Soul [2020]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 27. Dezember 2020
Genre: Animationsfilm / KomödieOriginaltitel: Soul
Laufzeit: 100 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung
Regie: Pete Docter, Kemp Powers
Musik: Jon Batiste, Trent Reznor, Atticus Ross
Stimmen: Jamie Foxx (Charles Rettinghaus), Tina Fey (Katrin Fröhlich), Questlove (Tobias Schmidt), Phylicia Rashad (Marianne Groß), Daveed Diggs (Kaze Uzumaki), Angela Bassett (Arianne Borbach), Donnell Rawlings (Björn Schalla), Graham Norton, Rachel House, Alice Braga, Wes Studi, June Squibb
Kurzinhalt:
An sich wollte Musiklehrer Joe Gardner (Jamie Foxx / Charles Rettinghaus) immer nur eines: Als Musiker auf der Bühne stehen und sein Publikum verzaubern. Dieser lang gehegte Traum scheint in greifbarer Nähe, als er bei der Band der berühmten Jazz-Musikerin Dorothea Williams (Angela Bassett / Arianne Borbach) einspringen soll. Gerade als Joe sein Ziel in greifbarer Nähe sieht, geschieht das Unvorstellbare: Er stirbt und seine Seele ist auf dem Weg ins Jenseits. Joe will dies nicht akzeptieren und landet im Davorseits, wo Seelen ihre Persönlichkeit erhalten, ehe sie auf die Welt kommen. Als Mentor für die seit langer Zeit unwillige Seele 22 (Tina Fey / Katrin Fröhlich), schmiedet Joe einen Plan, wie er zurück auf die Erde kommen kann, während 22 im Davorseits bleiben kann. Doch dies gestaltet sich schwieriger, als gedacht, und ihm bleibt kaum Zeit, ehe er mit Dorothea Williams auf der Bühne stehen soll, um endlich seinen Traum zu leben …
Kritik:
Es wäre eine zu starke Eingrenzung zu behaupten, das Animationsstudio Pixar würde traditionell eher Kinderfilme produzieren. Selbst wenn ihre Geschichten stets auch einem jungen Publikum einen Ankerpunkt boten, waren ihre Geschichten oft geprägt von sehr erwachsenen Themen. Sei es der Verlust der großen Liebe und dem Erkennen des eigenen Alters in Oben [2009] oder den Wirrungen und dem schieren Gefühlschaos, die insbesondere das Älterwerden begleiten, in Alles steht Kopf [2015]. Für beide Filme zeichnet Pete Docter verantwortlich, dessen neuester Animationsfilm Soul vermutlich am wenigsten für junge Zuseherinnen und Zuseher bereithält. Das heißt nicht, dass sie nicht unterhalten werden würden. Insbesondere im Mittelteil wird der Humor überaus physisch, so dass die jüngeren viel zu Lachen haben. Auch die bunten Bilder und die fantastischen Welten werden sie in ihren Bann ziehen – doch ob sie wirklich verstehen, was die Filmemacher hier erzählen, sei dahingestellt. Ob dieser Kritiker selbst alles, oder zumindest das meiste, verstanden hat, ebenso. Soul ist ein ungewöhnliches Animationsabenteuer, dessen erzählerische Struktur geradezu unvorhersehbar ist. Das ist für sich genommen kein Kritikpunkt, doch entsprechend schwer wird es der Film haben, seinen Platz in der beeindruckenden Filmografie des Studios zu finden. Nicht ganz unschuldig daran ist die direkte Veröffentlichung beim Streamingdienst Disney+, nachdem der ursprünglich für den Sommer gedachte Kinostart, wie so Vieles dieses Jahr, abgesagt werden musste.
Soul handelt von dem Musiklehrer Joe Gardner, der stets in die Fußstapfen seines Vaters treten und Musiker werden wollte. Als ihm die Schuldirektorin eröffnet, dass er endlich eine Vollzeitstelle erhält und fest angestellt wird, sollte ihm an sich ein Stein vom Herzen fallen. Doch für Joe, mitten in seiner Midlife-Crisis, bedeutet dies, dass er den ursprünglichen Lebenstraum für immer aufgeben müsste. Da erhält er eine Mitteilung seines ehemaligen Schülers, er könne als Pianist bei der Band der Jazz-Saxophonistin Dorothea Williams aushelfen. Nachdem er die Künstlerin bei einem Vorspiel beeindrucken konnte, wähnt sich Joe seiner Bestimmung endlich nahe – als ein Unglück geschieht und sich Joes Seele auf einem langen Band ins Jenseits wiederfindet.
Was klingt wie die Beschreibung eines ganzen Films, ist tatsächlich lediglich der Teaser. Es ist kein wirklicher Spoiler zu verraten, dass Joes Seele dem Jenseits entkommen kann und ins „Davorseits“ fällt. Dort erhalten die Seelen, ehe sie auf die Welt kommen, ihre Eigenschaften im sogenannten „Du Seminar“. Seelen können erst dann geboren werden, wenn sie auch über den „Funken“ verfügen, worunter Joe ihre Berufung, ihre Leidenschaft versteht. Da es Joes Seele nicht möglich ist, einfach zur Erde zurück zu kehren, erschleicht er sich die Position eines Mentors im Davorseits. Mentoren sollen unentschlossenen Seelen dazu verhelfen, ihren Funken zu finden, doch die Seele, die Joe zugeteilt wird, Seele 22, ist schon seit sehr langer Zeit im Davorseits und hat bereits viele Mentoren zur Verzweiflung gebracht. Da Joe unbedingt auf die Erde will, 22 jedoch keinesfalls, könnten sie einander helfen. Doch ihr ursprünglicher Plan geht schief und was geschieht, als sie beide auf die Erde fallen, sollte das Publikum besser für sich entdecken.
Es soll genügen zu sagen, dass Soul gleichermaßen in der realen Welt und im Davorseits spielt. Dass Joe und Seele 22 einander am Ende gewissermaßen gegenseitig helfen, wird niemanden überraschen. Vermutlich jedoch, in welcher Art und Weise das geschieht. Ihre gemeinsame und jeweils eigene Reise ist ebenso inspirierend wie ermutigend, traurig und witzig. Umso mehr, da Joe und 22 unterschiedlicher kaum sein könnten. Will der Musiker, der nur Stunden vor seinem erhofften Durchbruch auf der Bühne aus dem Leben gerissen wird, nichts sehnlicher, als dorthin zurückkehren, will 22 das Davorseits nicht verlassen und sieht keinen Sinn in einem Leben auf der Erde.
Soul ist eine Geschichte, die ohne einen wirklichen Antagonisten auskommt. Einen klassischen „Bösewicht“ gibt es hier nicht, am ehesten noch den Buchhalter Terry, der akribisch darauf achtet, dass alle Seelen im Jenseits ankommen, die die Erde verlassen haben, und der sich auf die Suche nach Joe macht, nachdem dieser abhanden gekommen ist. Dass Terry dem Icon des Dateimanagers „Finder“ in Apples Betriebssystem macOS stark ähnelt, mag Zufall sein, oder auch nicht.
Wie bei Pixar gewohnt, quellen die Bilder geradezu über vor Andeutungen und Verweisen auf die wirkliche Welt oder andere Pixar-Produktionen. Sei es der Pizza Planet-Lieferwagen aus Toy Story [1995], die U-Bahn, welche Die Monster AG [2001] referenziert, Anleihen an Alles steht Kopf oder Oben, usw.. Für ein aufmerksames Publikum ist dies ein Fest und teils derart geballt dargebracht, dass es schwerfällt, alle Anekdoten zuordnen zu können. Ebenso die teilweise bösen Seitenhiebe auf verlorene Seelen, die sich ihren Obsessionen hingegeben haben, oder wirkliche Persönlichkeiten, die daran verzweifelt sind, Seele 22 zu ihrem Funken zu verhelfen. Hier verbergen sich viele, viele Perlen, die jedoch einem älteren Publikum zu entdecken vorbehalten sind. Ähnlich sieht es mit dem Design der verschiedenen Welten aus, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die wirkliche Welt mit einem geradezu atemberaubenden Realismus, sei es bei den Stadtaufnahmen oder den atmosphärisch dichten Szenen in der Bar bei Joes Vorspielen. Dem entgegengesetzt das abstrakt gezeichnete Davorseits, das zwar malerisch bunt ist, fantasievoll und einfallsreich, aber ohne die Struktur und den Detailreichtum auskommt. Soul sieht fantastisch aus und klingt ebenso texturiert mit den sphärischen Klängen einerseits und dem jazzigen Soundtrack andererseits. Dass sich die Filmemacher um Pete Docter sowie seinen Co-Autor und Co-Regisseur Kemp Powers entschlossen, den Jazz liebenden Musiklehrer Joe Gardner als erste afroamerikanische Hauptfigur eines Pixar-Films vorzustellen, sollte in unserer vielfältigen Gesellschaft an sich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch das ist es nicht und nicht nur deshalb bemerkenswert: Vielmehr legen die Macher viel Wert darauf, Jazz als Lebensgefühl und Kunst gleichermaßen dem Publikum nahezubringen. Sie zeichnen auch nicht nur eine farbige Figur, sondern widmen sich ebenso Joes kulturellem Hintergrund und zeigen mit seinen Bekanntschaften und den Musikkünstlern, die er trifft, einen Teil der Vielfalt der afroamerikanischen Gesellschaft auf.
Auch in dieser Hinsicht ist Soul ein ebenso bemerkenswerter wie beeindruckender Film. Die einzigen beiden Kritikpunkte wird eine jede bzw. ein jeder für sich selbst anders bewerten. Da gibt es zum einen die letztliche Entscheidung der Geschichtenerzähler, wie Joes Reise endet. Es ist eine ermutigende Aussage, die die Macher hier treffen, doch hätte man dies auch mit einer womöglich dem Titel angemessenen, melancholischen Aussage tun können. Ein solch, vermutlich endgültiger, Abschluss wäre meines Erachtens mutiger und vielleicht sogar passender gewesen.
Der zweite Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass sich die Geschichte für ein junges Publikum kaum eignet. Was Joe beschäftigt, die existenziellen Fragen, die Seele 22 umtreiben und im Davorseits festhalten, dies sind Konzepte, mit denen Kinder nichts werden anfangen können. Für sie scheint allenfalls der Mittelteil wie gemacht, wenn sich die Erzählung wieder auf irdischen Boden begibt. Insbesondere an dem dann sehr körperlichen Humor werden sie ihre Freude haben, doch diese halbe Stunde in der Mitte erscheint rückblickend wie Teil eines anderen Films. Immerhin widmet sich die Geschichte dann der Entwicklung von 22, wohingegen Soul insgesamt eindeutig Joes Geschichte erzählt. Doch das bedeutet nicht, dass nicht die ganze Familie hier unterhalten werden kann.
Fazit:
Dass Soul nicht immer die Geschichte von Joe Gardner erzählen sollte, sondern ursprünglich Seele 22 im Mittelpunkt stand, ehe das Konzept des Films ergänzt und ausgeschmückt wurde, merkt man dem Animationsabenteuer stellenweise durchaus an. Das ist nicht grundsätzlich negativ, doch wäre es interessant zu wissen, wie Regisseur Pete Docter das Projekt ursprünglich vor Augen hatte. Technisch ist der inzwischen 23. Pixar-Film geradezu umwerfend. Wie spielerisch und leicht es den Machern gelingt, die fotorealistischen Eindrücke der wirklichen Welt mit einer ebenso fantasie- und wundervollen Welt des „Davor“ zu kombinieren, verschlägt einem den Atem. Mit viel Gefühl für die Figuren, teils bösen Kommentaren und herzerwärmendem Humor erzählt, ist es die Erkenntnis, was das Leben lebenswert macht, und dass auch ein Leben, in dem die größten Träume nicht erreicht werden, ebenso erfüllt sein kann, ein Thema, das beim älteren Publikum ins Herz trifft. Soul ist wunderschön, berührend und inspirierend zugleich. Ein Film, der sich philosophischer Fragen ebenso annimmt wie alltäglicher Ideen. Eine zauberhaft animierte Geschichte für die ganze Familie, selbst wenn die jüngsten deren Kern nicht werden erfassen können. Doch zeichnet auch dies das Leben mitunter aus – dass man nicht immer weiß, worum es geht, und man doch fasziniert daran teilnimmt. Klasse!