Was ist schon normal? [2024]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 22. Juli 2024
Genre: Komödie

Originaltitel: Un P’tit Truc En Plus
Laufzeit: 99 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Artus
Musik: noch nicht bekannt
Besetzung: Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, Marc Riso, Céline Groussard, Arnaud Toupense, Ludovic Boul, Gad Abecassis, Théophile Leroy, Stanislas Carmont, Marie Colin, Thibaut Conan, Mayane-Sarah El Baze, Sofian Ribes, Boris Pitoeff, Benjamin Vandewalle, Patrick Chanfray


Kurzinhalt:

Hätte Paul „Paulo“ Mounier (Artus) seine Maske nicht zu früh abgezogen und wäre von einer Zeugin erkannt worden, der Juwelierüberfall, den er mit seinem Vater Lucien (Clovis Cornillac) verübt hat, wäre tadellos verlaufen. Doch dann ist auch ihr Fluchtwagen nicht mehr da, sodass sie, um der Polizei zu entgehen, so tun, als wäre Paulo das noch ausstehende Mitglied einer Reisegruppe, die unter der Leitung von Alice (Alice Belaïdi) in ein Ferienhaus auf dem Land fährt. Da die Reisegruppe aus Menschen mit besonderen Bedürfnissen besteht, gibt sich Paulo als der geistig herausgeforderte Sylvain aus, Lucien als sein Betreuer Orpi. Weit weg von der Stadt angekommen, fällt es Lucien schwer, ohne Handyempfang ihre Flucht weiter zu planen und Paulo muss erkennen, dass seine Tarnung von den beiden Bewohnern Arnaud (Arnaud Toupense) und Ludovic (Ludovic Boul) durchschaut wurde. Als wäre das nicht genug, beginnt er auch, sich in die Betreuerin Alice zu verlieben und entdeckt währenddessen, dass diese so unterschiedliche Gruppe von Menschen mit Behinderungen ihn mit einer Herzlichkeit willkommen heißt, die er nie zuvor erfahren hat. Selbst Lucien, der einen besonderen Zugang zu dem Fußballfan Baptiste (Théophile Leroy) aufbaut, kommen Zweifel an ihrer Flucht …


Kritik:
Die französische Komödie Was ist schon normal? erzählt von zwei Juwelendieben, die auf der Flucht vor der Polizei in den Reisebus einer Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen stolpern. Um nicht aufzufallen, gibt sich einer ebenfalls als gehandicapped, der andere als Betreuer aus. Der Ansatz könnte auf vielerlei Arten und Weisen über das Ziel hinausschießen, doch gelingt Regisseur Artus eine ebenso authentische wie herzliche Erzählung, selbst wenn sie nur selten ihr Potential erkennen lässt.

Die Warmherzigkeit liegt einerseits darin, dass die Geschichte die Figuren mit Beeinträchtigungen ernst nimmt, ohne dabei zu vergessen, sie auch Spaß haben zu lassen. Vor allem jedoch ist sie in dem Umstand begründet, dass das Drehbuch nicht davor zurückschreckt, mit politisch unkorrekten Klischees vor den Kopf zu stoßen, um diesen später den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Geschichte handelt von der bunten Reisegruppe des Wohnprojekts „Fliederbaum“, die unter der Leitung von den betreuenden Alice, Céline und Marc für mehrere Wochen in ein abgelegenes Ferienhaus aufbricht. In letzter Minute ist ein externer Bewohner, Sylvain, zu ihnen gestoßen, nebst Betreuer Orpi. Was Alice und die anderen nicht ahnen, Sylvain und Orpi sind Sohn und Vater. Sie heißen eigentlich Paulo und Lucien und haben sich nur deshalb in den Reisebus gesetzt, weil ihr Fluchtfahrzeug nach einem Juwelenraub abgeschleppt worden war. Passenderweise, da sie unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz gestanden haben. Während Lucien / Orpi eine alternative Fluchtmöglichkeit sucht, gibt sich Paulo / Sylvain als geistig beeinträchtigt aus. Aber nicht nur, dass ihm die Betreuerin Alice merklich gefällt, er muss auch erkennen, dass in den Bewohnerinnen und Bewohnern viel mehr steckt, als er anfangs vermutet.

Das nicht nur in dem Sinn, dass sie seine Scharade im Vergleich zur Gruppe der Betreuenden durchschauen und ihn fortan zu seiner Hilfe bei allen möglichen Dingen „überreden“. Sondern vor allem dahingehend, dass hinter diesen scheinbar „einfacher“ gestrickten Menschen gleichermaßen komplexe Persönlichkeiten schlummern, die dasselbe suchen, wie alle übrigen Menschen auch. Sei es, dass Arnaud in Marie verliebt ist, aber nicht weiß, wie er es ihr sagen oder was er ihr zum Geburtstag schenken soll. Oder in der Beziehung, dass Marie der Verlust ihrer Mutter ebenso wenig losgelassen hat, wie die Zurückweisung durch ihren Vater. Es sind diese Momente, in denen Was ist schon normal? hinter die oftmals lächelnden Gesichter der Menschen dieses Wohnprojekts blickt und in denen Filmemacher Artus nicht nur ein bemerkenswertes Fingerspitzengefühl beweist, sondern den Laiendarstellerinnen und -darstellern eine berührende wie bewegende Bandbreite entlockt. Es ist schade, dass die restliche Erzählung dem kaum oder gar nicht gerecht wird.

Die Kriminalstory um die geflohenen Räuber, die fürchten, entdeckt zu werden, spielt die meiste Zeit über gar keine Rolle und endet schließlich in einer Begegnung, die von den ersten Minuten an absehbar ist. Alices Gewissenskonflikt, die vor der Wahl steht, ihrem Freund in die Vereinigten Staaten zu folgen, dafür aber eine Arbeit aufzugeben, die sie erfüllt, bleibt ebenso oberflächlich, wie die Unstimmigkeiten zwischen Vater und Sohn oder Marcs Schwärmerei für Alice. Dabei hätte es mehr als genügend Möglichkeiten gegeben, die Figuren an Konflikten wachsen zu lassen. Beispielsweise sucht die Gruppe seit 10 Jahren bereits das Ferienhaus auf, doch da der Betreiber die Preise anheben wird, wird dies das Budget sprengen. Wie sich die Einrichtung überhaupt finanziert, wie schwer es ist, Mittel zu erhalten, um Menschen mit Beeinträchtigungen zu inkludieren, wird gar nicht erwähnt. Dabei wäre dies ein bedeutend packenderes Dilemma, das auch Alice betrifft, während das Publikum ihre private Zwickmühle kaum einschätzen kann. Auch die Perspektivwechsel zum tatsächlichen Sylvain, der statt zum Ferienhaus auf einen Trip mit jungen Frauen in Feierlaune fährt und dabei aufblüht, führen nirgendwohin. Immerhin kann man dies so sehen, dass sobald Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht als ebensolche Gruppe herausgelöst, sondern vollumfassend in die Gesellschaft integriert werden, sie sich dann auch vollends entfalten können. Aufgesetzt und wenig zusammenhängend erscheinen die Szenen dennoch.

Doch das ändert nichts daran, dass Was ist schon normal? das Herz am rechten Fleck trägt und die Botschaft von Toleranz und Freundschaft ohne Vorbehalte oder Einschränkungen gleichzeitig ohne erhobenen Zeigefinger an das Publikum bringt. Dass sowohl Lucien als auch Paulo erkennen, was die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnprojekts ihnen zurückgeben können, führt doch nicht zu einer völligen Kehrtwende ihrer Persönlichkeit und selbst wenn das Ende ein wenig zu versöhnlich erscheinen mag, die Charaktere behalten sich Eigenschaften, die sie in die Geschichte mitbringen. Unbestritten, bietet die Idee das Potential, einen differenzierten Blick auf die gesamte Situation der Inklusion zu werfen, doch würde ihr das sicher auch die Leichtigkeit nebst Zugänglichkeit nehmen. So mag man sich an manchen Stellen wünschen, dass sich Regisseur Artus mehr Zeit für manche Aspekte nimmt. Dafür jedoch überlässt er seiner erfrischenden Besetzung das Steuer, die sichtlich Spaß daran hat – und das überträgt sich schneller auf einen selbst, als man sich eingestehen mag.


Fazit:
Der französische Originaltitel stellt nicht in Frage, was normal ist und was nicht. Er beschreibt die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohneinrichtung vielmehr als Menschen, die ein „gewisses Etwas mehr“ besitzen und vielleicht bringt genau diese Auffassung am besten zur Geltung, wie man als Außenstehender Menschen mit besonderen Bedürfnissen wahrnehmen sollte. Denn abgesehen von diesem gewissen Etwas unterscheiden sie sich nicht von allen anderen. Sie besitzen Ängste und Sorgen, lieben Humor, das Leben und den Spaß darin. Bringt Filmemacher Artus diese Aspekte zum Vorschein, besitzt seine Komödie nicht nur eine berührende, tolle Botschaft, sondern entwickelt eine Herzlichkeit, die einem von der ersten Minute an ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Einige Moment sind, wenn man mitunter auch einen etwas bösen Humor teilt, schlicht urkomisch, andere strecken eine bestimmte Art Humor etwas zu weit. Doch lebt Was ist schon normal? weniger hiervon, als von einer gleichermaßen authentischen wie sympathischen Besetzung, die Freude daran hat, diese unterschiedlichen und liebenswerten Charaktere zum Leben zu erwecken. Dem zuzusehen, ist einfach schön, wenn auch weniger tiefgehend, als man erhoffen würde.