L’Immensità [2022]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. Juli 2023
Genre: Drama

Originaltitel: L’immensità
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: Italien / Frankreich
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Emanuele Crialese
Musik: Rauelsson
Besetzung: Luana Giuliani, Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Maria Chiara Goretti, Patrizio Francioni, Penelope Nieto Conti, Alvia Reale, India Santella, Mariangela Granelli, Valentina Cenni


Kurzinhalt:

Auf den ersten Blick könnte es Clara Borghetti (Penélope Cruz), ihren drei Kindern Adriana (Luana Giuliani), Gino (Patrizio Francioni), Diana (Maria Chiara Goretti) und ihrem Mann Felice (Vincenzo Amato) kaum besser gehen. In der neuen Wohnung haben sie einen traumhaften Blick über Rom und dank Felices Einkommen müssen sie sich keine Sorgen machen. Doch die Kinder spüren, dass zwischen ihren Eltern Spannungen herrschen, die sogar soweit gehen, dass Adriana dazwischen geht, als Felice seine Frau eines abends bedrängt. Die 12jährige Adriana selbst hadert mit sich, stiehlt sogar in der katholischen Schule Hostien aus der Sakristei, und bittet an den Himmel gerichtet inständig um ein Zeichen. Ihre Eltern hätten sie falsch gemacht, erzählt sie ihrer Mutter, weil sie sich nicht als Mädchen, sondern als Junge fühlt. Clara akzeptiert dies, unterstützt sie jedoch nicht offen dabei. Während Adriana in der Arbeitertochter Sara (Penelope Nieto Conti) jemanden findet, der sie als Junge zu akzeptieren scheint, wird der Riss durch die Familie auch durch Adrianas Identitätssuche nur größer. Dann erhält Clara eine Nachricht, von der sie dachte, dass sie sie nicht aus der Bahn werfen würde, doch genau das geschieht …


Kritik:
In seinem fünften Spielfilm erzählt der italienische Filmemacher Emanuele Crialese eine Familiengeschichte im Rom der 1970er-Jahre. Vor dem Hintergrund der ewigen Stadt, die eine Lockerheit und Unbeschwertheit ausstrahlt, zeichnet er in L’Immensità das Bild einer zerbrechenden Ehe und einer Reise der Selbstentdeckung der ältesten Tochter, die ihre Geschlechtsidentität ablehnt und damit den Riss in der Familie endgültig vollzieht. Als Drama ist dies einfühlsam und intensiv – aber ohne wirklichen Beginn oder Ende.

Was Adriana, genannt Adri, auf dem Dach des Mehrfamilienhauses genau tut, wenn sie mit den Händen gen Himmel gestreckt um ein Zeichen bittet, „irgendein Zeichen“, versteht man eingangs noch nicht. Doch gewährt das Drehbuch Einblick in den inneren Kampf der heranwachsenden Person, wird es später umso deutlicher. Die Kulisse Roms zu jener Zeit könnte einladender kaum sein und die Familie Borghetti, die in eine neue Wohnung der noch entstehenden Mehrfamilienhaussiedlung gezogen ist, scheint alles erreicht zu haben. Die gesamte, neue Einrichtung mit ihren knalligen Farben und unvergleichlichen Mustern sprüht vor Charme über. Adri und ihre Geschwister, der jüngere Bruder Gino und die jüngste Schwester Diana, werden von ihrer Mutter Clara umsorgt. Ob freiwillig, oder nicht, sei dahingestellt, sie widmet sich mit einer Hingabe ihren Kindern, dass sie tagsüber sogar geschminkt ist. Dass sie das Make-up bewusst ablegt, wenn ihr Mann Felice nach Hause kommt, verrät wortlos bereits viel über den Stand ihrer Beziehung.

Anstatt solche Beobachtungen zu unterstreichen, trifft L’Immensità sie im Vorbeigehen. Die Schlussfolgerungen daraus soll das Publikum selbst ziehen. So auch, weshalb es der 12jährigen Adri missfällt, dass ihre Mutter überhaupt Lippenstift, Mascara oder Ohrringe trägt, die typisch weiblich assoziierte Merkmale sind. Wird Clara später von zwei Männern bedrängt, macht Adri ihr in gewisser Hinsicht sogar Vorwürfe, dies wäre, weil sie so schön sei und sie solle einfach „weniger schön“ auftreten. Was Adri tatsächlich beschäftigt, wird deutlich, wenn sie mit ihren Geschwistern durch ein von Schilf bewachsenes Grundstück gegenüber zu einer Arbeitersiedlung geht. Dort trifft sie auf das Mädchen Sara, dem sich die burschikos auftretende Adriana als Andreas vorstellt. Wird Andreas später bei der Begrüßung durch eine Ärztin als Junge angesprochen, fühlt er sich geschmeichelt und wird umso wütender, als Clara die Ärztin korrigiert.

In einer Zeit, in der die Ehe der Eltern für alle Kinder spürbar an einem Scheideweg angekommen ist, beginnt für Andreas auch im Rahmen der Selbstfindung ein Abnabelungsprozess, in dessen Zug viel verbrannte Erde zurückgelassen wird. Wie schwierig die Beziehung zu den Eltern sowie zwischen Clara und Felice ist, wird nicht nur an der angespannt kühlen Stimmung beim Abendessen deutlich. Vielmehr sieht Felice in Adriana „das Problem dieser Familie“, bemängelt, dass sich seine Freunde darüber lustig machen würde, dass sie ein Junge sein wolle und gibt Clara die Schuld hierfür. Aber auch, wenn Clara ihr Kind in Schutz nimmt, sie ermutigt es nicht, einen eigenen Weg zu gehen. So vertraut die Beziehung zwischen Clara und Adri auch sein mag, was Andreas benötigt, ist eine Person, die Halt gibt. Zwischen ihnen tut sich eine Kluft auf, die bei einem Familienwochenende mit der Verwandtschaft deutlich wird. Sollen die Kinder, nachdem sie Quatsch gemacht haben, von den Müttern gezüchtigt werden, würde Clara die Sache auf sich beruhen lassen. Doch Adri reizt ihre Mutter förmlich, das vertraute Band zwischen ihnen zu zerschneiden. Wird Clara zuvor auf ein Podest gehoben, so dass Andreas sie sich sogar vorstellt, wie sie anstelle von Prominenten im Fernsehen auftritt, muss er erkennen, dass Clara selbst verletzlich ist, die Stärke, die immer gesehen wurde, mehr ein Panzer zum Selbstschutz, denn eine Eigenschaft. Andreas’ Ideal zeigt menschliche Schwächen, die den eigenen nicht unähnlich sind. Doch dieses neue Bild der eigenen Eltern zu erkennen ist eines – es zu akzeptieren, etwas ganz anderes.

L’Immensità begleitet diesen Prozess einerseits und stellt gleichzeitig Claras Erfahrungen in einer Ehe vor, in der sie nicht nur zunehmend unglücklich ist, sondern in der sie sich vor der offenen Gewalt ihres Ehemannes in Zigaretten und Rotwein flüchtet. Gleichzeitig mitanzusehen, wie ihr ältestes Kind eine Freiheit entdeckt, die für sie selbst in weiter Ferne liegt, belastet sie überdies. Penélope Cruz bringt eine Natürlichkeit zu dieser durchaus zwischen Extremen pendelnden Rolle, die unter die Haut geht. Claras Fröhlichkeit, wenn sie mit ihren Kindern tanzt und singt, ist geradezu ansteckend, ihr sehnsüchtiger Blick und ihre Verletzlichkeit ungemein berührend. Sieht man jedoch ihre tiefgehende Enttäuschung und Traurigkeit, wie sie um Leichtigkeit bemüht ist, ohne dass ihre Augen selbige ausstrahlen, springt die Zerrissenheit ihrer Figur auf das Publikum über.

Dem steht Luana Giuliani in der Rolle von Adriana bzw. Andreas grundsätzlich in nichts nach. Die zarte Annäherung zwischen Andreas und Sara zu beobachten, ist es geradezu herzerwärmend. So unbeschwert ist er, blüht auf, als wäre eine Last von ihm genommen. Dennoch und auch zum Ende hin bleibt die Figur verschlossen, so dass man sich die Bedeutung der letzten Momente erschließen muss, ob dies die Loslösung von der Mutter verbildlicht, wenn nicht mehr sie, sondern Andreas selbst der Star auf der Bühne ist. Es wäre ein treffendes Bild, doch eines, das auch unterstreicht, wie wenig die Geschichte von Clara abgeschlossen ist.


Fazit:
Filmemacher Emanuele Crialese begleitet seine Figuren nicht auf dem ganzen Weg ihrer Entwicklung. Er zeigt vielmehr lediglich einen Abschnitt daraus, der etwas mehr als ein halbes Jahr umfasst. Darin lernt Adriana / Andreas, sich auf sich selbst zu verlassen, während Clara eine Gewissheit erhält, von der sie glaubte, sie würde sie nicht aus der Bahn werfen, doch das Gegenteil ist der Fall. Ihre Kinder müssen dies miterleben, sehen hilflos mit an, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wenigstens innerlich. Das Drehbuch zeigt die Auswirkungen, die dies auf sie hat, doch auch hier gibt es am Ende keine Auflösung, ein Ziel, zu dem die Schilderungen führen. L’Immensità präsentiert ruhig, zurückhaltend und beobachtend ein teils ergreifend gespieltes, lebensnahes Drama über das Erwachsenwerden, die Suche nach der eigenen Identität, und über eine Frau in einer unglücklichen Ehe. Das ist einfühlsam erzählt und wirkt mitunter wie ein geradezu intimes Porträt. Doch es ist eines, das kaum Hoffnungen macht, oder Wege aufzeigt, sondern so authentisch in sich gekehrt ist, wie die beiden tragenden Figuren. Damit bleibt deren Geschichte wohl aber auch einem breiten Publikum verschlossen.