Was tun [2020]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 16. Mai 2020
Genre: Dokumentation

Laufzeit: 73 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Michael Kranz
Musik: Vedanth Bharadwaj, Alex Komlew
Personen: Michael Kranz, Shyamal Adhikari, Chanchala Mondal, Nupur, Hafeza, Aleya, Padma, Monica, Redoy, Mongoli, The Bondhu Kids


Hintergrund:

Die Fragen eines 15-jährigen, zwangsprostituierten Mädchens in Bangladesh, das sich bei einer Dokumentation direkt an die Kamera wendet und fragt, ob es keinen anderen Weg gibt, lassen den Dokumentarfilmstudenten Michael Kranz nicht los. Sieben Jahre, nachdem die Aufnahmen des preisgekrönten Filmemachers Michael Glawogger entstanden sind, macht sich Kranz auf, dieses Mädchen zu finden. Er stellt sich selbst die Frage, „Was tun?“ Wie soll man sich selbst auseinandersetzen mit dieser Ungerechtigkeit in der Welt? Und kann man tatsächlich als einzelne Person eine Veränderung bewirken? Bei seiner Suche in Bangladesh trifft Kraus auf eine Welt, in der Zwangsprostitution und soziale Ausgrenzung Hand in Hand gehen, in der Mädchen weggesperrt werden, während Jungen sich frei bewegen können. Er sieht Leid und mutige Frauen, die bereit sind, sich zu äußern uns zu wehren. Aber auch Menschen, die mit eigenen Hilfsorganisationen unermüdlich versuchen, etwas zu bewirken. Vielleicht stellen sie die Antwort auf die ursprüngliche Frage dar.


Kritik:
„Als Frau zu überleben ist wirklich sehr schwer. Warum müssen wir mit so viel Leid leben? Gibt es keinen anderen Weg für uns Frauen?“ Diese Fragen, die Filmemacher Michael Kranz zwei Jahre lang nicht losgelassen haben, sind genau genommen eine Anklage an all diejenigen, die sie gehört haben und nichts dagegen unternehmen. Dass sie von einem 15-jährigen Mädchen ausgesprochen werden, das sich in der Kleinstadt Faridpur in Bangladesch als Zwangsprostituierte ihren Freiern hingeben muss, machen ihre Brisanz nur umso erschütternder. Im preisgekrönten Dokumentarfilm Whores’ Glory [2011] von Michael Glawogger wurden sie gestellt und beschäftigen Kranz derart, dass er sich fragt, was man tatsächlich tun kann. In seiner Dokumentation Was tun macht er sich auf, das Mädchen von damals zu finden und trifft in Bangladesh auf eine Welt, die hoffnungsloser kaum sein könnte. Die Antworten, die er auf die im Filmtitel steckende Frage findet, sind ebenso wichtig wie das Porträt, das er zeichnet, selbst wenn er erstere nicht deutlich genug herausarbeitet.

Dabei fasst Michael Kranz die alles definierende Überlegung selbst zusammen: Haben wir eine globale Verantwortung? Tagtäglich strömen in Nachrichten und Berichten unzählige Informationen zu Schicksalsschläge, Katastrophen und Ungerechtigkeiten auf uns ein. Sie machen uns betroffen, beschäftigen uns mitunter kürzer oder länger. Aber sie bringen uns selten dazu, zu handeln. Was ist die richtige Antwort in solchen Fällen? Das Leid und Unrecht auszublenden, oder es schlichtweg mit der bequemen räumlichen Entfernung und einer damit einhergehenden emotionalen Distanz als unumstößliche Tatsache hinzunehmen? In Was tun muss der Filmemacher nach seiner Ankunft in Faridpur erkennen, wie der emotionale Schutzschild, den er mit der Filmkamera vor sich trägt, Stück für Stück durchlässiger wird. Dem Publikum, das ihn Schritt für Schritt begleitet, ergeht es ebenso, wenn man in den Bordellen, wo die Frauen auch leben, viele Kinder sieht, wohl von den Prostituierten, die ungewollt schwanger wurden. Kinder, die in diesen Elendsvierteln aufwachsen und darum bitten, in die Schule gehen zu dürfen, anstatt jeden Tat mitansehen zu müssen, wie sich die Freier an ihren Müttern vergehen. Reguläre Schulen dürfen sie nicht besuchen, weil es der religiösen Überzeugung nach eine Sünde darstellt, sich diesen „ehrlosen“ Frauen nur zu nähern. Dass sie die Opfer sind, wird gesellschaftlich verkannt, vielleicht auch, weil sich die Gesellschaft der Scham, dies zugelassen zu haben, sonst stellen müsste. Zusätzlich zur räumlichen Abgrenzung werden die Frauen und ihre Kinder damit sozial nur weiter isoliert.

Dieser Blick, nicht von außen auf diese so weit entfernt scheinende Welt, sondern von innen heraus, macht stellenweise fassungslos. Wenn Menschenhändler bereitwillig vor der Kamera zugeben, Mädchen auf der Straße aufzulesen, sie zu betäuben und zu vergewaltigen, um sie anschließend in die Zwangsprostitution zu verkaufen. Wenn sie erklären, dass es ihnen egal ist, wie die Mädchen leiden, als wären sie keine Menschen. Oder wenn Mädchen, die aus den Bordellen „gerettet“ werden, in ein Regierungsheim gebracht werden, wo sie hinter Stacheldraht und mit Vorhängeschloss weggesperrt werden, weil ihre Familien nichts mit ihnen zu tun haben wollen und die Mädchen ohne sie in der Gesellschaft alleine nicht durchkommen werden. Als weißer Mann mit einer Kamera erhält Michael Kranz in Was tun ungeahnt offenen Einblick in jene Welt, die Teil der unseren ist, ohne dass wir sie als solche wahrnehmen. Seine stellvertretend aufgezeigten Schicksale machen betroffen, ohne dass er dabei in Bildern zu sehr ins Detail gehen müsste.

Dennoch findet er Zeichen der Hoffnung, wenn er beispielsweise Shyamal aufsucht, der mit seiner Frau Chanchala den gemeinnütziger Verein „Shapla Mohila“ („Lilienfrau“) gegründet hat, für Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Auf die Frage, ob man dem Mädchen in dem Video, das ihn auf diese Reise geschickt hat, helfen könnte, meint Shyamal, dass dies vielleicht möglich wäre, aber dass man das System an sich ändern muss, das diese Frauen, an denen Verbrechen verübt werden, stigmatisiert und ihnen den Weg in die Gesellschaft zurück gleichzeitig versperrt. Doch ein ganzes System umzukrempeln, scheint eine unlösbare Aufgabe. Dabei findet der Dokumentarfilmer in einem Jungenheim und dem aus seinem Engagement für dessen Errichtung hervorgegangenen „Bondhu Förderverein Deutschland e.V.“ eine Möglichkeit, wie man einen Beitrag leisten kann. Dass er dies am Ende nicht herausstellt, mag einer lobenswerten Zurückhaltung geschuldet sein, doch es erweckt gewissermaßen den Eindruck, als hätte er keine Antwort auf die von ihm aufgeworfene Frage, Was tun. Dass seine nicht die einzige ist, steht außer Frage. Aber es scheint in wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Das kann man nicht genug betonen.


Fazit:
In einer immer vernetzter werdenden Welt, scheinen die ungleichen Chancen und Möglichkeiten nur umso stärker hervorzutreten. Ein Filmemacher Anfang 30, dessen Karriere sich in alle Richtungen entwickeln kann und der sich nur für einen Weg entscheiden muss, könnte weiter nicht entfernt sein von einem 15 Jahre alten Mädchen, das als Prostituierte gezwungen wird, sich im Bordell regelmäßig vergewaltigen zu lassen. Sie wohnen auf derselben Erde und doch in unterschiedlichen Welten. Diese Diskrepanz herauszuarbeiten, gelingt Michael Kranz auch dank seiner persönlichen Einblicke in jene Welt, in der er die Frauen zu Wort kommen lässt – und die Kinder, die nichts anderes kennen. Dass er keine Freier befragt, die die Situation der Mädchen und Frauen ebenso ausnutzen wie die Menschenhändler oder die Zuhälterinnen und Zuhälter, ist ein Versäumnis, könnte es doch zeigen, wo man zusätzlich ansetzen könnte, die Situation der Opfer zu verbessern. Mit seinem Wunsch, einen Unterschied zu machen, wird der Dokumentarfilmer einem Großteil seines Publikums aus der Seele sprechen. Gerade mit den Informationen am Ende zu den Menschen, die er hier porträtiert, zeigt er auf, was seiner Meinung nach möglich werden kann. Dies hätte durchaus stärker in den Fokus gerückt werden können. Was tun ist eine ebenso bedrückende wie stellenweise aufwühlende Dokumentation, die einen ehrlichen Blick auf ein Thema wagt, mit dem man sich nur ungern beschäftigt. Wie wichtig es ist, hiervor nicht die Augen zu verschließen, zeigt der Filmemacher auf sehenswerte Weise und findet auch vorsichtige Zeichen der Hoffnung. Die sind nicht einmal annähernd genug, aber sie sind ein Anfang.