Die Fotografin [2023]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 16. August 2024
Genre: Biografie / Drama

Originaltitel: Lee
Laufzeit: 116 min.
Produktionsland: Großbritannien / USA / Norwegen / Australien / Irland / Singapur
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Ellen Kuras
Musik: Alexandre Desplat
Besetzung: Kate Winslet, Andy Samberg, Alexander Skarsgård, Josh O’Connor, Marion Cotillard, Andrea Riseborough, Noémie Merlant, Arinzé Kene, Vincent Colombe, Patrick Mille, Samuel Barnett, Zita Hanrot, James Murray


Kurzinhalt:

Im Rahmen eines Interviews mit dem Fotografen Tony (Josh O’Connor) erinnert sich die 70jährige Lee Miller (Kate Winslet), wie sie beinahe 40 Jahre zuvor mit freidenkenden Freundinnen und Freunden an der französischen Küste die Freuden des Lebens als Fotografin genoss, während im benachbarten Deutschland eine zerstörerische Macht unverhohlen Anhänger um sich schart. Zu jener Zeit lernt Lee den britischen Künstler Roland Penrose (Alexander Skarsgård) kennen. Sie verlieben sich und Lee folgt ihm nach London, wo sie nach Beginn des Zweiten Weltkrieges für das Vogue-Magazin unter der Redakteurin Audrey Withers (Andrea Riseborough) als Fotojournalistin den Alltag zu Kriegszeiten in Großbritannien einfängt. Doch es zieht Lee unaufhaltsam an die Front, was ihr als Frau wiederholt verwehrt wird. Als sie 1944 schließlich als eine der wenigen weiblichen Fotografinnen nach Paris zurückkehren darf, wo sie auf den amerikanischen Journalisten David Scherman (Andy Samberg) trifft, erkennt sie das Land kaum wieder und entdeckt Grausamkeiten, die ihre schlimmsten Befürchtungen übersteigen. Doch was sie für den Rest ihres Lebens prägen wird, steht ihr noch bevor …


Kritik:
Die längste Zeit über fehlt Ellen Kuras’ von Hauptdarstellerin Kate Winslet geradezu furchtlos gespielter Biografie der (Kriegs-)Fotografin Lee Miller das emotionale Gewicht, das man in Anbetracht der Thematik nicht nur erwarten, sondern voraussetzen würde. Doch mit einem starken letzten Drittel gelingt Die Fotografin mehr als nur ein stimmiges Porträt der Titelfigur. Es ist auch ein gelungener Kommentar der weiblichen Perspektive, nicht nur auf das Weltgeschehen, sondern speziell die Rollen, die Frauen darin übernehmen sollen.

Basierend auf der 1985 erschienenen Biografie von Antony Penrose setzt Die Fotografin an, nachdem die in den Vereinigten Staaten geborene Lee Miller bereits eine Karriere als Fotomodell feierte. Inzwischen ist sie selbst Kunst- bzw. Modefotografin in Paris und als solche überaus erfolgreich. Ende der 1930er-Jahre hat die gehobene Schicht in Frankreich zwar die Gefahr erkannt, die sich in Nazideutschland zusammenbraut, doch dass ein weiterer Krieg in Europa droht, wagt niemand, sich vorzustellen. Lee trifft auf den wohlhabenden britischen Künstler Roland Penrose und folgt ihm nach London, wo er nach Kriegsbeginn für das Militär arbeitet. Lee gelingt es, dank der Redakteurin der britischen Vogue, Audrey Withers, für das Modemagazin Kriegsereignisse wie den „Blitz“ zu dokumentieren. Sie konzentriert sich dabei auch auf die weibliche Perspektive, zeigt mit ihren Fotos, welche Aufgaben Frauen im Krieg übernehmen. Lange muss Lee dafür kämpfen, an die Front gehen zu dürfen, was Frauen verboten ist. Schließlich darf sie 1944 die Befreiung von Paris fotografisch begleiten. So sehr die Erfahrungen im Krieg sie nachhaltig prägen, was sie in den Konzentrationslagern von Buchenwald oder Dachau sieht und fotografiert, lässt sie ihr Leben lang nicht mehr los.

Es sind Eindrücke und Bilder, die einen selbst aufwühlen und fassungslos machen. Sie erklären den gleichermaßen desillusionierten wie stumpfen Blick in den Augen der 70jährigen Lee Miller, die als Rahmengeschichte der Erzählung in ihrem Haus in Großbritannien interviewt wird. Das wird umso deutlicher, wenn man später erfährt, was mit ihren Bildern jener unvorstellbaren Gräueltaten geschehen ist und dass nach dem Tod der Fotojournalistin 60.000 überwiegend unveröffentlichte Bilder, Negative, Tagebücher, Briefe und weitere Gegenstände in ihrem Haus entdeckt wurden. Doch da Filmemacherin Ellen Kuras diese Verbindung gewissermaßen erst in den letzten Minuten herstellt und sich zudem merklich zurückhält, was Lees Motivation anbelangt, sich wissentlich in Lebensgefahr zu begeben und um jeden Preis von der Front zu berichten, fällt es Die Fotografin merklich schwer, die Protagonistin tatsächlich greifbar zu machen.

Dass sie und Roland ineinander verliebt sind, steht außer Frage, doch gleichzeitig verbindet Lee mit dem Journalisten des Life-Magazins, David Scherman, der ebenfalls vom Krieg berichtet, eine Vertrautheit, die über reine Freundschaft hinauszugehen scheint. Dies wird ebenso wenig vertieft, wie Lee und Roland nach dem Krieg wieder zueinander gefunden haben. Überhaupt blendet Die Fotografin sowohl die Kindheit von Lee Miller als auch ihren Werdegang nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die späten 1970er-Jahre vollständig aus, so dass sich die Verfilmung nur bedingt als Biografie eignet. Doch selbst wenn ebenso wenig stringent ihr Werdegang als Fotografin zu Beginn des Krieges oder gar zuvor nachgezeichnet wird, es gelingt dem Drama vor allem Dank einer starken Darbietung von Kate Winslet, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie diese Erfahrungen Lee Miller verändert haben müssen.

Toll ausgestattet und durchweg gelungen in Szene gesetzt, erscheint der Auftakt geradezu unbeschwert, ehe die Grausamkeiten des Krieges das in gewisser Hinsicht ziellose Leben von Lee Miller in eine neue Richtung lenken. Sie findet für sich einen Platz, indem sie nicht nur den Alltag des Krieges dokumentiert, sondern auch die Perspektive der Frau in jener Zeit zur Geltung bringt. Es ist ein Aspekt, den sich das Drama auch dann bewahrt, wenn es die dunkelsten Orte der Menschheitsgeschichte aufsucht. Vieles in der zweiten Hälfte und insbesondere im letzten Akt ist überaus gelungen und zusammen mit den beim Abspann gezeigten, realen Bildern, die Lee Miller aufgenommen hat, verleiht dies den nachgestellten Szenen nur noch mehr Gewicht. Doch wiegt das nicht vollends auf, dass man vor allem zu Beginn kaum eine Verbindung zur Hauptfigur aufbauen kann und die Rahmengeschichte die Erzählung nicht wirklich bereichert. Zwar behält sich diese eine Überraschung am Ende vor, doch ob die wirklich notwendig ist und vor allem die Titelfigur ergänzt, sei dahingestellt. Nichtsdestotrotz, ihr Wirken und ihr Vermächtnis einem breiten Publikum zugänglich zu machen, gelingt Die Fotografin allemal.


Fazit:
Wissend, welches Geschehen Filmemacherin Ellen Kuras in ihrer seit langem in Entwicklung befindlichen Biografie abdecken wird, erscheint der Auftakt an der französischen Küste geradezu unpassend leicht. Dass die gerade einmal 30 Jahre alte Hauptfigur Lee Miller damals bereits von einer merklichen Melancholie geprägt wird, macht es noch schwerer, einen Zugang zu ihr zu finden. Dies wird auch kaum einfacher, wenn ihre Arbeit in England zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gezeigt wird, den sie mehr hinzunehmen scheint, als davon in Sterbensangst versetzt zu werden. Gelangt die Erzählung jedoch zu den Kämpfen auf französischem Boden und vor allem zu den Gräueltaten der Konzentrationslager, treffen diese Momente wie ein Schlag. Zusammen mit Offenbarungen in den letzten Minuten, rücken ihre Erfahrungen Lee in ein anderes Licht und lassen auch manche Hollywood-typische inhaltliche Vereinfachung oder absehbare Dialoge verzeihen. Trotz des sichtbaren Respekts vor Lee Miller wird ihre späte Würdigung dabei nicht ins Zentrum gerückt und nur am Rande thematisiert, welchen Einfluss sie nicht nur auf ihr Berufsfeld hatte, sondern auch die Art und Weise, wie insbesondere das Schicksal der Frauen im Krieg bildhaft dokumentiert wird. Trotz allem, was den Beteiligten hier gelingt, bleibt einiges des Potentials eines Porträts deshalb leider ungenutzt. Es ändert jedoch nichts daran, dass Die Fotografin ein guter Film mit einigen herausragenden Momenten ist, die unter die Haut gehen, insbesondere dank einer preiswürdigen Kate Winslet.