Krysař [1985]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. März 2010
Genre: Animation / Fantasy

Originaltitel: Krysař
Laufzeit: 53 min.
Produktionsland: Tschechien / Deutschland
Produktionsjahr: 1985
FSK-Freigabe: nicht bekannt

Regie: Jiří Barta
Musik: Michael Kocáb
Stimmen: Oldrich Kaiser, Jiří Lábus, Michal Pavlícek, Vilém Čok


Kurzinhalt:
Es beginnt ein neuer Tag über der Stadt. Die Bewohner begeben sich auf die Straße und gehen ihren Geschäften nach. Es wird gefeilscht, betrogen, gezankt und gehandelt. Es ist der Alltag, der abends einer Völlerei Platz macht, die Ausdruck des Übermaßes ist, in dem viele Bewohner leben. Hemmungslos geben sie sich dem Essen und dem Trinken hin. Die vielen weggeworfenen Lebensmittel ziehen Ratten in die Stadt, welche sich an dem Gelage ebenso laben wie die Menschen. Bisweilen ist gar kein Unterschied zu sehen.
Doch dann überrennen die Ratten die Stadt und die Bürger sehen ihren Wohlstand gefährdet. In jener Zeit kommt ein Fremder in die Stadt und bietet gegen 1000 Goldstücke an, die Ratten mit seinem Flötenspiel aus den Stadtmauern zu locken. Die Stadtherren willigen ein und der Rattenfänger tut, was er versprochen hat. Nur wollen die Oberen ihm die Bezahlung verweigern und geben sich erneut ihrem hemmungslosen Gelage hin. Als der Fremde die Stadt verlassen will, muss er erkennen, dass selbst das unschuldigste aller Wesen in jener Stadt nicht in Frieden gelassen wird. Was auf die Bürger zukommt, haben sie sich selbst zu Schulden kommen lassen ...


Kritik:
Krysař ist eine Interpretation der Rattenfänger von Hameln-Sage, deren bekannteste Erzählung von den Brüdern Grimm stammt. Der tschechische Animationsfilm weist dabei einige Parallelen auf, wandelt die Geschichte des Fremden, der den Bewohnern der Stadt Hameln anbietet, ihre Straßen von Ratten und Mäusen zu befreien, an manchen Stellen ab. In der Sage ist der Rattenfänger erzürnt, als ihm die Bewohner seinen Lohn nach getaner Arbeit versagen, und lockt mit seinem Flötenspiel nun nicht mehr die Ratten, sondern die Kinder der Dorfbewohner. Krysař erzählt die Geschichte ein wenig anders.
Ob sich der Animationsfilm dabei an ein kindliches Publikum richtet, darf bezweifelt werden, die Bilder und das Aussehen der Figuren sind sehr düster geraten. Doch erzählt Regisseur Jiří Barta seine Geschichte universell für alle Sprachen: es wird in keiner verständlichen Sprache gesprochen.

Hört man heute, es handle sich um einen animierten Film, denkt man meist an die überall eingesetzte Computeranimation, in seltenen Fällen überhaupt noch an handgezeichnete Szenen. Krysař kombiniert verschiedene Methoden, um die seltsame Welt zum Leben zu erwecken. Die Figuren sind, von wenigen Puppen oder Aufnahmen echter Ratten abgesehen, allesamt aus Holz geschnitzt und mit einer staunenswerten Detailtreue und Beweglichkeit mittels Stop-Motion animiert. Die Hintergründe sind meist gezeichnet und dabei in Perspektiven so verschoben und verdreht, dass man mitunter mehrmals hinsehen muss, um zu verstehen, wie das Bild angeordnet ist. Einleitung und Ende sind in wärmeren Farben gezeichnet, doch die Handlung der knapp eine Stunde dauernden Sagenerzählung, ist in sehr düsteren Farben gehalten und erinnert von Architektur und Kleidung her an ein mittelalterliches Szenario, eingefangen in expressionistische Bilder.
Zu Beginn wird eine alltägliche Szenerie auf dem Marktplatz gezeigt, wo Feilschen, Handeln, kleine Betrügereien und womöglich sogar Tratsch zum Alltag gehören. Jedes Mal, wenn die Figuren hierbei ihre Laster zeigen, sei es nun Gier oder Neid, finden sich im Bild Ratten, welche die Figuren beobachten und darauf warten, zuschlagen zu können. Am Abend findet ein allnächtliches Gelage statt, bei dem maßlos gefressen und gesoffen wird. Krysař erweckt beinahe den Anschein, als wolle es die verschiedenen Todsünden (Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit) anhand der Bewohner aufzeigen und als Metapher einbringen, wie sich solche Gedanken entsprechend einer Plage verbreiten und Nährboden finden. So zerfressen die Ratten in jenem Sündenpfuhl buchstäblich das Fundament und eines Tages, als die Bewohner ihren Geschäften nachgehen, brechen sie über die Stadt herein. In diesem Moment betritt ein Fremder die Stadt, der den Bürgern anbietet, gegen Bezahlung die Ratten zu beseitigen. Die Stadtoberen willigen ein und es gelingt dem Fremden, die Ratten mit seinem Flötenspiel zu sich zu ziehen und sie zu ersäufen. Doch dann weigern sich die Stadtherren zu bezahlen und der Fremde nimmt eine grausame Rache. Spätestens hier wird klar, wer die Ratten in der Stadt tatsächlich sind, wer wie eine Plage beinahe jeden guten Keim, den der Fremde in einer schüchternen jungen Frau entdeckt, erstickt.

Die Figuren ohne Worte miteinander agieren zu lassen, stellt heraus, wie universell die Botschaft ist, und ob die Brüder Grimm diese unterschwellige Bedeutung mit transportieren oder nicht, Regisseur Jiří Barta gelingt es sehr gut, dem Rattenfänger hier eine Botschaft zu verleihen, die man im ersten Moment nicht vermutet hätte. Dieser tiefere Sinn offenbart sich jedoch den ganz kleinen Zuschauern noch nicht, und es darf auch bezweifelt werden, ob sie den immensen Aufwand hinter der Produktion erkennen werden. Die detailreichen Figuren und die nicht weniger aufwändige Gestaltung machen Krysař fraglos zu einem kleinen Juwel des klassischen Animationsfilms. Hätte man sich dagegen entschieden, die Geschichte stellenweise mit E-Gitarrenmusik zu unterlegen, wäre sie dennoch zeitloser.


Fazit:
Die handgemachte Animation macht Krysař zusammen mit dem düsteren Aussehen der Figuren und den vielseitigen Techniken, welche die Filmemacher in die Entstehung haben einfließen lassen, zu einem optisch faszinierenden Film. Über sämtliche Sprachbarrieren hinweg erzählt der Regisseur eine Geschichte, welche den Bogen von der Rattenfänger von Hameln-Sage hin zu Sodom und Gomorra spannt. Beinahe, als wäre die Rattenplage eine Manifestation der schlechten Eigenschaften der Bewohner, statt ein eigenes Hygieneproblem.
Die düsteren Bilder eignen sich nur bedingt für ein kindliches Publikum, das heutzutage meist mit handgemachter Animation ohnehin wenig anzufangen weiß. Aufmerksame Zuseher werden viele Anspielungen auf die Eigenheiten der Bürger herauslesen und Krysař trotz der sehr 1980er Jahre-lastigen musikalischen Untermalung zu schätzen wissen.