar gespielt und umwerfend in Szene gesetzt.

Das Leben in den spanischen Bergen ist körperlich auf eine Art und Weise fordernd, dass es auch den Geist auszulaugen scheint. Die Bauern dort verdienen ihr Geld mit der Viehzucht oder dem Verkauf von Gemüse. Es sind lange Tage in den windgepeitschten Bergen. Sieht man die gegerbten Gesichter der Männer, die sich in dem örtlichen Wirtshaus jeden Abend treffen, scheinen sie ohne Lebensmut. Du meisten, vor allem die Frauen und die jungen Menschen, sind gegangen. Einzig das französische Paar Antoine und Olga sind hergezogen mit einem Plan, der den Einheimischen absurd erscheint. Mit Bio-Gemüse, das sie konventionell anbauen, wollen sie Interesse für die Gegend wecken. Sie renovieren alte, verfallene Häuser und Hütten, um sie kostenlos für den Tourismus anzubieten. Es ist Antoines Lebenstraum, dass auch andere die traumhaft schöne, mitunter schroffe Landschaft entdecken können. Dafür hat er seinen Beruf als Lehrer aufgegeben und deshalb hat er dagegen gestimmt, als ein Investor Windräder in den Bergen aufstellen wollte. Von den Erlösen der Stromproduktion haben sich die Ansässigen jedoch den Reichtum, den Lohn versprochen, der ihnen für ihr hartes Leben zustehen soll. Es wundert also nicht, dass die zwei Einwanderer nicht gern gesehen sind. Insbesondere die Brüder Xan und Loren Anta grenzen Antoine aus, beleidigen und verhöhnen ihn. Aus verbalen Angriffen werden Einschüchterungen und schließlich körperliche Auseinandersetzungen.

Es ist eine Spirale, die keine Grenze kennt und bald schon die bloße Existenz von Antoine und Olga gefährdet. Beide arbeiten hart für ihr geringes Auskommen, bestellen den Acker von Hand, haben Kontakte im Dorf sowie Stammkundschaft auf dem Markt geknüpft. Sieht man, wie sehr sie unter sich bleiben, auf ihre tagtägliche, anstrengende Arbeit fokussiert, ist es leicht, den Bösen der Erzählung auszumachen. Umso mehr, wenn man erlebt, mit welcher Bedrohlichkeit Xan auftritt und wie unberechenbar der seit einem Pferdeunfall geistig herausgeforderte Loren erscheint. Bei einem Dominospiel im Wirtshaus, bei dem Xan einmal mehr die Fremdenfeindlichkeit und seine grundlegende Ablehnung für Antoine zur Schau stellt, der als nicht dort geborener auch nicht dieselben Rechte haben sollte, wie er selbst, spitzt sich die Lage im ersten Drittel derart zu, dass einem beinahe der Atem stockt.

Die Dialoge sind so schneidend, dass einem bei Wie wilde Tiere regelrecht heiß und kalt wird. In zwei immens langen Dialogszenen, einmal zwischen Xan und Antoine, später zwischen Olga und ihrer Tochter Marie, werden die Figuren, ihre Hoffnungen und Überzeugungen, ihr Verlangen und ihre Unnachgiebigkeit auf eine Art und Weise entblättert, wie man es nur selten sieht. Es sind durchweg preiswürdige Darbietungen von Denis Ménochet als Antoine und Luis Zahera als Xan, die in dem, was sie aussprechen und wie, einander näher sind, als Antoine und Olga, die von Marina Foïs in einer charismatisch zurückhaltenden Art fantastisch zum Leben erweckt wird. Marie Colomb steht dem nicht nach, ebenso wenig Diego Anido. Wohnt man diesen Momenten bei, sieht die klaustrophobische Abgeschiedenheit mit ihrer paradox erscheinenden Weitläufigkeit, dann erinnert Rodrigo Sorogoyens Erzählung an ein intensiv zum Leben erwecktes Kammerspiel.

Er stellt in diesem Porträt eine Gesellschaft weit ab der Großstädte oder des ansonsten ländlichen Lebens vor und macht die unterschiedlichen Ansichten sowohl von Antoine wie auch von Xan nachvollziehbar. Nicht, welche Handlungen daraus erwachsen, aber was sie dazu veranlasst. Das ist faszinierend und erschreckend zugleich. Umso mehr, weil es auf eine greifbare Weise vertraut erscheint. Dass die Geschichte für den letzten Akt ein Jahr nach vorne springt, scheint auf den ersten Blick nicht dazu zu passen. Es ermöglicht Wie wilde Tiere, dadurch eine Figur zu vertiefen, die bis dahin lediglich eine Nebenrolle erfüllte. Doch der Sprung reißt in gewisser Weise die Erzählung auseinander und macht den Film merklich länger. Ob sämtliche Eindrücke der spürbar über zwei Stunden dauernden Laufzeit notwendig sind, um die Aussagen zu verdeutlichen, kann man diskutieren. Sie ermöglichen es dem Publikum allerdings, in diese Welt einzutauchen, in der sich menschliche Abgründe in der unwirtlichen, wenn auch malerischen Landschaft gewissermaßen widerspiegeln.


Fazit:
Die Umgebung könnte fantastischer kaum sein, wenn man die Schönheit in der Unbezähmbarkeit der Natur erkennt. Auch klingen Antoines wie Olgas Pläne ehrenhaft und vorbildlich. Doch statt die Wünsche und Hoffnungen der Ortsansässigen beiseitezuwischen oder geringzuschätzen, nimmt sich Filmemacher Rodrigo Sorogoyen die Zeit, beide Seiten des verhärteten Konflikts zu beleuchten. Das entschuldigt nicht die Ressentiments, den unverblümten Hass, der Antoine von Xan entgegenschlägt, oder die Anfeindungen und Einschüchterungen, die er erlebt. Es erklärt sie lediglich. Mitzuerleben, wie Antoine unter dem stets physischer werdenden Psychoterror zugrundegeht, ist beunruhigend, die Bedrohlichkeit, die sich in vielen Momenten aufbaut, mit Händen zu greifen. Es herrscht eine beunruhigende Atmosphäre vor, die einem regelrecht Furcht davor einflößt, was in den jeweiligen Szenen geschehen wird. Hervorragend und intensiv gespielt, sind es zwei bzw. drei Dialogmomente, die sich lange hinziehen und das Publikum wie die Beteiligten merklich fordern. Es sind die besten Dialoge, die es seit langem auf der Leinwand zu bestaunen gab. Ruhig, unvermittelt authentisch und doch zum zerreißen gespannt präsentiert, ist Wie wilde Tiere ein Film über Beharrlichkeit, die in Bitterkeit umschlägt und alles verschlingt, was oder wer sich dem in den Weg stellt. Hierfür gibt es keinen Abschluss, das lässt ihn nur noch länger nachwirken.