Proxima - Die Astronautin [2019]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Juni 2021
Genre: Drama

Originaltitel: Proxima
Laufzeit: 107 min.
Produktionsland: Frankreich / Deutschland
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 6 Jahren

Regie: Alice Winocour
Musik: Ryūichi Sakamoto
Besetzung: Eva Green, Zélie Boulant, Matt Dillon, Aleksey Fateev, Lars Eidinger, Sandra Hüller, Trond-Erik Vassal, Nancy Tate, Grégoire Colin, Igor Filippov, Svetlana Nekhoroshikh


Kurzinhalt:

Sarah Loreau (Eva Green) steht kurz davor, sich ihren größten Traum erfüllen zu können: Die Astronautin wurde ausgewählt, bei der „Proxima“-Mission teilzunehmen. Dafür wird sie ein ganzes Jahr auf der Internationalen Raumstation verbringen und muss einen ebenso fordernden wie ehrgeizigen Trainingsprozess überstehen. Sarahs achtjährige Tochter Stella (Zélie Boulant) wird die Zeit bei ihrem getrennt lebenden Vater Thomas (Lars Eidinger) verbringen, der beruflich ebenfalls stark eingespannt ist und keine sehr gute Beziehung zu seiner Tochter hat. Die von der Europäischen Weltraumorganisation gestellte Betreuerin Wendy (Sandra Hüller) ist außerdem eine neue Bezugsperson für Stella. Je weiter das Training voranschreitet und je länger Sarah von Stella getrennt ist, umso höher wird der Druck für Sarah, nicht nur in Anbetracht der Erwartungshaltung ihr gegenüber, sondern auch, weil Stella ihre Enttäuschung, zurückgelassen zu werden, offen kundtut. Zu allem Überfluss steht der amerikanische Astronaut der Mission, Mike Shannon (Matt Dillon), Sarahs Beteiligung ablehnend gegenüber …


Kritik:
Das Porträt, das Filmemacherin Alice Winocour in Proxima - Die Astronautin zeichnet, lenkt auf den ersten Blick den Fokus auf ein gängiges Geschlechterklischee: Im Kindesalter möchten alle Jungen Astronauten werden und alle Mädchen Ärztinnen. Hier steht eine Frau im Zentrum, deren größter Wunsch es seit jeher war, ins All zu reisen. Ihrem Ziel zum Greifen nah, hat sie jedoch nicht nur mit der schwierigsten Phase der Vorbereitung zu kämpfen, sondern auch mit allen Widrigkeiten, die mit dieser Möglichkeit einhergehen. Dem Beizuwohnen ist faszinierend und inspirierend, selbst wenn das Drama den vielleicht interessantesten Aspekt gar nicht beleuchtet und kaum diejenigen erreichen wird, die diese Geschichte am dringendsten erleben sollten.

Erzählt wird Proxima aus Sicht der französischen Astronautin Sarah Loreau, die die Zusage für eine bedeutende Mission der Europäischen Weltraumorganisation ESA bekommt. Es ist der letzte große Zwischenstopp vor der kommenden Mars-Mission. Ein Jahr wird sie auf der Internationalen Raumstation ISS verbringen. So sehr sich Sarah auch freuen mag, sie kann kaum abschätzen, was vor ihr liegt. Nicht nur, dass das kommende Training anspruchsvoller sein wird, als je zuvor, Sarahs achtjährige Tochter Stella, die sie im Grunde allein großzieht, wird die Zeit bei Stellas Vater verbringen, dem Astrophysiker Thomas. Ein ganzes Jahr durchgehend von der eigenen Familie getrennt zu sein, wäre in jedem Fall eine Belastung, doch ohne einen starken familiären Rückhalt sind die Zweifel sicherlich bedeutend größer.

Filmemacherin Winocour nimmt sich Zeit, ihre zentrale Figur vorzustellen, wobei Sarah selbst eher ruhig und zurückhaltend ist. Einen neuen Mann in ihrem Leben gibt es nicht und auch bei den weiteren Missionsvorbereitungen kommt sie der übrigen, männlichen Besatzung nur in beruflicher Hinsicht näher. Dabei lehnt der amerikanische Astronaut Mike Shannon ihre Beteiligung spürbar ab. Abgesehen von einem sexistischen Spruch bei der Bekanntgabe von Sarahs Beteiligung, schlägt er ihr vor, einen einfacheren Vorbereitungsplan zu beantragen und traut ihr offenbar nicht zu, dasselbe leisten zu können, wie ihre männlichen Kollegen. Wie hoch die Erwartungshaltung gegenüber Sarah ist, ist regelrecht greifbar. Sei es ihr eigener Anspruch, sich auf die Mission vorzubereiten, die Hoffnungen anderer Frauen, die sie noch vor dem Start auf eine Stufe mit Pionierinnen der Raumfahrt stellen, oder die Erwartungen ihrer Tochter, die ihre Mutter vermisst.

Stella ist dabei in mehrfacher Hinsicht Sarahs Anker. Sie spornt die Astronautin an, sich selbst und allen zu beweisen, dass sie es schaffen kann, der Titel gebenden Mission „Proxima“ anzugehören. Aber sie bindet sie gleichzeitig an die Erde, obwohl Sarah doch den Blick gen Himmel richtet. Bietet Proxima einen Einblick in den physisch wie psychisch unvorstellbar fordernden Trainingsprozess, kann man erahnen, wie belastbar Sarah und ihre Kollegen in jeder Situation sein müssen. Umso schwerer wiegt es, wenn Sarahs Fassung zunehmend brüchig wird. Erzählt die Achtjährige ihrer Mutter am Telefon, wie sehr sie sie vermisst, dass sie kaum Anschluss bei anderen Kindern findet und sich in der Schule mit ihrer Lese-Rechen-Rechtschreibschwäche schwertut, ist dies eine spezielle Belastung für Sarah und Stella gleichermaßen. Ebenso, dass sie viele Entwicklungsschritte bei ihrer Tochter verpasst, sei es die erste Schwärmerei, oder wie Stella Fahrradfahren lernt.

Die Situation der Hauptfigur in Proxima - Die Astronautin mag eine ganz besondere sein, doch die alltäglichen Herausforderungen für alle Alleinerziehenden, in überwiegender Zahl Frauen, ist zweifellos in jedem Berufsfeld vergleichbar. Das Drama spickt dieses Porträt mit vielen interessanten Fakten rund um den Alltag von Astronautinnen und Astronauten. Die Trainingseinrichtungen, die Details des Programms, das Sarah meistern muss, machen die Herausforderungen sichtbar und geben einen authentisch erscheinenden Einblick in diesen Prozess. Die emotionale Bandbreite, die die oftmals unterkühlt wahrgenommene Eva Green dabei zeigen darf, ist schlicht beeindruckend. Es ist eine ebenso vielschichtige wie facettenreiche Darbietung, bei der ihr sämtliche Aspekte und damit auch der Ausdruck von Sarahs Zerrissenheit in dieser Situation, gelingen.
Doch so eindrucksvoll die Geschichte und so handwerklich makellos die Inszenierung, dramaturgisch legt Regisseurin Winocour in ihrem dritten Spielfilm mehr Wert auf die Darstellung von Sarahs Vorbereitung, als einen packenden Spannungsbogen. Im Ergebnis scheint der Film stellenweise nicht wirklich auf ein Ziel zuzusteuern, so dass die emotionale Wucht vieler Momente so gedämpft erscheint wie Stellas Reaktionen. Das ist schade.


Fazit:
Zahlreiche Details, wie ob Stellas Lernschwierigkeiten daher rühren könnten, dass sich die enorme Anspannung in Sarahs Berufsleben auf ihre Tochter überträgt, werden nur angedeutet, aber nie ausgesprochen oder aufgelöst. Dafür wird die Zwickmühle, in der Sarah in Anbetracht der Chance steckt, auf die sie ihr Leben lang hingearbeitet hat, vollkommen greifbar. So wie auch Stellas Enttäuschung. Der Kosmonaut Anton erzählt Sarah in einem Moment, dass nicht die Vorbereitung oder die Mission der schwierige Teil seien, sondern die Rückkehr, wenn man erkennen muss, dass die Menschen auch ohne einen selbst weitergelebt haben. Diesen Aspekt greift das Drama auf, wenn sich Stella ohne Sarahs Gegenwart weiterentwickelt, doch diesen vielleicht noch interessanter klingenden Teil der Geschichte beleuchtet der Film bedauerlicherweise nicht. Dafür erzählt Proxima - Die Astronautin in ruhigen Szenen und eindrucksvoll stark gespielt, ein inspirierendes Porträt. Auf Grund der Art und Weise, wie es vorgetragen ist, eignet es sich aber vermutlich wenig für genau das junge Publikum, das diese Inspiration am dringendsten hören sollte: Dass eine Jede und ein Jeder nach den Sternen greifen sollte. Das ist nicht nur inhaltlich wichtig, sondern auch tadellos gefilmt. Nur auch spürbar weniger mitreißend, als man diese bedeutende Botschaft hätte vermitteln können.