The Whale [2022]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 15. August 2023
Genre: Drama

Originaltitel: The Whale
Laufzeit: 117 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Darren Aronofsky
Musik: Rob Simonsen
Besetzung: Brendan Fraser, Hong Chau, Sadie Sink, Ty Simpkins, Samantha Morton, Sathya Sridharan, Jacey Sink, Allison Altman, Wilhelm Schalaudek


Kurzinhalt:

Charlie (Brendan Fraser) gibt als Literaturdozent Onlinekurse. Seine Klasse hat ihn trotz der ständigen Videochats nie zu Gesicht bekommen, da er die nicht Kamera aktiviert. Charlie ist krankhaft übergewichtig, verlässt nie seine Wohnung und hat keinen wirklichen Kontakt zur Außenwelt. Seine einzige Freundin ist die Krankenschwester Liz (Hong Chau), die ihm schonungslos mitteilt, dass auf Grund seines stark erhöhten Blutdrucks jederzeit eine Herzinsuffizienz drohen kann. Doch Charlie will sich nicht behandeln lassen. Stattdessen sucht er den Kontakt zu seiner Tochter Ellie (Sadie Sink), für die er seit der Trennung von seiner Ex-Frau Mary (Samantha Morton) vor acht Jahren kein Umgangsrecht hat. Ellie hat ihrem Vater nie verziehen, dass – und weshalb – er sie verlassen hat, weswegen sie nicht nur ihm gegenüber überaus verletzend auftritt. Deshalb bietet Charlie ihr Geld an, wenn sie Zeit mit ihm verbringt. Die Spannungen zwischen ihnen nehmen schnell zu, wobei sich Charlies Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Hinzu kommt, dass der junge Missionar Thomas (Ty Simpkins) glaubt, er könne Charlie retten – doch der scheint sich mit seinem Schicksal längst abgefunden zu haben …


Kritik:
Darren Aronofskys The Whale ist ein Drama, das seine Figuren in einer Geschwindigkeit und mit einer Unnachgiebigkeit blanklegt, dass es mitunter schwerfällt, dabei zuzusehen. Die Oscar-prämierte Darbietung von Brendan Fraser im Zentrum geht als Tour de Force unter die Haut und überstrahlt dabei die übrige Besetzung, die gleichermaßen fantastisch zur Geltung kommt. Als Kammerspiel exzellent aufgebaut und mit schneidenden Dialogen versehen, ist dies einer der besten und entblößendsten Filme der vergangenen Jahre.

Die Geschichte begleitet den Literaturdozenten Charlie über den Verlauf einer Woche. Charlie gibt Onlinekurse, unterrichtet im Fernstudium, wobei er seine eigene Kamera ausgeschaltet lässt und behauptet, sie sei kaputt. Denn Charlie ist hochgradig übergewichtig und wiegt in Folge seiner Fresssucht inzwischen 300 kg. Er kann ohne Gehhilfe weder stehen, noch laufen, sich ins Bett oder auf die Toilette zu hieven, ist ein kaum vorstellbarer Kraftakt. Seine Wohnung verlässt er nur, um die Pizzen herein zu holen, die er sich liefern lässt. Seine einzige Freundin ist die Krankenschwester Liz, mit der ihn auch der Grund für seine Adipositas verbindet. Nachdem die Liebe seines Lebens sich das eigene genommen hatte, war Charlie in ein selbstzerstörerisches Loch gefallen, aus dem er glaubte, sich mit Essen befreien oder wenigstens den Schmerz darüber betäuben zu können.

Sieht man Charlie zum ersten Mal, glaubt man, ihn am Tiefpunkt seines Lebens zu treffen. Ständig schwitzend auf Grund seiner Leibesfülle und seines stark erhöhten Blutdrucks, sich selbst befriedigend, während er in der unaufgeräumten Wohnung auf dem Sofa sitzt. Es ist eine Anstrengung, die ihn beinahe das Leben kostet, wäre es nicht um den jungen Missionar der New Life Church Kirchengemeinde, Thomas, der an Charlies Tür klopft. Thomas gelingt es, indem er einen Aufsatz vorliest, den Charlie wie einen Schatz hütet, dass dieser sich beruhigen kann und die Schmerzen in seiner Brust nachlassen. Thomas ist auf der Suche nach jemanden, den er bekehren, den er retten kann. Er ahnt nicht, dass Charlie nicht gerettet werden will oder sein Tiefpunkt noch lange nicht erreich ist. Nach einem neuerlichen Blick auf seinen Blutdruck, teilt Liz ihm mit, dass Charlie die Woche vermutlich nicht überleben wird. Doch in ein Krankenhaus will er nicht. Das Todesurteil veranlasst ihn vielmehr dazu, Kontakt mit seiner 16jährigen Tochter Ellie zu suchen, die er vor acht Jahren zuletzt gesehen und für die er kein Umgangsrecht hat.

Die Ursprünge des Theaterstücks von Samuel D. Hunter verwandelt Filmemacher Aronofsky als Stärken der Erzählung, schildert eine kleine Anzahl von Personen, die sich in Charlies Apartment abwechseln. Zum einen Thomas, der wie Charlie etwas wieder gut machen will, aber auch Liz, die zum zweiten Mal mit ansehen muss, wie jemand, der ihr nahesteht, körperlich verfällt. Sichtbar weicht die Kraft aus ihr in Anbetracht der Unabänderlichkeit des Ausgangs von Charlies Lebenssituation, aber dennoch kann sie ihn nicht sich selbst überlassen. Ellie hat ihrem Vater nie verziehen, dass und weswegen er sie vor Jahren verlassen hat. Ihr Auftritt ist bewusst verletzend, sogar demütigend und abweisend. Doch trotz allem versucht Charlie nicht nur, das Gute in seiner Tochter zu sehen, er blickt hinter ihre Fassade, was ihr in Anbetracht all dessen, was sich angestaut hat, nur noch mehr den Boden unter den Füßen entreißt.

Die Dialoge in The Whale entblättern die Figuren mit einer Präzision, dass der Blick hinter Charlies Aussehen gleitet und man beginnt, seinen Charakter zu erkennen. Sagt er stets, es tue ihm leid, dann ist das keine Floskel, sondern seine tiefe Überzeugung. Er weiß, was er den Menschen um sich herum zumutet, was er sich selbst antut. Ebenso umreißt er, wie schlecht es um seine Gesundheit steht und was dies für ihn bedeutet. Doch anstatt zu reagieren, sein Verhalten zu ändern, schaufelt er weiter Essen in sich hinein, das – sieht man seinen sehnsüchtigen Blick, obwohl er alles andere als hungrig sein kann – für ihn wie eine Droge wirkt. So hastig, dass er beinahe daran erstickt. Er ist ein Gefangener seines eigenen Verlangens und wirkt, nicht nur in Momenten, in denen jede Bewegung zu einer übermenschlichen Kraftanstrengung verkommt, sondern selbst, wenn Liz nüchtern mit ihm spricht, in einem Maße hilflos, dass man erkennt, dass er gleichzeitig Täter und Opfer in einem ist. Er tut sich und seinem Körper dies an, aber nicht aus reiner Maßlosigkeit heraus, sondern weil es sein Weg ist, mit einem traumatischen Verlust umzugehen. Es ist ein Krankheitsbild, das weit über das gemeinhin bekannte „Frustessen“ hinausgeht. Insbesondere diejenigen, die selbst mit einer gesunden, gleichmäßigen Ernährung hadern, können sich hier wiedererkennen und was man sieht, ist gleichermaßen erschreckend wie bedrückend. Dass Charlie in der Lage ist, das Gute in anderen zu sehen, trotz seiner Umstände als Optimist daran festhält, solche Qualitäten aber in sich selbst nicht zu erkennen und sich deshalb nicht selbst zu vergeben vermag, macht ihn als Figur nur noch tragischer.

The Whale ist ein so einfühlsames wie facettenreiches Dialogdrama, herausragend verkörpert von Brendan Fraser, dessen Blick und Mimik allein mehr ausdrücken, als Worte vermitteln könnten. Hong Chaus Darbietung steht dem in nichts nach, Samantha Mortons Auftritt ist auch in Anbetracht der emotionalen Achterbahn elektrisierend und Sadie Sink zeigt als Ellie hinter der abweisenden, geradezu manipulativ bösartigen Mauer, die sie errichtet hat, eine schlichtweg umwerfende Bandbreite. Sie alle erwecken eine Geschichte zum Leben, die so packend wie traurig geraten ist, am Ende aber doch mit einer lebensbejahenden Aussage, die überrascht. Gerade auf Grund des schwierigen Themas ein starker Film.

Bei Plaion Pictures GmbH sowohl als DVD, Blu-ray wie auch 4K Ultra-HD erschienen, bewahrt die Heimvideoveröffentlichung die zurückhaltende Klangkulisse, die auf Grund der beengten Räumlichkeit stark an ein Theaterstück erinnert, ebenso bei, wie die gedämpfte, ausgewaschene Farbpalette. Charlie fristet sein Dasein abgeschirmt von der Welt, die Jalousien sind meist verschlossen und erst ganz am Ende durchflutet Sonnenlicht das Apartment. Präsentiert im heute unüblichen Bildformat von 1.33:1, wirkt Charlies Statur damit noch bildschirmfüllender, seine Welt umso eingeengter. Die Blu-ray-Disc wartet mit einer tadellosen Bildqualität auf, während die deutsche wie englisch Tonspur jeweils in DTS-HD Master Audio 5.1 präsentiert werden, bei der die Umgebungsgeräusche, zu denen auch das Meeresrauschen gehört, das Charlie zum Ende hin vernimmt, toll zur Geltung kommen. Vom Hauptfilm abgesehen, sind die Extras jedoch das Highlight der Veröffentlichung. Mit Making-ofs und Interviews gewähren die Verantwortlichen einen Einblick in die Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Films. Es verleiht der Story und der Leistung der Besetzung von The Whale nur noch mehr Gewicht. Dass ein Audiokommentar fehlt, ist allerdings bedauerlich und auch das Booklet bleibt dem Mediabook vorbehalten.


Fazit:
Es ist ein Einfaches, Charlies Statur oder auch sein Essverhalten anzusehen und zu sagen, dass er sich all dies selbst zuzuschreiben hat. Ebenso, wie Ellies Auftreten als verletzende Teeangerin in ein Muster passen würde, wie man es gerne auf andere Menschen anwendet. Doch statt sich mit plakativen Klischees zufrieden zu geben, trägt das Drehbuch durch fantastische und teils sogar unangenehme Dialoge Schicht um Schicht der augenscheinlich so unterschiedlichen Charaktere ab, die mehr gemein haben, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Filmemacher Darren Aronofsky zeigt Charlie, was er sich antut und weshalb dem so ist, mit einer geradezu fordernden Beharrlichkeit. Sei es, wenn er an allem zu verzweifeln droht, oder aus Frust einer Fressattacke erliegt. Ihn dafür zu verurteilen, fällt schwer, da es der erstklassigen Besetzung gelingt, den Kern ihrer Figuren vor ihr Verhalten zu stellen. Teilweise verborgen unter einer unvorstellbaren Maskenarbeit, zeigt Brendan Fraser die beste und ergreifendste Darbietung seiner Karriere. Sie ist ein Aspekt eines erstklassig eingefangenen Kammerspiels, dessen Dramaturgie von Beginn an mitnimmt und das einen länger beschäftigt, als man sich eingestehen möchte. The Whale ist ein großartiger Film in jeder Hinsicht – ein Meisterwerk.



Die Blu-ray-Disc-Veröffentlichung von The Whale

Wertung der Disc: 5 von 6 Punkten

Features der Blu-ray
Tonspuren Deutsch, Englisch: DTS-HD Master Audio 5.1
Untertitel Deutsch
Extras  • People are Amazing: Making Of The Whale* (24 min.)
 • Sounds of the Sea: Scoring The Whale* (mit dem Komponisten Rob Simonsen) (8 min.)
 • Interview mit Brendan Fraser, Hong Chau & Sadie Sink* (8 min.)
 • Interview mit Brendan Fraser und Samuel D. Hunter (Drehbuch)* (11 min.)
 • Trailer zum Film (deutsch und englisch)

* Untertitel sind wie oben verfügbar

The Whale-Packshot The Whale
ist seit 27. Juli 2023 digital,
als Blu-ray sowie im 4K Ultra-HD Mediabook
von Plaion Pictures GmbH erhältlich!
Urheberrecht des Bildes liegt bei
Plaion Pictures GmbH / Palouse Rights LLC.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung.