Harry Brown [2009]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 21. Oktober 2010
Genre: Thriller / DramaOriginaltitel: Harry Brown
Laufzeit: 103 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2009
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren
Regie: Daniel Barber
Musik: Ruth Barrett, Martin Phipps
Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, Charlie Creed-Miles, David Bradley, Iain Glen, Sean Harris, Ben Drew, Jack O'Connell, Jamie Downey, Lee Oakes, Joseph Gilgun, Liam Cunningham, Marva Alexander, Forbes KB, Liz Daniels
Kurzinhalt:
Als Leonard Attwell (David Bradley) seinem jüngst verwitweten Freund Harry Brown (Michael Caine) ein langes Messer zeigt, das der Rentner mit sich trägt, um sich gegen die pöbelnden Jugendlichen zu wehren, winkt dieser noch ab. In der selben Nacht wird Leonard von gewaltbereiten Jugendlichen gedemütigt und ermordet. Nun ist Harry auf sich allein gestellt. Wenig später wird auch er von einem Drogensüchtigen bedroht und ersticht diesen in Notwehr – es war ein Reflex, den der ehemalige Marine Harry unbewusst ausübte.
Er verschwindet vom Tatort und fasst, als ihn die Polizistin D.I. Alice Frampton (Emily Mortimer) über den schleppenden Fortgang der Ermittlungen in Leonards Fall unterrichtet, einen folgenschweren Entschluss. Anstatt sich von den Gangs terrorisieren zu lassen, will er selbst herausfinden, wer Leonard getötet hat und diejenigen zur Strecke bringen. Je mehr er sich beschäftigt, umso länger wird seine Liste ...
Kritik:
Harry Brown betritt gefährliches Terrain, indem der Film sich einer Thematik annimmt, die angesichts der um sich greifenden, zufälligen Gewalt von Jugendlichen denjenigen ein Sprachrohr verleiht, die an der kollektiven Machtlosigkeit jener Situation gegenüber verzweifeln. Der Film schildert eine Welt, die insbesondere Großstädtern zum Teil bekannt vorkommen dürfte: die Gebiete, die Gangs und Drogendealer unter sich aufgeteilt haben, erinnern an Ghettos, die man als Unbeteiligter lieber meiden sollte, um mit heiler Haut davon zu kommen. Dass sich diese Ghettos in Gegenden gebildet haben, in denen zuvor aber schon Menschen lebten, erschwert diesen Umstand für diejenigen, die dort seit langem wohnhaft sind, ungemein. Aber während Regisseur Daniel Barber ein sehr authentisches Bild jener Stadtviertel zeichnet, stellt er die falschen Fragen. Denn statt zu erörtern, woher diese Ghettoisierung stammt, wie so viele Jugendliche in Banden geraten und Gewalt zum Zeitvertreib wird, der auf Video festgehalten sogar Teil der Prahlerei ist, widmet sich der Thriller einer Antwort, die keine ist. Nämlich dass ebenso skrupellose Vergeltung gegen die Urheber der Gewalt das einzig adäquate Mittel ist, sie zu bekämpfen. Man mag das kontrovers nennen, doch stellt selbst diese Aussage ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft dar. Eigentlich sollte dieses Verhalten ebenso indiskutabel sein, wie der Gewaltakt, der ihm voran ging.
Michael Caine verleiht der personifizierten Selbstjustiz ein vertrautes Antlitz und füllt seine Rolle mit einer Melancholie, die er wenig später in einen unvorstellbaren Zorn wandelt. Er ist ein Meister seines Fachs und erfüllt Harry Brown mit einem Leben, das man sich nur allzu gut vorstellen kann. Ehemaliger Marine, der für die Familie eine Militärkarriere geopfert hatte, und dem nach der Tochter vor vielen Jahren, nun auch die Ehefrau im Alter genommen wurde. Worauf sollte er hinarbeiten? Welches Ziel hat er noch vor Augen? Der gewaltsame Tod seines Freundes Leonard (David Bradley) vervollständigt seine Isolation, die Unfähigkeit der Polizei, die Täter dingfest zu machen, führt ihn zu seiner Berufung. Man bekommt beinahe das Gefühl, in Harry Brown habe seit so vielen Jahren ein Feuer gebrodelt, das nun ein Ventil bekommt, eine Möglichkeit, seine Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, vor allem sich selbst gegenüber. Was ihm dabei abhandenkommt, ist seine Menschlichkeit, wenn er hinterrücks Dealer erschießt, die ihm nie zuvor begegnet sind. Wenn er einen drogenabhängigen Jugendlichen, der ihm nichts mehr nützt, ins Kreuzfeuer laufen lässt. Wenn er um den Tod bittet, nachdem er sein selbst gestecktes Ziel erreicht hat.
Seine Ziele sind Menschen wie Noel Winters oder Marky, die sich im gewaltbereiten Drogenmilieu einen Namen machen, deren Väter ebenfalls dort Zugange waren, und deren Kinder vermutlich ebenfalls dort tätig sein würden. Harry Brown beschäftigt sich wenig mit den Hintergründen der Jugendlichen und wenn, bekommt man nichts Neues gesagt. Ob sie verdient haben, was auf sie zukommt? Das ist eine Frage, die jeder für sich entscheiden muss. Es wird ihnen nicht die Möglichkeit gegeben, aus ihren Verbrechen, ihren Untaten zu lernen oder zu bereuen – ebenso wenig wie Harry Brown. Er wird vielmehr für seine Taten belohnt, die zwar anders motiviert sind, aber letztlich doch dasselbe bedeuten.
Michael Caine gibt Harry Brown verletzlich und verlassen, aber gestaltet seine verständliche Wut gleichzeitig ansteckend. Ben Drew, Jack O'Connell und die übrigen Jungdarsteller sind gleichermaßen authentisch und dadurch beängstigend. Einzig Emily Mortimer und Charlie Creed-Miles bekommen wie die übrigen Polizisten die Rollen der unfähigen Cops zugeschrieben. Was Alice Frampton bewog, sich in jenes Viertel versetzen zu lassen, wird nie geklärt. Es scheint auch nicht passend, ebenso ihre mangelnde Fähigkeit, sich zu verteidigen oder Situationen zu erkennen. Man kann nur hoffen, dass es ein Klischee britischer Krimis darstellt, und nicht ein realistisches Berufsbild.
Harry Brown ist hervorragend inszeniert, Daniel Barber beschönigt die Gewalt nicht, geht aber selbst in den sehr harten Szenen rechtzeitig vom Geschehen weg, um die Brutalität nicht um ihrer selbst willen in den Mittelpunkt zu rücken. Er findet düstere Bilder für eine trostlose Situation und alltägliche Momente, um das Gewohnte zu unterstreichen. Der Film funktioniert besser, als einem Recht sein dürfte. Harry Brown interessiert den Zuseher und gewinnt ihn für seinen kompromisslosen Kreuzzug. Anders als Clint Eastwood in Gran Torino [2008] sucht Harry Brown Vergeltung mit denjenigen Mitteln, die er in seiner Vergangenheit an sich zurücklassen wollte. Dagegen wäre nichts einzuwenden, würde das Ende seine Bemühungen nicht auch noch belohnen.
Fazit:
Daniel Barbers Regieerstling ist ein emotional aufwühlendes Thrillerdrama, das trotz der sehr guten milieugetreuen Umsetzung und den erschreckend überzeugenden Charakteren Punktabzug bekommen müsste. Nicht, weil es ein schlechter Film ist, sondern weil es eine Lösung vorschlägt, die trotz allen Verständnisses der Opfer gegenüber angesichts unserer Gesellschaftsform untragbar ist. Harry Brown spricht Ängste an, die anhand der Schwere und Häufigkeit der derzeitigen Jugendstraftaten, sehr real sind.
Michael Caine spielt wie der übrige Cast sehr gut und lässt dabei auf gefährliche Art und Weise vergessen, wofür Harry Brown steht. Während die Herkunft und die Ursache jener Ghettos leider nicht interessiert, kann und darf der hier dargebrachte "Lösungsvorschlag" nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. Es würde uns wie Harry Brown unsere Menschlichkeit kosten.